Gabler, Erwin

Engelhaftes Aussehen

Was für ein engelhaftes Aussehen, auch so unschuldig und rein im Herzen. Nur die Flügel fehlen noch, so dachte ich bei mir, als meine schon trüben Augen dich zum ersten Mal in deinem samtweichen Bettchen besehen durften. Nein, kein Engel! Aber ein wunderbarer und vollkommener Mensch aus Fleisch und Blut.

 

Behutsam hob ich deinen kleinen Körper hoch und küsste dich auf deinen weichen Mund, sogleich mich ein noch nie gekanntes, wunderbares Gefühl überkam, das selbst ein Dichter in Worte zu beschreiben schwerlich könnte. Verzaubert von deinem kleinen Charme, drückte ich dich sogleich sanft an mich, daraufhin dein klarer Blick tief bis in mein Herz hinein drang, das deinem noch jungen Verstand zu verstehen gab – geliebt und behütet wirst du ewiglich sein. Solange meine eigene Lebenszeit es zulässt, dir das Paradies auf Erden ermöglichen. Wohin dein Weg dich im zunehmenden Alter auch führen mag, in Gedanken immerzu bei dir sein, bei Tag und auch bei Nacht. Allzeit deine Sorgen und deinen Kummer mit dir teilen. Und bist du einmal krank, so werde ich über deinem Bett wachen, bis du wieder ganz genesen bist.

 

Mein Enkelkind, es ist für mich jeden Morgen ein neues Erlebnis mit dir aufzuwachen und deine Ungeduld zu beobachten, wenn es darum geht, schnellstens aus deinem Bettchen herauszukommen. Und du deswegen deine zierlichen Arme weit ausgestreckt hoch hältst, in der Hoffnung, dass dich jemand herausnimmt. Auch deine ersten Gehversuche zu beobachten. Unbeschreiblich mitanzusehen deine Bemühungen, wie du versuchst alles zu bekommen, was höher liegt, als deine Größe es dir erlaubt. Und welche Freude es dir bereitet, wenn du damit jedes Mal aufs Neue deine Eltern oder die Großeltern, die stets besorgt um dich herum sind, in Schwung hältst. Wie du mit einer liebevollen Gestik, manchmal aber auch durch einen schrillen Schrei, versuchst dich verständlich zu machen, wenn ein Wunsch in deinem kleinen Herzen liegt. Dadurch du meist alles bekommst, was du gerne in deine zierlichen Hände bekommen möchtest. Dein Sträuben in der Badewanne, wenn es darum geht nach dem Essen die Spuren zu beseitigen, die an einigen deiner Körperteile haften. Oder wenn es für dich an der Zeit ist schlafen zu gehen und du dich deswegen am liebsten in irgendeiner Ecke verstecken würdest, weil das Schlafengehen dich am meisten nervt. Aber auch neue Lebensfreude erfüllt mich in meinem schon weit fortgeschrittenen Alter, wenn ich deinen ersten und noch unverständlichen Worte lausche. Worte, die du mühevoll versuchst herauszubringen. Die für mich persönlich klingen, so wie der Klang einer klaren Glocke.

 

In deinem noch kurzem Leben gibt es so viele Dinge, die du zu erforschen hast. Vieles, das du nicht verstehst. Was dir unbekannt erscheint. Doch glaube mir, deine Eltern und auch Großeltern werden dich alles lehren, was du für die Zukunft brauchst. Liegst du dann in deinem Bettchen, müde, doch so neugierig darauf, was der nächste Tag wohl Überraschendes für dich bringen mag, wache ich davor, bis du eingeschlafen bist. Schlafe wohlbehalten, du – ach so engelhaftes Wesen, und wenn du erwachst, ist die ganze Familie für dich und deine neuen Abenteuer wieder bereit.

 

Oh himmlischer Vater, wie glücklich hast du uns alle gemacht, mit der Geburt dieses wunderbaren Menschen, den du uns liebevoll anvertraust. Und der eine bedingungslose Liebe in sich trägt, die der Deinen gleicht. Bitte lege schützend deine Hände über dieses unschuldige Kind, damit es noch viele Jahre all die herrlichen Dinge, die du auf Erden erschaffen hast, gesund erleben und auch genießen kann.