Reise in die Vergangenheit

Erika Baumann

Vergangenheit und doch so nah!

 

Endlich fanden wir einen gemeinsamen Termin, die Reise von Karlsruhe nach Polen zu planen. Wir, die Tochter Erika, die Enkelin Christine und der Schwiegersohn Peter beschlossen, vom 19.6. – 26. 6. die Reise in die Vergangenheit, auf den Spuren meiner Mutter, zu unternehmen.

 

Heiße Sommertage liegen hinter uns und der Himmel ist bedeckt mit dunklen Wolken. Eigentlich ein angenehmes Reisewetter. Christine kommt mit einem Ersatzauto und muss aus Versicherungsgründen die Reiseroute allein bewältigen. Wir fahren gegen 10 Uhr morgens von Karlsruhe aus los. Ab Hof fahren wir eine Weile durch heftige Gewitter. Gegen 19 Uhr kommen wir, in Chemnitz, unser erstes Übernachtungsquartier, an.

 

Am nächsten Morgen fahren wir weiter. Die Luft ist kühl und rein. Zweites Reiseziel ist Wohlau. Nach der Überfahrt an der polnischen Grenze beginnt bereits Niederschlesien. Die Gegend ist eben und leicht hügelig. Wir sehen vom Auto aus graue, verlassene und zerfallene Höfe und Häuser. Christine fährt hervorragend und geht kein Risiko auf den nicht so gut beschaffenen Straßen in Polen ein. Zumal uns auch die Fahrweise der Polen gelegentlich merkwürdig erscheint. Sie überholen für unsere Begriffe sehr gewagt und riskant.

 

In Wohlau kommen wir am Spätnachmittag an. Wir finden nicht gleich unser Hotel und müssen uns durchfragen. Jetzt sind wir konfrontiert mit der polnischen Sprache.

 

„Gleich um die Ecke“, antwortet eine junge freundliche Frau in deutscher Sprache. Ein kleines Bistro mit Eisdiele erwartet uns. Wir werden freundlich willkommen geheißen und fürstlich untergebracht. Wir gönnen uns keine Ruhepause und suchen ein Lokal. Wir haben Hunger. Im Speiselokal unter dem Rathaus bestellen wir ein typisch polnisches Essen. Wir entdecken neben dem Lokal eine riesige Buche mit einem Stammdurchmesser von ca. 1 m. Er muss mindestens 100 Jahre alt sein. Wir wünschen uns, dass er erzählen möge, was er gesehen und erlebt hat. In seinem Schatten erholen wir uns von der Fahrt und freuen uns auf das Essen und Trinken. Wir fühlen uns sofort wohl. Es ist ein ruhiger und dem Dorf angemessener Mittelpunkt, der sich harmonisch in die Umgebung einordnet. Bald erkunden wir den Ort selbst. Auch hier zwischen neuen Gebäuden immer wieder alte und verfallene Häuser. Alte Mauerreste, die man mit neuen Mauern verband. Kopfsteinpflaster verbindet die Straßen miteinander. Das Dorf selbst macht den Eindruck, als habe man an der Anordnung der Häuser und Straßen nichts verändert. Man hat neue Häuser in alte Häuserreihen integriert. Harmonisch und gemütlich mutete uns das Dorf an. Von Wohlau und ihren Einkäufen dort erzählte meine Mutter und ich versuche mir vorzustellen, wie sie über das gleiche Kopfsteinpflaster ging, wie wir heute, von Laden zu Laden eilte oder auf dem Markt das Wenige fand, was sie brauchte um das Nötigste für ihre Familie einzukaufen. Es geschah selten genug und meistens in der Vorweihnachtszeit.

 

Es ist noch heller Tag und Christine macht den Vorschlag, heute noch, jetzt gleich nach Riemberg zu fahren und den Hof der Eltern meiner Mutter zu suchen. Auch den einzigen Birnbaum in Hauffen, vom eingeheirateten Hof meiner Mutter, wollen wir finden. Es ist heute Sonnenwende und eine laue Sommernacht ist zu erwarten.

 

Also fahren wir los, gesättigt und in bester Laune. Ein eigenartiges Gefühl umschleicht mich, als wir nach Riemberg hineinfahren. Ein Straßendorf, wie wir gleich erkennen sollen. Links die Kirche, das rote Backsteingebäude daneben, war die ehemalige Schule. Wir lassen die ersten Eindrücke auf uns wirken. Keiner spricht ein Wort. Es ist ein Dorf aus einer stillgestandenen Zeit. Nichts hat sich hier verändert. Es ist so, wie es die Mutter erzählte. Jeder von uns hängt seinen eigenen Gedanken nach. Dann gehen wir planmäßig vor. Da wir nur ungefähr wissen, wo der Elternhof meiner Mutter steht, fahren wir zunächst bis zum Ende des Dorfes. Dort muss es irgendwo sein. Wir fahren ein paarmal, so gut es geht und die Wege es zulassen, um das Dorf herum.

 

Auf einmal ruft Christine: „Dort hinten, ein rotes Dach. Und dort, auf der anderen Seite, der sagenumwogene Zugwaggon, von dem schon meine Mutter erzählte und keiner weiß, woher er stammt und wie er dorthin kam. Jetzt sehen es Peter und ich auch. Das muss es sein. Aber wie hinkommen? Weit und breit kein Weg dorthin, nur ein zweispuriger Feldweg für landwirtschaftliche Fahrzeuge. Dieser Weg schien uns einmal breiter gewesen zu sein. Er ist zugewachsen und wir erkennen ihn nur, weil kurz zuvor ein Bauer mit dem Traktor auf seine Wiese fuhr. Wir wagen es, mit dem Auto die Spur entlangzufahren. Die Wildnis wird immer dichter und unübersichtlicher, bis das Auto nicht mehr zu bewegen ist. So nah am Ziel geben wir nicht auf, komme was wolle. Den letzten Rest des Weges müssen wir zu Fuß gehen. Gesagt, getan. Wir lassen das Auto stehen, welches im Gras fast verschwindet. Erfreut, gespannt und gleichzeitig aufgeregt, stehen wir ein paar wenige Meter weit entfernt vor dem ehemaligen Anwesen der Eltern meiner Mutter.

 

Hier hatte sie also ihre Kindheit verbracht. Von hier erzählte sie Geschichten von ihrem ach so strengen Vater. Hier wuchs sie mit ihren vier Geschwistern auf. Hier musste sie schon von klein auf arbeiten auf dem Feld und auf den Wiesen. Wenig Spielzeug hatten sie und von schicken Kleidern war nicht zu reden. Mit ihren drei Schwestern musste sie ein Paar Sonntagsschuhe teilen. Wenn im Dorf ein Fest war, durfte jede von ihnen am Abend eine Stunde hingehen, dann musste sie nach Hause kommen und jetzt durfte die andere Schwester eine Stunde zum Dorffest.

 

Ich kann mir jetzt sehr lebhaft vorstellen, wie recht sie hatte. Es ging nicht anders, als dass sie hier – vielleicht auf diesem Weg – barfuß nach Hause rannte, die Schuhe lieber in der Hand tragend, damit sie nicht schmutzig wurden und dann der anderen Schwester übergab.

 

Wir stapfen weiter durch die Wiese, ungeachtet der Tiere auf dem feuchten Boden, auf dem jahrzehntelang kein Mensch mehr gelaufen ist. Wir kommen immer näher. Mein Herz pocht immer stärker und auf einmal stehen wir vor dem kleinen Bauern-Wohnhaus. Es ist zerfallen, Türen und Fenster eingeschlagen. Dachziegel liegen haufenweise auf dem Boden und aus dem Dach ragt ein blühender Holunderbaum, als lebendiges Zeichen von Zerfall und Neuerwachen. Vorsichtig wagen wir uns in das Innere des Hauses. Quadratisch angeordnete Zimmer sind zu erkennen. In einem Raum kann man noch ein paar blassgelbe Kacheln eines Ofens erkennen. Der Boden ist übersät mit Schmutz und verfaultem Holz. In einem der Räume muss jemand vor Jahren wild genächtigt haben. Es ist noch eine Feuerstelle zu erkennen. Eine Stiege hinunter in einen Keller ist zu erkennen. Ab der Hälfte ist er mit Erde zugeschüttet. Christine wagt sich, eine noch erhaltene Steintreppe in den oberen Bereich hinauf zu steigen. Die Bilder sind die gleichen wie unten. Alles verwittert, verfault und verkommen. Dennoch scheint die Sonne über alles und verteilt so etwas wie einen goldenen Schimmer über all das Unsagbare, was wir sehen.

 

Neben all dem Verkommenen, taucht immer wieder das Bild meiner Mutter in mir auf. Ich kann sie mir so gut vorstellen, wie sie als Kind hier aufgewachsen ist. Dann entdecken wir, dass an dem Rahmen der Haustür ein verrosteter Schlüssel steckt. Bei näherem Betrachten fällt uns auf, dass die Tür eingeschlagen wurde, deshalb ist nur der zersplitterte Rahmen erkennbar.

 

Ein Gefühl umschleicht mich, welches ich nicht unglücklich und nicht traurig beschreiben kann. Es ist so wirklich, was habe ich denn sonst erwartet? Ich bin gerührt und eine innere Wärme beschleicht mich.

 

Die Sonne versinkt am Horizont und hüllt das alte verwitterte und sagenträchtige Haus in ein goldenes Licht, so, als muss es so sein und nicht anders.

 

Eine untergehende Sonne, die jeden Tag wieder kommt und eine untergegangene Zeit, die in der Erinnerung lebt, die nie wieder auftaucht. Oder doch? Vielleicht in verwandelter Form? Wie auch immer. Wir suchen ein paar intakte Ziegel die am Boden liegen, als Mitbringsel für Elke, unsere andere Tochter und Enkelin meiner Mutter. Ich pflücke Blumen, Gräser und Holunderblüten zum Trocknen und Pressen später Zuhause. Die Nebengebäude sind zugewachsen und nicht begehbar. Nur zerfallene Mauerreste sind zu erkennen.

 

Dann entdecke ich einen Nussbaum. Meine Mutter erzählte von einem Nussbaum. Nur, dieser muss ein Ableger sein. Er scheint jung und neu. Vor der Haustür sehen wir noch ein Loch in der Erde. Wir sind nicht sicher, ob der Boden brüchig ist und machen einen Bogen um ihn. Eine Weile noch verbringen wir wortlos vor dem Haus und jeder ist in seine eigene Gedankenwelt versunken.

 

Dann machen wir uns auf den Rückweg. Wieder durch mannshohe Nesseln und Schlingkraut, feuchte Wiesen, Kornblumen und Gräser aller Arten. Wir spüren die Mückenstiche kaum noch, es sind zu viele.

 

Der Blick von der Einsiedelei auf das Dorf Riemberg ist beeindruckend. In der Ferne noch immer der Bauer auf seiner Wiese, in der Luft ein motorisierter Drachenflieger. Eine wunderschöne Landschaft. Ein Dorf, als hat man es vergessen, so eigenwillig, rein und gefällig.

 

Auf dem Rückweg fallen uns die Masten auf, an denen noch alte Birnen hängen, die den Weg zum Hof beleuchtet hatten, einst, in einer anderen Welt.

 

Ein durch und durchdringender Kräutergeruch erfüllt die Luft in der untergehenden Abendsonne und am längsten Tag im Jahr. Wir kehren zum Auto zurück. Die Gegenwart und das Hier und Jetzt hat uns wieder. Das Gras am Boden des Autos schleifend, holprig und vorsichtig fahrend, befinden wir uns wieder auf der Straße. Wir fahren zurück nach Wohlau. Wir sind überwältigt von den Eindrücken des alten und verfallenen Hauses auf dem Elternhof meiner Mutter.

 

Morgen werden wir Hauffen und den Birnbaum meiner Mutter, ihres verstorbenen Mannes und ihrer beiden Kinder aus erster Ehe suchen.

 

Zuerst besuchen wir am nächsten Morgen den Bürgermeister, Herrn Jurek, in Riemberg. Ich will erfahren, woher der Name „Bendier“ stammt. Unsere Fragen kann er nicht beantworten, aber freundlich zugewandt lädt er uns in sein Gartenhaus ein. Seine Deutschkenntnisse erwarb er einst bei einem Arbeitsaufenthalt in Deutschland. Von den früheren Eigentümern der Höfe wusste er nichts zu berichten. Nur so viel, dass eine ältere Frau nach dem Weggang der Zwangsumsiedler (Name nicht bekannt), den Hof käuflich erwarb. Eines Tages zog sie weg – etwa vor 10 Jahren - und niemand weiß, wohin sie ging.

 

Herr Jurek, lädt uns ein, ein Kloster in der Nähe zu besuchen. Er kennt den Abt, der für uns am nächsten Tag eine Führung arrangieren will. Leider müssen wir das wirklich schöne Angebot zeitlich einschränken, da wir einen Termin in Oppeln haben. Wenigstens können wir zunächst nur einen Kurzbesuch annehmen. Wir sehen ein total neu renoviertes wunderschönes Kloster, welches wir leider nur von außen besichtigen können. Der freundliche Abt, Pater Josef, muss die Führung am nächsten Tag absagen. Er vergaß, dass an diesem Wochenende Exerzitien stattfinden. Eine Reise allein nur zu dem Kloster würde sich lohnen. (Der Name des Klosters ist mir leider nicht bekannt).

 

Den Nachmittag verbringen wir wieder in Riemberg. Zunächst suchen wir den Hof meiner Mutter in Hauffen. Hauffen gehört zu Riemberg und liegt nur etwa 1 km von Riemberg entfernt. Vom Hof ist nichts mehr zu sehen. Wir suchen nach dem Birnbaum, welcher vom Sohn meiner Mutter aus erster Ehe, beschrieben wurde. Wir finden einen umgefallenen Baumstamm. Der muss es gewesen sein und an dieser Stelle muss der Hof gestanden haben. Ein Gutschloss soll daneben gestanden haben und noch einige Bauernhöfe in einer Reihe, entlang der Straße.

 

Alle Höfe und das Schloss sind abgebrannt und es kamen viele Menschen zu Tode.

 

Ein eigentümliches Gefühl überkommt uns. Während wir von Mückenschwärmen umsegelt werden, graben Christine und ich in der Erde, um auf evtl. Mauerreste zu stoßen. Der Boden ist wellenartig und lässt erahnen, dass darunter Mauerreste vorhanden sind.

 

Es sind schließlich die unaufhaltsamen Mückenstiche, die uns vertreiben.

 

Wir besuchen anschließend den Friedhof in Riemberg. Auf einem Hügel wurde einst der Friedhof angelegt. Deutsche ehemalige Gräber sind total verwüstet und man kann die verwitterten Steine kreuz und quer und übereinander liegend als ehemalige Grabsteine erkennen. Leider keine Namen mehr lesen. Eine eigentümliche Ruhe liegt über dem Friedhof und wir gehen durch die Reihen der neu angelegten Gräber. Vor jedem Grab ist eine kleine Bank angebracht. Eine schöne Geste und wir sitzen eine lange Weile still vor den Gräbern.

 

In Wohlau wieder angekommen, fühlen wir uns von den Eindrücken in Riemberg bereichert und wie der Name „Wohlau“ auszudrücken versucht, fühlen wir uns geborgen in diesem Ort. Weil in dem Ort kein Gasthaus zur Verfügung steht, verbringen wir die halbe Nacht auf einer Bank in der Mitte des Städtchens und erzählen uns die Eindrücke dieses Tages. Jeder hält dabei eine Flasche Bier in der Hand.

 

Am nächsten Tag besuchen wir Breslau und verbringen zwei Tage dort.

 

Wir erleben nur einen winzigen Teil dieser wunderschönen Stadt während einer 1 1/2stündige Führung mit einer Touristenbahn. Dabei besuchen wir den Dom, Kreuzkirche, Jesuitenkirche, St. Magdalena, die Kunstzeile, ehem. Fleischstraße. Wir sehen viele Bettler mit Kindern vor den Kirchen sitzen. Eine Gruppe junger Leute kommt uns entgegen, "Free Hug" nennen sie sich. Wir lassen uns von ihnen umarmen und spüren, dass man leicht in Kontakt kommen könnte, wenn nicht die Sprachbarrieren wären.

 

Wir erleben einen sehr sinnigen und tiefen Eindruck von der Wiederherstellung der einst total zerstörten Stadt Breslau.

 

Es ist hier im Zentrum so, als wäre nie etwas geschehen.

 

Wir verlassen nach zwei Tagen Breslau bei starken Regen, Wind und Kälte in Richtung Dresden.