Dziegielewski von, Wolfgang

In seinen Gefühlen gefangen

Es war im Frühjahr 2009 und ich war mit meinem alten, als Wohnmobil selbst ausgebauten Transporter auf dem Weg nach Süden. Der Italienvirus war einmal wieder stärker als die Vernunft. Das Wetter war kalt und regnerisch, die Nächte noch um die 0 Grad. Der alte Sechszylinder Diesel quälte sich über die Alpen, aber wir, das hieß mein Hütehund Gypi und ich – wir hatten ja Zeit.

 

So wurde öfters eine Pause eingelegt, wir liefen eine Pipirunde und mittags legten wir uns beide gemütlich für ein Schläfchen hin. Er lag unter dem Hochbett in seiner Höhle und ich kraxelte an der alten schweren Enduro vorbei, die genau neben das Bett passte. Und so brauchten wir vier Tage bis zu unserem Ziel in den Abruzzen.

 

Montefino ist ein kleiner Ort, der wie ein Storchennest auf einen Felsbuckel gebaut wurde. Dort hatte ich das „Glockenstübchen“ für einen Monat gemietet, ein kleines Zweizimmer-Appartement, direkt gegenüber der Kirche.

 

Nach dem üblichen „Hallo“ in der Bar und dem Einkauf im kleinen Supermarkt, freute ich mich schon auf das gemütliche Abendbrot mit Schinken und Rotwein im warmen Zimmer.

 

Die Sonne ging unter, es wurde wieder sehr kalt und ich ging die Abschlussrunde mit Gypi.

 

Danach weigerte er sich vehement mit in die Wohnung zu kommen.

 

Ich musste fast Gewalt anwenden. In der kleinen Wohnung saß er nur vor der Tür und wollte unbedingt wieder heraus. Ich gab dann endlich genervt nach, nahm das Abendbrot mit und stellte mich auf eine weitere kalte Nacht im Bus ein.

 

In der Nacht bellte der Hund auf einmal und ich schreckte hoch.

 

War da Jemand am Auto? Ich hörte nichts. Der Hund beruhigte sich nicht und lief laut bellend umher.

 

Da – was war denn das? Um Himmels Willen, das Auto schaukelte und wackelte.

 

Der Hund verkroch sich wimmernd unter das Bett.

 

Die Erde bebte – aber wie. So etwas hatte ich noch nie erlebt.

 

Ich stand mitten im Ort auf dem Marktplatz und nun hörte ich erste Rufe: „Terremotto!“ (Erdbeben)

 

Die Kirchenglocken fingen zu läuten an, es war gen halb drei Uhr, mitten in der Nacht.

 

Da – der nächste Erdstoß, noch viel heftiger! Der ganze Bus schaukelte und es kam mir sehr lange vor. Mit einem riesigen Getöse krachten die Kirchenglocken herunter.

 

Dann gespenstische Stille. Ich zog mich in Windeseile warm an.

 

Im Ort war glücklicherweise nicht viel passiert, es gab keine großen Schäden und nur wenige Menschen waren leicht verletzt. Die Einwohner gingen aus Angst vor den Nachbeben nicht in ihre Wohnungen und saßen in Decken eingehüllt auf dem Marktplatz. Den ganzen Tag verfolgten wir die Nachrichten.

 

Das Epizentrum war etwa 50 Km entfernt, ganze Dörfer und die Kreisstadt L´Aquila sollten betroffen und zum Teil sehr zerstört sein. Ich machte mir Gedanken um meinen Freund Mario Zizzi, der in einem Dorf in dieser Richtung wohnte und fuhr am nächsten Tag mit meinem Hund auf der Enduro hin. Gypi war es gewohnt, hinter mir in einer Kiste angeschnallt mit Motorradbrille für Hunde zu sitzen.

 

Straßen und Brücken waren zum Teil gesperrt, deshalb musste ich öfters querfeldein fahren. An dem Ort angekommen sah ich von weitem, um Himmels Willen, der schöne alte Ort, da war ja fast kein Stein mehr auf dem anderen.

 

Vor dem Ortseingang standen Carabinieri und ich wurde angehalten.

 

Von ihnen erfuhr ich die traurige Nachricht, dass mein Freund Mario bereits im letzten Jahr vor Weihnachten an einem Herzinfarkt gestorben war.

 

Sie baten mich, mit meinem Hund nach Verschütteten zu suchen, weil bislang noch keinsterlei Hilfe von außen eingetroffen war.

 

Schnell holten wir den Hund aus der Kiste und eilten zu einem Haus, wo der alte Teil komplett eingestürzt war. Mehrere Männer trugen die Steine mit den bloßen Händen ab. Ein alter Mann saß in Decken gehüllt auf einem Stuhl davor und starrte verzweifelt auf die Trümmer. Sein Sohn kam zu mir und erzählte, dass seine Mutter und seine Tochter unter diesem eingestürztem Teil liegen würden.

 

Der alte Mann auf dem Stuhl schaute hoch.

 

Er hatte wohl an meiner Aussprache gehört, dass ich nicht von hier war.

 

„Bist du etwa ein Deutscher?“ fragte er – und das klang sehr unfreundlich und vorwurfsvoll. Dann spuckte er vor mir auf den Boden.

„Du darfst das meinem Vater nicht übel nehmen,“ meinte sein Sohn.

„Hier im Ort hatten die Deutschen am Ende des Krieges einen Partisanen vermutet und als Strafe wahllos Bewohner getötet, darunter auch Frauen und Kinder.

 

Dieses Ereignis hat seit Jahrzehnten sein Herz in einem Mantel von Hass und Verbitterung umhüllt und gefangen. Er kann das nicht vergessen.“

 

Mit einem Kleidungsstück als Geruchshilfe fand der Hund nach langer Zeit eine Spur und gab Laut. Er war völlig fertig, seine Pfoten durch Scherben zerschnitten.

 

Wir wühlten mit den bloßen Händen, die schon total blutig waren, bildeten eine Kette und gaben die Steine weiter. Nach Stunden erreichten wir einen Hohlraum aus dem ein leises Weinen zu hören war.

 

Mit tränenerstickter Stimme rief der Vater in die Spalte hinein: „Sarah, bist du da?“ Das Weinen wurde etwas lauter.

 

Es dauerte bis in die frühe Nacht, dann zogen wir, bis zum Umfallen erschöpft, das verletzte, aber lebende Kind aus den Trümmern. Die Oma fanden wir leider nur noch tot vor. Als wir uns vor dem Haus das Blut von den Händen wuschen, kam der Sohn auf mich zu. „Du hast das gefangene Herz meines Vaters befreit, er schämt sich so und möchte sich bei dir entschuldigen. Darf er das?“ Ich nickte nur.

Dann kam der alte Mann auf mich zu. Er ging zuerst zu meinem Hund, der völlig fertig neben mir auf dem Boden lag.

Er stellte ihm eine Schüssel mit Wasser hin, zog seinen Hut, verbeugte sich vor ihm und sagte: “ Ich danke dir Herr Hund.“

Dann kam er zu mir, umarmte mich, gab mir rechts und links einen Wangenkuss und sagte: „Bitte vergib mir – Deutscher.“