Drechsel, Folkmar

Sandsturm

Noch wütete der Sandsturm und es schien, als gäbe es kein Entrinnen. Mira und Santal hatten mit ihrem Flugdrachen Schutz hinter einem Wall gefunden. So gut es ging bedeckten sie Augen und Nase. Der Sand raste nicht nur über sie hin, sie mussten sehr darauf achten nicht zugeschüttet zu werden.

Als sie ihre Reise begannen, sah alles sehr verheißungsvoll aus.

Der Drache flog gleichmäßig über grüne Wiesen und Wälder. Die Dörfer mit ihren Grashütten sahen von oben lustig aus. Auch die Städte der Menschen gaben so ein ganz anderes Bild. Riesen, Zwerge und Menschen sahen sie, die ihrer Arbeit nachgingen. Es war Erntezeit und das Wetter meinte es gut.

Sie kamen schnell voran und stellten bald fest, dass nicht mehr so viele Bäume und Wiesen zu sehen waren. Die Gegend, über der sie flogen wurde immer mehr von großen Sandflecken beherrscht. Und plötzlich verfinsterte sich der Himmel. Es ging alles sehr schnell. Zuerst dachten sie an ein Unwetter, doch es waren keine Gewitterwolken, die die Sonne verdeckten.

Sturm, der immer stärker wurde, hinderte den Drachen am gleichmäßigen Flug. Wolken hätten sie überfliegen können, doch auch als sie den Drachen höher lenkten, nahm der Sturm nicht ab. Plötzlich wussten sie was das alles bedeutete - mit dem Wind kam Sand geflogen. Es stach wie mit tausenden Nadeln. Jeder Versuch höher zu fliegen misslang. Der Sandsturm kam ihnen nicht nur entgegen, es war, als ob er sich mit ihnen nach oben bewegte. Also runter in die Sandwüste, in der Hoffnung etwas zu finden, was ihnen Schutz bot.

Nachdem sie gelandet waren, schleppten sie sich mühsam weiter. Kaum etwas sehend fanden sie den Wall, der die Wucht des Sturmes milderte.

Ihre Gedanken kreisten um die sagenumwobene Höhle, zu der sie vor Tagen aufgebrochen waren. Reden konnten sie nicht, aber sie kannten die Gedanken voneinander und hofften, dass es ihnen gelang das Ziel zu erreichen. Schon ihre Vorfahren erzählten sich von einer Wüste, in die noch nie ein Elf gelangt war, und von der Höhle, die mit Edelsteinen übersät sein soll. Je länger sie es sich erzählten, umso mehr tauchte die Meinung auf, es sei alles nur ein Märchen. Doch egal, wo Elfen zusammen waren … irgendeiner brachte das Gespräch auf die Höhle.

Vor drei Sommern besuchten Mira und Santal einen steinalten Zauberer. Sie hofften, dass er sie in seine Kunst einweihte. Doch er meinte, dass Elfen nicht zaubern sollen. Es wäre besser, sie nutzten ihre natürlichen Kräfte, um anderen zu helfen. Irgendwie schien er die beiden zu mögen, drum schenkte er ihnen eine uralte Pergamentrolle. „Öffnet die Rolle erst, wenn ihr wieder zu Hause seid und sprecht mit niemandem drüber, sonst bringt sie euch Unglück.“ Mit diesen Worten überreichte er ihnen die mit einem Lederriemen verschlossene Rolle und wünschte ihnen Glück.

Schweigend flogen oder liefen sie, je nachdem, ob sie Wiesen oder Wälder vor sich hatten, in ihr Land zurück. Daheim angekommen suchten sie sich einen einsamen Ort, an dem sie unbebachtet waren, um die Rolle zu öffnen. Vorsichtig lösten sie den Knoten des Riemens und rollten das Pergament auf. Sie glaubten ihren Augen nicht zu trauen, denn sie sahen eine Karte mit der Wegbeschreibung zur Höhle, von der alle erzählten. Neben der Karte war der Weg beschrieben. Da lasen sie auch, dass zwei Jahre lang ein junger Flugdrache gefüttert werden soll, damit sie sich mit ihm vertraut machen konnten. Nach den zwei Jahren, stand da, also im dritten Sommer, soll der, der die Karte besitzt, ohne jemand davon zu sagen, mit dem Drachen zur Höhle fliegen.

 

Irgendetwas hatte sich in der Wüste verändert. Ja, es rauschte nicht mehr, leise rieselte noch etwas Sand auf sie, doch der Sturm war verstummt. Vorsichtig richteten sie sich auf, auch der Drache bewegte sich. Sie wischten dem Drachen und sich den Sand aus den Gesichtern und stellten fest, dass sie Hunger hatten. Also stärkten sie sich. Danach versuchten sie auf den Hügel zu klettern, um Ausschau zu halten. Sie hatten nämlich den Eindruck, dass sie ihrem Ziel nahe wären. Tatsächlich sahen sie in greifbarer Nähe ein Gebilde, welches wie ein Felsen aussah. Die Form war der Zeichnung, die sie auf dem Pergament gesehen hatten, ähnlich. Sie buddelten ihre Sachen aus dem Sand und begannen mühsam durch die Wüste zu stapfen. Der Drache war zu erschöpft, als dass sie auf ihm hätten fliegen wollen. Über ihm herfliegen wollten sie auch nicht, das Ziel war ja nahe.

Am Felsen angekommen erkundeten sie ihn von allen Seiten.

Auf dem Plan stand, dass sich im Fels ein Loch befindet, in dieses sollte ein Stock gesteckt werden, damit sich die Höhle öffnet.

Sie fanden das Loch und hatten einen Stock dabei. Als sie ihn so weit hineinschoben, bis es nicht weiterging, knackte es und der Fels gab nach. Ein Spalt entstand, sie schlüpften hinein. Nachdem sie sahen, dass sich innen ein kleiner Griff befand, drückten sie den Stein zurück. Jetzt fiel ihnen erst ein, dass sie keine Lampe mit hatten. Doch die brauchten sie auch nicht. Eine für sie nicht sichtbare Öffnung brachte Licht in die Höhle. Ein Lichtstrahl traf auf eine Platte aus Bergkristall. Von ihr wurde das Licht in die Höhle reflektiert. Überall, wo sie hinschauten, glitzerte und funkelte es. Staunend standen sie vor den Schätzen der sagenumwobenen Höhle, die es nun nicht mehr nur in den Erzählungen ihres Volkes gab.

 

Geblendet von den Schätzen der Höhle standen sie eine Zeitlang schweigend da und ließen alles auf sich einwirken. Mira fand die Sprache zuerst wieder. „Was sollen wir jetzt tun? Wem gehören diese Schätze? Ob wir uns davon etwas mitnehmen dürfen?“

Santal wurde durch ihre Worte aufgeschreckt. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass sie die Höhle gefunden hatten. „Ich denke schon, dass wir das dürfen. Doch wie ich hörte, werden solche Höhlen von einem Geist bewacht. Wir sollten ihn fragen.“

„Ob der Geist mit uns redet?“

„Wir probieren es einfach. Lieber Höhlengeist, sage uns bitte, ob wir von den Schätzen etwas mitnehmen dürfen.“

Zuerst geschah nichts, dann rumpelte es und eine dumpfe Stimme ließ sich vernehmen: „Der Schatz gehört eurem Volk. Ihr beide seid auserwählt und durftet ihn finden. Eure Aufgabe ist es, das Geheimnis zu wahren. Wenn Not in eurem Volk herrscht oder es einen anderen wichtigen Grund gibt, dann könnt ihr herkommen und vom Schatz etwas holen. Bei allem gilt ein wichtiges Gebot: Ihr dürft nie mehr mitnehmen, als jeder von euch bequem tragen kann. Der Drache wird euch nicht tragen, wenn ihr dieses Gebot nicht befolgt. Und nun bedient euch.“

„Bedient euch!“, so schallte es durch die Höhle.

Die beiden Elfen schauten sich an. Dann wieder auf die Edelsteine, das Gold und Silber, was vor ihnen lag. Ihre Rucksäcke hatten sie mit hinein genommen. Ehrfurchtsvoll und jedes Stück genau betrachtend legten sie von allem etwas hinein. Sie hoben die Rucksäcke an und jeder meinte: „So kann es gehen, ich kann ihn bequem heben.“

„Danke, großer Höhlengeist. Wir begeben uns wieder zu unserem Volk“, sagte Santal. Mit Mira ging er auf den Ausgang zu.

„Haltet die Augen offen, damit ihr gut zurück kommt. Mir wurde gesagt, das Kampfdrachen unterwegs sind.“

„Danke für die Warnung.“

Santal zog an dem Griff, der Spalt öffnete sich und sie traten ins Freie.

Winrud, so hieß der Drache, hatte sich erholt und kam auf sie zugelaufen. Nachdem sie den Spalt verschlossen hatten, sagte der Elf: „Winrud, der Höhlengeist hat uns vor Kampfdrachen gewarnt. Wir müssen sehr vorsichtig auf dem Rückflug sein.“

„Dann schnallt die Rucksäcke auf meinen Rücken, damit ihr im Ernstfall ohne Last schneller fliegen könnt.“

„Aber“, warf Mira ein, „wir stärken uns noch, bevor wir losfliegen.“

„Das ist ein guter Gedanke“, antwortete Santal.

Bald darauf erhob sich Winrud mit den beiden in die Luft. Sie wollten die Wüste so schnell wie möglich hinter sich lassen. Ruhig glitt der Drache unter einem strahlend blauen Himmel dahin. Die Wüste unter ihnen sah gespenstisch aus.

„So fliegt es sich besser, als bei Sandsturm“, rief das Elfenmädchen. Santal blickte angestrengt nach vorn. Sie sollten sich ja vorsehen. Es ist immer gut, eine Gefahr zeitig genug zu erkennen.

„Wenn das nicht ein Kampfdrachen ist, der schwarze Punkt da über den Bäumen.“

„Jetzt sehe ich ihn auch“, brummte Winrud.

Sie waren noch über der Wüste, konnten aber ihr Land schon sehen. Hoffentlich lässt er uns in Ruhe, dachten sie.

Winrud ließ sich wieder vernehmen: „Passt auf! Wenn er uns angreift, dann springt ihr ab. Seht zu, dass ihr von mir weg und nach oben fliegt. Danach so schnell wie möglich auf unser Land zu. Kurz bevor er mich angreifen kann, gehe ich auf Sturzflug. So saust er über mich weg und bevor er gewendet hat, haben wir genügend Vorsprung. Wir müssen nur versuchen in unser Land zu kommen. Dort ist bestimmt jemand, der uns hilft, falls er uns doch verfolgt.“

Die beiden Elfen kamen gar nicht mehr dazu, etwas zu erwidern. Sie sprangen ab, gewannen schnell an Höhe und sahen, wie ihr Drache abtauchte.

Bis jetzt schien alles gut zu gehen. So schnell sie konnten, flogen sie auf ihr Land zu. Je näher sie kamen, umso mehr spürten sie die Aufregung, die unten herrschte. Winrud war schon gelandet. Menschen, Elfen und andere Waldwesen umringten ihn. Als die beiden Elfen festen Boden unter den Füßen hatten, hörten sie nur wie der Drache rief: „Schnell, holt Waffen, der Kampfdrache müsste gleich hier sein. Er verfolgte uns.“

Einige Männer hatten ihr Schwert, ohne das sie nie ihr Haus verließen, dabei. Zwei andere waren mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Sie legten Pfeile auf.

Der Drache kam brüllend und Feuer speiend auf die Erde gesaust. Es war so laut, dass sich die Waldwesen ihre Ohren zuhielten. Die Bogenschützen schossen zwei Pfeile ab. Einer traf, aber das führte nur dazu, dass der Drache noch wütender wurde. Die Männer hielten ihr Schwert fest in der Hand. Andere kamen mit Spießen angerannt. Der Kampf konnte beginnen.

Wütend schnappte der Drache mit seinen sieben Köpfen nach den Kämpfern. Einen ganz mutigen, der den Drachen von hinten überlisten wollte, fegte er mit dem Schwanz einfach weg.

„Schießt doch!“, rief einer.

„Wie sollen wir schießen? Da müsste ihr erst einmal zurückkommen.“

Fast wäre es zu einem heillosen Durcheinander gekommen. Doch dann kamen die Männer mit ihren Bogen zum Schuss. Sie trafen und das schwächte den Drachen, machte ihn aber noch wütender. Als der Drache abgelenkt war, gelang es einem der Männer ihm einen seiner Köpfe abzuschlagen. Danach zogen sie sich erst einmal zurück, um Kraft zu sammeln. Dem Drachen wollten sie die Möglichkeit geben zu verschwinden. Dieser dachte aber nicht daran. Er nahm seine ganze Wut zusammen und griff an. Jetzt waren die Männer besser gerüstet. Inzwischen waren noch mehr Bogenschützen gekommen. Sie überschütteten den Drachen mit einem Pfeilhagel. Und ehe er sich besonnen hatte, rannten andere mit dem Schwert auf ihn zu. Es gelang ihnen, bei diesem Angriff drei Köpfe rollen zu lassen. Einer von den Männern hatte einen Drachenhieb abbekommen. Bewusstlos lag er am Boden. Der Drache wich nach hinten aus. So konnten sie den Verwundeten in Sicherheit bringen.

Alle beobachteten angespannt den Drachen. Würde er sich verziehen? Noch war er unschlüssig. Doch dann lief er davon. Nicht ohne ein lautes Gebrüll auszustoßen und vorher aus seinen verbleibenden drei Köpfen Feuer zu speien.

„Das wäre ja noch einmal gut gegangen!“, rief Mira.

Santal ging zu Winrud, der sich etwas abseits von allen unter einen Baum gelegt hatte. Aus einem der Rucksäcke nahm er genügend Edelsteine. Die Männer standen beieinander und unterhielten sich. Der Elfenjunge ging auf sie zu und sprach sie an: „Habt Dank, ihr Männer des Menschenvolkes. Ihr wart zur rechten Zeit da und habt uns mit eurem mutigen Einsatz einen großen Dienst erwiesen. Als Dank, dass ihr euer Leben für unseren Drachen und uns eingesetzt habt, bekommt ihr jeder einen Edelstein.“

Die Männer bedankten sich und versicherten, dass sie jederzeit wieder helfen wollen, wenn Elfen in Not sind.