Lehnen, Beate

Die Hornbrille

Ich hätte nie gedacht, dass mich ein Besuch in einem Laden für gebackene Waren auf eine harte Geduldprobe stellen würde. Doch er tat es. Und wie !

 

Durch das Fenster des kleinen Ladens sah es an einem ganz gewöhnlichen grauen und kalten Dienstag irgendwann, nach vierzehn Uhr, so aus, als hätten sämtliche Backwarenläden, also gefühlte dreihundertundzweiunddreißig, die diese Innenstadt säumen, wegen Backstreik oder Heiligabend geschlossen. Okay, Bäcker streiken nicht (oder doch?) und Heiligabend im Februar wäre schon ein wenig ungewöhnlich, obwohl hier alles … Nun ja, es gab noch einen dritten Grund, der sich durch die Leuchtreklame als Billigbackbude hätte outen können. Doch die war wenig auffällig und das Schaufenster sprach auch eine etwas andere Sprache, als man es von Billy Back und Co. mit ihren durch nicht identifizierbare Zusatzstoffe aufgeblähten Muffins oder ähnlichen „Leckereien“ gewohnt ist.

 

Als ich versuchte, die Tür aufzumachen, vermochte selbst ich mich nicht durch den fünfzehn Zentimeter schmalen Spalt zu zwängen, den mir die Kundenansammlung zur Verfügung stellte. Ich wiege fünfundvierzig Kilo! Nach zweimaligem, in normalem Tonfall hervorgebrachtem: „Entschuldigung“, endete der dritte Versuch in einem lautstarken: „Lassen Sie mich bitte mal rein!“ Nicht, dass der Laden so voll gewesen wäre, als hätte man die Tür, wie bei einem überfüllten Bus, erst gar nicht mehr aufbekommen. Nein, es war vielmehr der Unaufmerksamkeit der ignoranten Brötchenvertilger geschuldet, von denen jeder einzelne ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu haben schien und weit über das bereits Gekaufte hinaus durch einen sinnlosen Redeschwall mit den Bediensteten seine Persönlichkeit aufzupolieren versuchte.

 

Eine aufgebrezelte, preiswert rotgetönte Mitvierzigerin, umgeben von einer Parfumwolke, dessen Geruch so gar nicht in eine Bäckerei passen wollte und auch sonst für nix gut war, trat mit ihren mindestens zwölf Kilo übergewichtigem Hinterteil im Schlepptau stumm und gequält einen Schritt zur Seite in die kleine Lücke, die sich gerade links neben ihr auftat. Dabei neigte sich ihr unattraktives Haupt ein wenig und ihr abfälliger Blick blieb für wenige Sekunden an meiner Person hängen.

 

„Hässliche fette Kröte“, dachte ich, während ich nun endlich das Ladeninnere erreicht hatte und einen nicht ganz freien Blick auf die „Auslegeware“ werfen konnte. Da die „getönte Kröte“ zur linken Ladentheke tendierte, von wo aus auch das meiste sinnlose Gerede kam, nachdem, wie gesagt, das erworbene Backgut längst verstaut war, stand vor mir nur noch eine weibliche Person. Die sollte es aber leider in sich haben. Mit fünf hellen Brötchen und zwei Hörnchen eröffnete sie ganz harmlos ihren Backwarenbeschaffungsmarathon. Währenddessen hatte ich zwischen ihrem linken und einem rechten Oberarm hindurch ein einzelnes und somit letztes Stück Streuselkuchen erspäht und mich im Geiste schon mal dafür entschieden. Ich liebe Streuselkuchen!!!

 

Besagte Dame halb rechts von mir ließ nun den Blick durch ihre Hornbrille, Modell Krankenkasse aus den Achtzigern, die oberen drei Regale entlang schweifen. Von der Seite sahen die Gläser, durch die sie alles etwas zu eindringlich taxierte aus wie zwei Lupen, hinter denen die blass blauen Augen die Größe von Kuchentellern zu haben schienen. So etwas hatte ich noch nie gesehen! Ihr schmallippiger Mund verzog sich zu einem Lächeln, was ich sonst nur bei Eurythmielehrern im Endstadium vermuten würde. Das schulterlange, pflegebedürftige dünne Haar ließ eine Eigenfarbe von „Unbedeutend Blond“ erkennen und verströmte einen leichten Talggeruch. Es bestand kein Zweifel: Dieser „Restposten“ lief jetzt erst richtig warm.

 

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten, denn hinter den beiden Ladentheken befanden sich nur vier helfende Hände. Die einen versuchten dem „Gesprächskreis“ zur Linken gerecht zu werden und wem die anderen nun den scheinbar restlichen Nachmittag als Opfer im wahrsten Sinne gegenüberstehen mussten, erwähnte ich bereits. Auf die Frage, ob es sonst noch etwas sein dürfe, nickte Miss Rheinland und ihre ausdruckslosen Augen blieben an einem Graugemisch aus Schrot und Korn hängen, dessen Bestandteile sie bis zum Herkunftsfeld erfragte, um dann, als die Verkäuferin das bis ins Detail erklärte Essmaterial gerade in eine Tüte stecken wollte, festzustellen, dass der Teig dann wohl doch zu mächtig und schwer für ihren Reizmagen sei. Auch nach weiteren Konsistenz- und Säuregehalterklärungen plus sanften Überredungsversuchen für den ein oder anderen Brotlaib, sah der Gesichtsausdruck der Verkäuferin noch überraschend entspannt und ihr Lächeln beängstigend echt aus.

 

Als am Ende zwölf Brotsorten mit der Geduld eines Engels erklärt und in ihre symbolischen Einzelteile zerlegt worden waren, schien die „Unbedeutend Blonde“ eine Erinnerung heimzusuchen und sie gab den kurzen und knappen Hinweis, dass sie erst vor fünf Tagen eines gekauft habe und es sowieso ein wenig härter liebe.

 

Zum ersten Mal trafen die Augen der Verkäuferin und meine aufeinander. Wenige Sekunden lang sahen wir uns an; ich runzelte die Stirn und der Mund meines Gegenübers verzog sich, als wollte er jeden Moment einen Lacher hervorbringen. Ich war sicher, wir dachten beide das Gleiche: „Die vertrocknete Butterblume sollte nicht ein wenig, sondern mal so richtig hart genommen werden.“ Doch welcher Kerl wäre bereit, sich für diesen Überwindungsbeischlaf zur Verfügung zu stellen? Würden zehntausend Euro Schmerzensgeld da ausreichen? Während ich mir im Geiste diese Frage stellte, hatte sie bereits mit großem Interesse ein neues Backwarenziel anvisiert: Kleine aber feine Buttercremetorten, wahlweise mit Krokant und Marzipanhaube, die in unmittelbarer Nähe zum Schaufenster in der linken Ecke standen.

 

Die Verkäuferin hatte Mühe, sich bis zu beiden Torten nach vorne ins Fenster zu beugen, da ihre Körpergröße und ihre kurzen Arme ein derartiges Manöver nicht ohne Zwischenfall zulassen konnten. Es kam wie es kommen musste! Der rechte Hemdsärmel ihrer weißgebleichten und zu gut gestärkten Pflichtbekleidung streifte schwungvoll fünf aufgereihte Joghurtcremetörtchen, die jeweils mit einer Himbeere belegt waren. Die süßen Früchtchen konnten dieser „Unterarmliebkosung“ nicht standhalten und zierten nun die Fensterscheibe. Alle fünf! Mit einem Gesichtsausdruck, der einer Verstopfung oder Geburt ähnelte, balancierte sie die angeforderte Buttercremetorte ohne weitere Katastrophen auf die Ladentheke. Dabei ignorierte sie die nicht mehr erkennbare „Fünferreihe“ ebenso wie ihren cremeverzierten Unterarm, versuchte den quälenden Gesichtsausdruck wieder in das Anfangslächeln vor gefühlten zwei Stunden zu verwandeln und betonte, dass diese hier besonders leicht und darum auch besonders bekömmlich sei.

 

Die „Hornbrille“ schien den Traum aus Creme nun überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, denn ihr trüber Blick blieb wie nach einem ordentlichen Drogenkonsum plötzlich an einem Stück Kuchen hängen und schien da nicht mehr weg zu wollen. Beinahe hätte man so etwas wie Speichelfluss wahrnehmen können, als sie vollkommen verzückt säuselte: „Ich nehme das letzte Stück Streuselkuchen. Das ist genau das, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe …“