Dziegielewski von, Wolfgang

Weiber

Er wurde 1948 in einem kleinen Dorf im Südharz geboren.

Die Mutter hatte so sehr auf ein Mädchen gehofft, aber es wurde halt wieder ein strammer Bub. Inzwischen der Dritte.

Wald, Wiese, Feld und Bach, das waren die Spielplätze der drei Rabauken.

Wobei der Jüngste, der Alexander, der Wildeste war.

Das Leben nach dem Krieg war hart, der Vater ohne Arbeit. Es reichte hinten und vorne nicht, um die Familie satt zu bekommen.

Die drei Jungen nahmen das sechste Gebot nicht sehr ernst und hatten bei ihren Streifzügen durch Feld, Flur und Gärten des Öfteren Probleme mit dem Feldschütz.

Dann kamen sie der Reihe nach in die Schule.

Diese befand sich im nächst größeren Ort und war eine reine Jungenschule.

Bei der Einschulung hatte Alexander dieselbe Schultüte wie seine Brüder.

Unter den wenigen Süßigkeiten und Malstiften befand sich, wie auch bei ihnen, viel zerknülltes Zeitungspapier. .

In seiner Klasse waren 52 Buben aus dem Städtchen und den umliegenden Dörfern.

Sie saßen alle auf uralten Sechserbänken mit schrägem Tisch.

Ein über 70 Jahre alter Lehrer sorgte mit einem Rohrstock für Disziplin.

Einen anderen Lehrer gab es nicht, die meisten waren im Krieg gefallen oder verschollen. Die Ordnung war streng und klar.

In der 1. Klasse schrieb man mit Griffel auf eine Schiefertafel.

In der 2. Klasse mit Bleistift in ein Heft und in der dritten mit Federhalter und Tinte.

Die Mädchen waren im Nachbargebäude untergebracht.

Ein dicker Strich auf dem Hof markierte die Grenze.

Aber von Mädchen hielten die Drei, wie alle Buben in dem Alter, sowieso nichts.

Mädchen waren in ihren Augen „Heulsusen.“

Weder bei ihren Raufereien, Cowboy-, Indianer- oder Räuber- und Gendarmspielen waren Mädchen zu gebrauchen. Die „plärren“ doch sofort, wenn sie hinfallen würden und ihre Strümpfe ein Loch bekämen. „Also sollen die Mädchen doch daheim bei Muttern am Kochtopf bleiben, bei uns haben sie nichts verloren“, war die einstimmige Meinung der gesamten Straßenbande.

Auf dem weiten Weg zur Schule konnte man sie allerdings schön ärgern.

An den Zöpfen ziehen, vor ihnen in die Pfütze springen, Spinnen ins Haar setzen, mit Fröschen erschrecken oder ihr Röckchen lupfen, das waren Alexanders liebste Unarten. Über Mädchen kursierten auch die wildesten Gerüchte über Anatomie und Charakter. Wer eine „Zicke“ als Schwester hatte, wurde von allen tief bedauert und als „arme Sau“ eingestuft.

Dann zog die ganze Familie 1958 nach Wiesbaden, weil der Vater dort endlich eine Arbeit gefunden hatte. Die neue Wohnung befand sich im vierten Stock eines riesigen Hauses an einer vierspurigen Hauptstraße.

Dieser Lärm, die Autos und die vielen Leute waren für die Drei wie ein Schock.

Hier sahen sie in der Menschenmenge zum ersten Mal in ihrem Leben einen „echten Neger“. Ihre Oma hatte ihnen immer gedroht: „Wenn du nicht brav bist, sperren wir dich in den Keller zum Schwarzen Mann“!

... Und hier liefen sie bunt gemischt mit vielen Menschen aus aller Herren Länder wie selbstverständlich auf der Straße.

Da die schulischen Leistungen von Alex erstaunlicherweise recht gut waren, sollte er als einziger der Familie auf eine höhere Schule gehen.

Das Schuljahr hatte schon angefangen und seine Eltern begleiteten ihn zur Schule.

Sie wurden freundlich von einer Lehrerin begrüßt.

„Das glaube ich jetzt nicht“, dachte Alex. „So eine junge Frau. Darf die überhaupt unterrichten? So etwas hätte es bei uns im Harz nicht gegeben!“

Alexander wurde von der jungen Lehrerin zur Klasse begleitet.

„Donnerschwert, ach du Schreck“, er traute seinen Augen nicht.

Da saßen Jungen und Mädchen an Zweiertischen kunterbunt durcheinander!

„Weiber, eine Klasse gemischt mit Weibern“, wie ein Stromstoß durchzuckte es ihn und er fing sofort an zu schwitzen.

„Neben der Susanne ist Platz, da kannst du dich hinsetzen“, sagte die Lehrerin freundlich lächelnd und deutete auf einen freien Platz.

Alexander stand fast unter Schockstarre und wollte sich nicht setzen, er wollte lieber im Erdboden versinken. Seine so geordnete Welt fiel schlagartig zusammen.

Das Mädchen sprach ihn freundlich an und er bekam einen roten Kopf, dass er sich wie ein Leuchtturm fühlte.

Dem Unterricht konnte er kaum folgen und war froh, als die Pause kam.

Er war über das Verhalten der anderen Kinder auf dem gemeinsamen Hof erstaunt. Hier wurde nicht gerauft, es wurde kein Fußball gespielt.

Nein – die standen in Gruppen gemischt zusammen und unterhielten sich.

Zu allem Unheil gesellte sich die Susi zu ihm und stellte neugierige Fragen.

Er berichtete ihr bereitwillig über seine bisherige Schulzeit im Harz.

Sie schaute ihn mit ihren großen blauen Augen an und war so erstaunt, dass sie beide fast das Ende der Pause verpassten.

In den folgenden Tagen gingen sie immer gemeinsam in die Pause, lernten sich näher kennen und Alexander spürte etwas in seinem Inneren, was er nicht kannte, was er so noch nie gespürt hatte.

Er ging gerne in die Schule und war sehr glücklich, neben Susi sitzen zu dürfen.

Ihr lustiges Lachen, ihre strahlenden Augen und ihre nette Art gefielen ihm, obwohl sie ein „Weib“ war. Er mochte das Mädchen richtig gerne und erinnerte sich fast mit Scham, was er früher so alles mit den anderen Mädchen angestellt hatte.

Dann schrieb er seinen Freunden im Harz einen Brief.

 

Liebe Kameraden, hier ist es nicht schön. Nirgendwo kann man gescheit spielen.

Nur doofe Spielplätze, auf denen man leise sein muss.

Kein Wald, kein Bach, keine Wiesen, nur viele Autos und noch viel mehr Menschen.

Stellt Euch vor, ich habe einen richtigen Schwarzen gesehen und es stimmt nicht, dass sie böse sind. Wie gerne wäre ich im Harz geblieben.

Ich bin jetzt auf einem Gymnasium.

Ihr glaubt nicht, wie streng das hier in der Stadt zugeht.

Die Lehrer sind noch strenger als bei uns.

Die Weiber sind zum Glück auch in einem anderen Gebäude untergebracht.

Die sind hier mit ihren Klamotten noch affiger, aber ansonsten genau so doof wie die bei uns im Harz. Seid froh, dass ihr nicht hier wohnen müsst.

Alexander

 … und nachts träumte er davon, wie gerne er seine Susi einmal in den Arm nehmen und so richtig drücken würde.

Oder ihr vielleicht gar ein Küsschen auf die Wange geben ... ?