Meier, Evelyn

U-Bahn

Es ist mal wieder Montagmorgen. Lust: nein, aber was soll‘s, alle müssen, ob sie wollen oder nicht, aufstehen und in die Tretmühle. Nur die, die am Wochenende gearbeitet haben – ich hatte frei, worüber ich jedes Wochenende froh bin – haben heute frei. Dank an diese unermüdlichen Arbeitskräfte.

 

So, ich mache mich wie üblich leicht hektisch und teilweise planlos fertig. Katze nicht vergessen; diese streicht um meine Beine, als würde ich abends nicht wiederkommen, um sie zu füttern. Was sagte letztens eine Kollegin: „ … der 2. Name meiner Katze ist Unnütz.“ Kann ich nur bestätigen, aber das Kuscheln ist schööööön.

 

Ich trabe zur Bushaltestelle. Keiner wartet dort. Bin ich zu früh oder was? Nein, alles paletti, mein Bus kommt und ich zücke meine ProfiCard aus der Jackentasche. Klasse, dass das eingeführt wurde. Träume vor mich hin und steige an der Haltestelle „Straßburger Straße“ aus. Gehe zur U-Bahn, aber als ich die Treppen runter laufe, höre ich schon die Ansage: „Zurück bleiben, bitte!“ Hat sich eigentlich jemals jemand darüber Gedanken gemacht, was das bedeutet. Erst letztens ist mir deswegen ein ganzer Kronleuchter aufgegangen: ich dachte, es bezieht sich auf die U-Bahn, aber nein, es bezieht sich auf die Fahrgäste. Diese sollen zurück bleiben – soll heißen: weg von der U-Bahn! – und sich nicht in die schließende Tür rein quetschen! Es ist nicht die letzte Bahn vor dem Weltuntergang (ups, darf ich darüber reden? NEIN: Verbot von ganz oben!), es kommen noch welche danach, ob ihr es glaubt, oder auch nicht.

 

Ist genauso sinnlos, wie hinter einem Bus hinterherzurennen. Es kommen noch ganz viele – ok, ich gebe es zu, auch ich bin schon einmal dem Bus hinterhergelaufen, aber das habe ich dann auf der täglichen ToDo-Liste – Punkt für sportliche Tätigkeit – abgehakt.

 

Jetzt kann ich ganz entspannt die Treppen runter gehen; die nächste Bahn Richtung „Stephansplatz“ kommt schon in 2 Minuten. Gegenüber kommt die Bahn Richtung „Ohlstedt“ etwas früher und dort steigen ein paar Menschen (Mitfahrer, Passagiere, Fahrgäste; was sagt man eigentlich?) ein und aus, einige sehen etwas merkwürdig aus, aber man soll ja nicht lästern, vor der eigenen Tür kehren, DO NOT JUDGE etc. und schon wieder verschwindet die Bahn wie ein riesiger leuchtender Lindwurm in dem langen, langen und dunklen Tunnel. Hört sich richtig gruselig an, oder?

 

Also, das könnte ich nicht. Tagtäglich immer, ok: fast immer, unterirdisch rumfahren. Mal dem Fahrer über die Schulter gucken, ist gut und schön; aber selber freiwillig in die Dunkelheit … nicht mein Ding. Busfahrerin könnte ich mir schon eher vorstellen, dann sogar mit dem gaaaanz langen Bus (ach, da fällt mir was ganz Luschtiges ein: als der erste Gelenkbus in Hamburg rumfuhr, hat meine Tochter gesagt, das ist ein Mundharmonika-Bus, anstatt Ziehharmonika-Bus. Nicht witzig? Ok, lachen ist nicht Pflicht, aber vielleicht ist ein Schmunzeln drin? Nein? Auch gut. Dann erzähle ich auch die andere Bus-Geschichte nicht – so, das haben Sie/Du/Er/Sie/Es nun davon). Zurück zum langen Bus (ich finde den roten Faden nicht … ist wieder mal total ausgefranst!): das muss ein Gefühl sein, obwohl, mhm, mal überlegen; im Berufsverkehr und dann auch bestimmt nachts und erst im Winter. Nee nee, lassen wir das mal schön bleiben. Wie heißt es? Schuster bleib‘ bei deinen Leisten. Will sagen, ich sitze am Schreibtisch und schlage mich mit Formularen, Zahlen, Telefonaten und E-Mails rum.

 

Na gut, ich hab mich breitschlagen lassen und erzähle ihm/ihr/euch meine andere Bus-Geschichte. Irgendwie muss ich ja das Ganze in die Länge ziehen. Aber das hier habe ich wirklich in Echt und in Farbe und live im letzten Winter erlebt:

 

Stellt euch mal vor, es ist Winter draußen. So richtig grau und eklig nasskalt. Der Bus ist voll; viele müssen stehen, die Klamotten sind klamm und riechen auch dementsprechend. Da höre ich, wie ein Vater mit seiner Tochter den Abzählreim „Das ist der Daumen“ aufsagen. Kennt das eigentlich noch irgendjemand in unserem Computerzeitalter?

 

„Das ist der Daumen (brauch keine Erklärung), der schüttelt die Pflaumen (Zeigefinger), der liest sie auf (Mittelfinger) …“ hier verlassen dem Vater die Erinnerungen.

 

Ich springe helfend ein, obwohl ich keinen sehen kann (der Bus ist wirklich voll): „ … der trägt sie nach Hause (Ringfinger) …“

 

„und der kleine Finger isst sie ganz alleine auf.“ beendet der Vater.

 

„Wer war das?“, fragte das Mädchen und ich gucke um einen anderen Menschen herum.

 

„Hallo, ich war das.“ Das Mädchen wird ein bisschen verlegen und der Vater bedankt sich.

 

„Ich finde es ganz erstaunlich, dass so etwas noch gemacht wird.“ sage ich zum Vater. Bevor er antworten kann, zeigt das Mädchen mir seine Handschuhe: „Fühl mal, wie warm und kuschelig die sind.“

 

Ich fasse sie an und sage: „Du hast Recht, die sind schön warm. Willst du mal meine anfassen?“

 

Eine Hand kommt zögerlich näher, nachdem das Mädchen sich mit einem Blickkontakt beim Vater das ok geholt hat. „Ja, deine sind auch schön.“ und dann hat auch schon der Bus meine Haltestelle erreicht und ich kann noch schnell „Tschüss!“ sagen.

 

Roter Faden, roter Faden, hallo wo bist du? Wieder zurück zu der ursprünglichen Erzählung, Geschichte, Märchen, Roman oder was auch immer!

 

Ja, jetzt kommt meine U-Bahn. Ach, wieder so eine Olle – Entschuldigung, aber diese alten Züge sehe ich in letzter Zeit öfter. Warum eigentlich. Müsste mal ne Mail an den HVV schicken. Aber wenn ich dann mal zu Hause online bin, vergesse ich es wieder. Vielleicht werden die anderen Züge gewartet und/oder gereinigt – bestimmt! So, damit ist das Thema für mich abgehakt.

 

Der Nachteil: nichts mit „Fernsehen gucken“, aber es sind ja zum Glück nur zwei Haltestellen. Ich guck mal, was die anderen Menschen (oder Mitfahrer … siehe oben) so machen. Na das, was fast alle morgens machen: Zeitung lesen oder SMS schreiben oder Musik hören oder ein Buch lesen (in Papierform bitte; alles andere finde ich nicht stilvoll!) oder gucken, was die anderen Menschen (ich will mich nicht wiederholen) so machen.

 

Es kommt eine laute und durchdringende Durchsage für den nächsten Halt: „Nächste Haltestelle: „Wandsbek Markt“.“ Huch, jetzt bin ich richtig wach. Die Durchsage kam direkt von vorne, vom Fahrer (oder wie ist hier eigentlich die korrekte Anrede? Zugführer, U-Bahn-Fahrer, Lindwurmlenker; ist ein Scherz, bitte nicht aufregen!!!), das hört „frau“ sofort, weil die schon ein bisschen länger mit den „Öffentlichen“ unterwegs ist. Montagmorgen ist wohl auch nicht so seine Zeit, die vom Fahrer (oder wie auch immer er sich schimpft) der U-Bahn. Der Ton macht eigentlich die Musik, aber was hier aus dem Lautsprecher kommt, ist schon hardcore. Naja, leben und leben lassen ist meine Devise, Motto, Lebensweisheit oder was auch immer.

 

Wandsbek Markt: hier ist immer viel los. Rein und raus, mit Kaffee oder Brötchen oder mit beidem, je nachdem, was ihr wollt, oder auch nicht. Mit Kinderwagen oder ohne, manchmal auch mit Roller, schon mal ein „unerlaubter“ Radfahrer – auf jeden Fall muss es schnell gehen, den jetzt kommt wieder diese Ansage: „Zurück bleiben, bitte!“ Ich verstehe es jetzt – grins!

 

Bis ich beim nächsten Halt raus muss, dauert es ein bisschen und ich träume vor mich hin, bis ich von dem Quietschen der Räder auf den Gleisen wieder aufmerksamer in der U-Bahn stehe und gucke. Ja, ich stehe im Bus und in der Bahn, weil ich den ganzen lieben langen Tag auf meinen vier Buchstaben = Popo (Word Rechtschreibung kennt das Wort wieder nicht … ) am Schreibtisch sitze.

 

Komisch, warum dauert es heute so lange, bis wir zu meiner Haltstelle kommen und warum hört das Quietschen nicht auf und warum sieht es aus, als würde die U-Bahn eine ganz lange und große Kurve fahren? Merkwürdig das Ganze. Ah, jetzt sieht es so aus, als würden wir gleich in einen Bahnhof reinfahren. Beim Bremsen wird das Quietschen noch lauter und ich will mir schon die Ohren zuhalten, als wir endlich zum stehen kommen und es ist auf einmal Totenstille.

 

Ich gucke ganz verdattert, als sich die Tür von alleine öffnet und ich sehe an dem Schild, dass es wieder die Haltestelle „Wandsbek Markt“ ist … Was ist jetzt los? Der Bahnsteig ist leer, wo sind die Menschen? Keiner kommt die Treppe runter gerannt, keiner will raus, huch wo sind meine Mitfahrer? Ich bin ganz alleine in der Bahn und weiter und breit ist keiner zu sehen und auch keiner zu hören. Sonderbar … ich gucke vorsichtig aus der Tür. Kurz nach links, kurz nach rechts. Kein ein zu sehen. Bei dem Kiosk ist alles dunkel. Da ich immer ganz hinten einsteige, kann ich auch nicht sehen, ob weiter vorne sich Menschen oder sogar der Fahrer befinden. Was soll ich tun?

 

„Hallo?“, kommt es zaghaft aus meinem Mund. Ich erschrecke mich vor meiner eigenen Stimme, weil es so hallt.

 

„Ist da noch jemand?“, versuche ich es wieder. Nichts, das absolute NICHTS!

 

„Kann mich irgendjemand hören?“, kommt es schon lauter aus mir heraus.

 

Entweder werde ich jetzt wütend oder wahnsinnig. Ich kann mich noch nicht entscheiden.

 

Notfallknopf! Wo ist dieser Notfallknopf? Himmel, Herr Gott nochmal – wieso kann ihn nicht finden? Na klar, ist auch keiner da, ist ne olle U-Bahn; nur eine Notbremse, aber da die Bahn schon steht, nütz diese auch nichts mehr.

 

Ich gucke wieder nach links Richtung Treppe, Fahrtreppe (und nicht Rolltreppe) und zum Tunnel … von dort kommt so ein komisches Geräusch:

 

Klack, klack, klack …

 

Es kommt immer näher und hört sich an, als wenn einer mit langen Krallen auf den Gleisen läuft …

 

Klack, klack, klack …

 

Mein Magen rebelliert langsam, Schweiß bricht aus und mein Puls geht rasend; ich bin immer noch alleine …

 

KLACK, KLACK, KLACK …

 

Jetzt bricht langsam die Panik in mir aus und ich will weglaufen, aber meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Ich stehe wie versteinert in der U-Bahn und sehe in dem dunklen Tunnel einen Schatten auf mich zukommen und dann

 

NDR2: „Frühstück bei Stefanie: es ist wie es ist und das sind ihre Gäste …

 

Schreck lass nach, da fällt mir aber ein ganze Steinlawine vom Herzen: ich hatte einen Albtraum, zum Glück ging das Radio rechtzeitig an. Es ist immer noch Montagmorgen … ob ich wohl nachher noch in die U-Bahn steigen kann?