Link, Elke

Weihnachten im Schnee

 

 

Dicke weiße Flocken trieben Anne ins Gesicht.

 

Es schien Anne so, als seien diese Schneeflocken auf Kommando gekommen, wohl deshalb, weil heute Weihnachten war. Es war so unnatürlich, wie im Theater, wenn die Kulisse stimmen soll.

 

Sie hatte sich unter ihrem dicken Wintermantel noch ihre dicke Flauschjacke angezogen, aber auch dieser gelang es nicht, die innere Kälte, die sich in den letzten Tagen breit gemacht hatte, zu vertreiben. Diese Kälte umschloss ihr Herz wie ein fester Ring, der keine Bewegung duldete.

 

Ihr Herz, auf das sie sich bisher immer verlassen konnte, hatte sie im Stich gelassen. Oder war sie es selbst, die ihrem Herzen keine Chance gab?

 

Ihrem Herzen, das ihr doch schon immer den Weg wies. Den richtigen Weg?

 

Nun saß sie hier in der Kälte, auf einer alten Holzbank im Park, die auch sicherlich den Winter nicht mehr überstehen würde. Vorsichtig strich Anne mit ihren kalten Fingern über das morsche Holz, das sich wohl auch im Frost überhaupt nicht wohl fühlte und kaum noch atmete.

 

Wie zwei Verbündete, zusammengeschweißt, kauerten sie da – erschraken vielleicht ein wenig, weil die Welt um sie herum, keine Notiz von ihnen nahm.

 

Wer interessiert sich schon für eine alte Holzbank, die ihr Leben bereits hinter sich gebracht hat und wer kümmert sich um eine Frau, die man einfach sitzen gelassen hat? Einfach sitzengelassen…

 

Sitzengelassen mit einem dicken Bauch, in dem ein kleines Wesen heranwuchs.

 

Am Anfang hatte sie sich gefreut über die Bestätigung des Arztes, dass sie schwanger sei. Aber dann wurde sie sich der Verantwortung bewusst, die sie da bereits übernommen hatte. Eine Verantwortung der sie nicht gerecht werden konnte.

 

Wie konnte sie ein Kind groß ziehen – ohne Mann? Allein – ohne Beruf – ohne Wohnung – angewiesen auf ein Taschengeld ihrer Eltern?

 

Sie wollte – nein – musste sich entscheiden – ob sie „die Flügel strecken“ würde – dem Leben „Adieu“ sagen und für immer wieder im Nichts verschwinden oder ob sie so stark wäre, ihr eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen und einem neuen Leben eine Chance zu geben. Sie wusste es nicht – immer noch nicht – nicht mehr…

 

Es war einfach keine Liebe mehr in ihr.

 

Alle Liebe in ihr war gestorben. Man hatte sie mit Füßen getreten. Christian hatte wohl ihre schöne gemeinsame Zeit vergessen, alle schönen Stunden, die vielen Versprechen, ihre Gefühle… wo war er? Der Gedanke, dass er nicht bei „ihr“ war, war ihr bereits gleichgültig.

 

Sie dachte jetzt nur noch an sich selbst.

 

Für Gedanken an andere Menschen in ihrem Leben gab es keinen Platz mehr.

 

Alles kreiste nur noch um Ihre Entscheidung.

 

An die Kraft, die sie aufbringen müsste, an die Qual des Verlassenseins, an die Einsamkeit ihres toten Körpers, den man dann im Schnee auf dieser verkommenen Bank finden würde.

 

Würde jemand traurig sein über ihren Tod?

 

Ihr Herz war versteinert und jeder Atemzug, der neue Kraft in ihr Herz pumpte, tat weh.

 

Immer noch stoben die Flocken aufgeregt um Anne herum, als wollten sie sie wachrütteln.

 

Sie gaben einfach nicht auf…

 

Anne rieb sich den nassen Schnee aus den Augen.

 

Gleichzeitig merkte sie, dass ihre Augen nicht nur vom Schnee feucht wurden, sondern dass sie sich mit Tränen füllten. Tränen, die ihren Kopf erhitzten und ihren Körpers zwangen, sich dem Weinen hinzugeben.

 

Nach einer Weile des stummen Dasitzens bemerkte Anne, dass das Schneegestöber nachgelassen hatte. Ehrfürchtig hielt sich der Schnee zurück, als wenn er diesen Moment nicht zerstören wollte. Den Moment des Wunderbaren, Einzigartigen, Göttlichen…

 

…ganz zaghaft legte sich eine Hand auf ihren Bauch. Es war ihre eigene Hand, die spürte, wie sich ihr Kind zum ersten Mal bewegte. Es war ein ganz leises Antippen, eine Spur von Liebe…

 

Anne traute sich kaum zu atmen, weil sie den Moment nicht zerstören wollte. Nie wieder wollte sie auf diese Berührung verzichten, sie wollte sie festhalten und ein Leben lang genießen…

 

Als Anne sich von der Parkbank erhoben hatte und mit zufriedenem Lächeln in Richtung Stadt ging, begegnete ihr ein alter Mann, der sie spontan umfasste und ihr „Frohe Weihnachten“ ins Ohr flüsterte.