Link, Elke

Hertas größter Wunsch

 

Hertas größter Wunsch, einmal wieder – wie früher – Weihnachtsgeschenke kaufen zu können, sollte auch dieses Jahr nur ein Traum bleiben.

 

Geschenke aussuchen, Geschenke verpacken, Geschenke verteilen ...

 

Schenken – anderen eine Freude machen, in glückliche, dankbare Augen schauen …

 

Wie oft schon hatte Herta von einer großen Familie geträumt, von Kindern, Enkelkindern, die sie besuchten, die mit ihr Weihnachten feiern wollten.

 

Eine Holzeisenbahn, eine Puppe mit Schlafaugen, eine kleine Trommel, einen Schlitten, würde sie gerne den Kindern geben. Eine Menge Plätzchen wären zu backen, ein paar gute Flaschen Wein, eine Weihnachtsgans wären zu besorgen …

 

Es war ein trauriges Jahr, das vergangene.

 

„Du darfst mich doch nicht auf dieser buckeligen Welt alleine lassen“, flehte Herta ihren langjährigen Begleiter Gabriel Wundersam an, als dieser schon im Frühjahr, als endlich dieser lange strenge Winter vorüber war, und die Vögel wieder zu zwitschern begannen, nach einer kurzen schlimmen Lungenentzündung, ver-starb. Herta streichelte seinen leblosen Kopf wie einen Schatz, den sie zwar berühren, aber nicht beschädigen wollte. Er hatte damals, als er so still dalag, ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen und Herta fühlte plötzlich eine Trostlosigkeit, mit der sie nicht umgehen konnte. Seit Gabriels Tod gab es wenig, worüber sie sich freuen konnte. Die fröhlichen Zeiten, in denen sie sich an Gabriel anlehnen konnte, waren Vergangenheit. Sie vermisste die wunderbaren Gespräche mit ihm, sein Verständnis für all ihre Sorgen, seine weisen Ratschläge. Er war ein Leben lang ein guter Freund. Ihr bester Freund.

 

Und nun hatte sie keinen einzigen Menschen mehr auf dieser Welt. Kinder hatte sie keine und alle anderen Verwandten waren längst gestorben.

 

Einen Ehemann zu bekommen – diesen Wunsch hatte sie schon vor langen Jahren aufgegeben. Vielleicht war er ihr irgendwann einmal begegnet und sie hatte ihn nicht als den Richtigen erkannt.

 

In der Vorweihnachtszeit saß Herta oft am Fenster ihrer winzigen Ein-Zimmer-Wohnung und schaute nach draußen auf die verschneite Straße. Von hier aus beobachtete sie die vielen Leute, die hektisch ihre Autos auf dem großen Parkplatz parkten, um dann schnell in das gegenüberliegende Einkaufszentrum zu stürzen. Kinder quengelten, weil sie müde wurden, und selbst der große aufgeblasene Plastik-Weihnachts-mann interessierte sie schon lange nicht mehr.

 

Ganz links hinten wurden Weihnachtsbäume verkauft. 7,99 € das Stück.

 

7,99 € - was könnte sich Herta dafür alles kaufen.

 

Brot, ein paar Eier, mal wieder ein paar neue Perlon-Kniestrümpfe, die billigen für 5 Stück 1,49 €.

 

Nein – einen Weihnachtsbaum konnte sich Herta aus dem Kopf schlagen. Herta hatte ein paar Tannenzweige in eine Vase gestellt und ein paar Strohsterne daran gehängt. Eine dicke, rote Kerze stand auf dem alten Kerzenständer, den Herta Jahr für Jahr aus der Schublade hervorholte. Jedes Jahr zu Weihnachten brannte die alte Kerze etwas mehr ab.

 

Es war kalt heute, es zog ziemlich durch das undichte Fenster. Der Vermieter wollte kein Geld mehr in das Haus stecken und so blieb Herta nichts anderes übrig, als sich den dicken, schweren Schal, den sie sich vor einigen Jahren gestrickt hatte, umzuhängen.

 

Plötzlich und unerwartet legte sie die warme Wolldecke, die sie sich um die Beine geschlagen hatte, beiseite, erhob sich aus ihrem alten Sessel, nahm ihren Mantel vom Haken, zog ihn an, griff in die Tasche, um die Handschuhe herauszunehmen und hielt plötzlich eine Ein-Euro-Münze in der Hand.

 

Sie schaute den Euro an, als sei er etwas Besonderes.

 

Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht.

 

Schnell lief sie die Treppe hinunter, überquerte die Straße, zwängte sich mit den vielen Einkaufenden durch die sich ständig automatisch drehende Glastüre hinein ins Kaufhaus. Die Münze hielt sie immer noch fest in der Hand, als sei sie die Fahrkarte ins Schlaraffenland.

 

„Klick“ machte es, als der Euro in der Plastikvorrichtung des Einkaufswagens verschwand und ihn für Herta freigab. Herta schob nun „ihren Wagen“ vor sich her und betrat ihre Traumwelt.

 

Hier gab es Holzeisenbahnen in allen Größen, in verschiedenen Farben, gelackte und lasierte, moderne und auch altmodische, mit großen Rädern und mit kleinen. Herta konnte sich kaum entscheiden, welche sie sich in Weihnachtspapier einpacken ließ.

 

Hertas Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die vielen Puppen sah. Sie nahm jede einzelne in ihre Hand, bewegte ihre Arme und Beine, strich ihnen über die Haare, bewunderte die schönen Kleider und konnte sich nicht entscheiden, welche von zweien sie nehmen sollte, sodass sie beide in ihren Einkaufswagen packte.

 

Warme Pantoffeln könnte Gabriel gebrauchen. Wie oft hatte er sich solche gewünscht und immer wieder verzichten müssen.

 

„Welche Größe hatte er noch?“ Herta konnte sich nicht mehr erinnern. So stapelte sie von allen möglichen Größen ein Paar in ihren Einkaufskorb.

 

Ein kuscheliges rosa Nachthemd mit Spitzenrüschen. Davon hatte Herta jahrelang geträumt. Jetzt lag es vor ihr. Wie gut würde es ihr wohl stehen. Auch diesen Wunsch erfüllte sie sich.

 

Hertas Wunschzettel war schier unendlich. Ihr Wagen war schon so hoch vollgeladen, dass kaum noch etwas reinpasste. Einige Male purzelten kleinere Geschenke hinunter und Herta bemühte sich, jedes, aber auch wirklich jedes Teil aufzuheben und mitzunehmen.

 

Etwas neidisch blickten ein paar Leute ihr nach, einige lächelten, weil sie erkannten, wie sehr sich diese alte Frau freute Geschenke einkaufen zu können. Man sah es ihr an, dass sie lange nicht mehr so glücklich war.

 

Der Lautsprecher riss sie aus ihrem Traum. „Liebe Kunden! Unser Geschäft schließt in 5 Minuten. Wir bitten Sie, die Kassen aufzusuchen!“

 

„Herta, Du musst wach werden“, hörte sie Gabriel rufen.

 

Die alte Frau reckte ihren Kopf und blickte in die Richtung, in der sie Gabriel vermutete. Da sah sie ihn, wie er ihr zuwinkte. „Komm Herta, es ist Zeit, wir müssen nach Hause. Lass doch den Wagen dort stehen, Du hast ja jetzt alle Deine vielen Geschenke eingeladen – abholen werden wir ihn später mal.“

 

Und er nahm Herta bei der Hand, die lange nicht mehr so glücklich dreinblickte wie heute.