Dieter Wolters

Der Kommandant

 

„Eine Gewehrkugel ist wie eine verirrte Seele!“

 

spricht der Kommandant zu seinen Soldaten.

 

„Wenn eine verirrte Seele uns angreift,

 

müssen wir sie töten!

 

Sie wird ins Himmelreich eingehen.

 

Wir aber leben daselbst

 

und können unseren Nachfahren Heldentaten berichten.

 

Morgen früh wird der Feind uns angreifen.

 

Seid wachsam Männer

 

und feuert aus allen Rohren!

 

Je mehr Treffer wir landen,

 

umso mehr gute Taten vollbringen wir im Namen des Herrn.

 

Gegen jene verirrten Seelen,

 

die wir mit unseren Gewehrkugeln einzusammeln getrachten.

 

Bis dahin einen guten Schlaf!

 

Wir werden siegen!“

 

Die Soldaten der Truppe ziehen sich in ihre Schützengräben zurück. Feuchte Löcher, in denen sie vor dem Angriff des Feindes mehr schlecht als recht oder überhaupt nicht zur Ruhe kommen. Kaum jemand findet in den Schlaf und wenn doch, plagen ihn Alpträume. Etwa von einer Granate zerfetzt zu werden oder den Feind Auge in Auge sterben zu sehen. Grauenvoll!

 

Als wenn man dem Tod eigens die Hand schüttelt! Sein knöchernes Gerassel steckt in den Köpfen der Soldaten ebenso drin wie Gedanken um Liebe und Sehnsucht. Durchaus männliche Gedanken, schenkt der Krieg doch nicht jene Geborgenheit, die man von einer wirklichen Familie zurecht erwarten kann!

 

Die Männer haben sich allesamt in ihre Schützengräben zurückgezogen, sitzen geduckt oder kauern sich eng zusammen wie daselbst als kleines Kind im Schoß der Mutter. Jeder denkt an seine eigene Kindheit zurück, die fröhlichen, unbeschwerten Stunden, unbelastet vom Alltagsgeschäft und den zu genügenden Aufgaben eines Erwachsenen. Einzig geborgen und gut bewahrt. Was für eine Zeit!

 

Niemand will sie in jener Erinnerung missen, die ausreicht, um die Seele an das Herz zu ketten. Keine eiserne Gliederkette mit einer Stahlkugel daran, doch ein ehernes Band, das ums Innere geschnürt die weit ausschweifenden Gedanken zusammenhält und vor dem Zerreißen bewahrt. Manch einer sehnt für sich den Tod herbei und weiß nicht einmal, ob er lieber von seinen Gedanken zerfetzt oder durch eine Granate in Stücke gerissen werden möchte.

 

Erst gegen Ende der Nacht kehrt Ruhe in den Schützengräben ein. Gerade noch, bevor der Morgenhimmel sich rot färbt, und das Blut getöteter Soldaten den Grund und Boden tränkt.

 

Dann, mit einem Silberstreifen am Himmel eines neu beginnenden Tages, schlägt der Feind los. Mit dem zu erwartenden Angriff. Granatfeuer über die ganze Breitseite der Front. Vorrückende Panzer und in deren Schutz sich vorwärts bewegende Bodentruppen. Der Kommandant befiehlt das Gegenfeuer. Mit Flugunterstützung der wenigen, veralteten Maschinen. Bis zum letzten Mann oder Atemzug!

 

 

„Nur wer sich todesmutig verteidigt

 

oder die Bereitschaft zeigt,

 

für den Sieg seinen letzten Atemzug

 

von sich zu geben,

 

ist ein guter Held

 

im Namen des Herrn!“

 

 

Der Kommandant befiehlt darauf den Gegenangriff. Mit Luftunterstützung gelingt es, die vorrückenden Panzer zu stoppen. Die feindlichen Bodentruppen aber können nicht aufgehalten werden. Die Männer stürmen mit lautem Hurrageschrei aus ihren Schützengräben hervor, einerseits um den Feind zu erschrecken, andererseits um dem reiche Ernte einfahrenden Tod mutig zu begegnen.

 

Jeder möchte schließlich, wenn überhaupt, als Held sterben denn als Feigling. Wild um sich feuernd gewinnen die Männer Schritt für Schritt Raum und Zeit.

 

Der Kommandant kämpft in vorderster Reihe. Er will ein Vorbild für die Männer seiner Truppe darstellen, auch durch das zur Schau gestellte Maß seiner Todesverachtung. Unaufhörlich hämmerndes Geschützfeuer. Gewehrkugeln, die singend um Ohren und Kopf pfeifen. Ein ohrenbetäubender und den Vorhang der Sinne vernichtender Lärm.

 

Die ersten Männer fallen im Blutrausch tödlich getroffen zu Boden. Nachfolgende stolpern über ihre leblosen Körper hinweg.

 

 

„Vorwärts!“

 

 

heißt die Devise! Anders geht es nicht! Auch der Feind erleidet schwere Verluste.

 

Der Kommandant besitzt einen ganz besonders verlässlichen Schutzengel, der ihn im Kugelhagel begleitet, immer dicht in seiner Nähe. Er bleibt unverletzt. Ihm wird im nach und nach voranschreitenden Kampf bewusst, dass da viele Kindersoldaten auf ihn zu stürmen. Nicht einmal vierzehnjährige Kinder! Solche die ihr junges Leben noch vor sich haben und genießen wollen! Auch Mädchen sind darunter! Mit ihren einfachen Waffen, Gewehren älterer Bauart, vermögen sie umzugehen, aber nicht mit dem Wunsch, ihr junges Leben doch bitte friedlich zu leben!

 

Ein Kindersoldat nach dem anderen bricht vor den Augen des Kommandanten tot zusammen. Ein letztes Zucken mit gefalteten Händen und verklärten Augen. Dann ist es vorbei. Der Kommandant sieht mit eigenen Augen, wie die jungen Körper der Kindersoldaten leblos übereinander fallen. Gleich weggeworfenem Schlachtvieh. Und er? Er ist der Schlächter und Himmelfahrtsbote zugleich!

 

Dem kampferprobten und in der Menschenführung erfahrenen Kommandanten wird übel zumute. So etwas ist ihm bislang noch nicht untergekommen. Er hält im Feuern inne und schultert sein Gewehr. Ein von ihm in den Arm getroffener Kindersoldat wirft vor Schmerz laut aufschreiend seine Feuerwaffe weit von sich und fällt dem Kommandanten geradewegs vor den Oberkörper. Unfreiwillig breitet der seine Arme aus. Vaterinstinkt? Er weiß es nicht!

 

Blut fließt aus einer klaffenden Schusswunde über seine Uniform. Aber der von ihm getroffene Kindersoldat ist nicht tot! Welch ein Glück! Er lebt! Ganz eng und dicht kuschelt er sich an den wärmenden und beschützenden Körper des Kommandanten, legt den Kopf auf seine Schulter und greift mit den Armen um seinen Hals. Wange und Wange berühren einander. Wenn da nicht Krieg herrschte, wäre es ein durchaus familienträchtiges Bild. Der Kommandant spürt, wie Blut aus der klaffenden Wunde des Kindersoldaten seinen Nacken hinunterläuft.

 

Mit dem fremden Kind auf seinem Arm rennt der Kommandant aus der vordersten Reihe in Richtung Schützengräben zurück. Was kümmert es ihn noch, Vorbild für die Männer seiner Truppe zu sein? Die werden auch ohne ihn klarkommen! Schließlich ist noch niemand unnütz gestorben! Ob als Held oder nicht. Egal! Wie unwichtig ist das in diesem Augenblick!

 

Der Kindersoldat auf dem Arm des Kommandanten rührt sich nicht. Ist er eingeschlafen? Der Kommandant weiß es nicht. Er rennt nur und rennt. Während Gewehrkugeln singend um seinen Kopf pfeifen. Er rennt mitten durch heftigste Kampfhandlungen hindurch. Bis er schließlich den Schutz jener feuchten Löcher erreicht hat, die ihm nun als Zufluchtsort dienen.

 

Endlich vermag der Kommandant ein wenig ruhiger zu atmen. Von Ausruhen kann allerdings nicht die Rede sein! Er nimmt das Kind von seiner Schulter und versorgt erst einmal die klaffende Wunde an dessen Arm. Die Blutung kann gestoppt werden! Das Kind stöhnt laut und bewegt sich im peinigenden Schmerz.

 

„Papa! Mama!

 

Bin ich jetzt bei Euch?“

 

ruft es mit sanfter und kläglich versagender Stimme.

 

„Ja! Ich bin bei Dir!“

 

 

sagt der Kommandant und streicht dem Kindersoldaten liebevoll über den Kopf. Wieder sinkt das Kind in sich zusammen und sucht mit sich ringend die körperliche Nähe des Kommandanten.

 

Der Kommandant schaut sich das Kind genauer an. Kaum zwölf Jahre alt! Ein Mädchen! Kaum den Kindheitsschuhen entwachsen! Er drückt das Mädchen ganz eng und dicht an sich. Dann öffnet das Kind plötzlich doch seine Augen.

 

 

„Bist Du es, Papa?“

 

 

fragt es sich eng anschmiegend und am Hals des Kommandanten festklammernd.

 

 

„Pscht! Pscht! Bleib ganz ruhig, mein Kind!

 

Es wird alles wieder gut!!“

 

 

sagt der Kommandant mit sanftmütiger Stimme.

 

 

„Was hat man Euch nur erzählt,

 

dass Ihr als Kinder in den Krieg zieht?

 

Bleib ganz ruhig! Es wird alles wieder gut!“

 

 

 

„Ich habe keine Eltern mehr!“

 

 

antwortet dann leise jenes Kind, das dem Leben offenbar doch näher steht als dem Tod, dem es bereits als junger Mensch eigens die Hand geschüttelt hat.

 

 

„Beide Elternteile sind im Krieg getötet worden.

 

Von einer Granate getroffen.

 

Ich habe es selbst mit angesehen!

 

Man hat uns erzählt,

 

dass verirrte Seelen wie Gewehrkugeln sind.

 

Vor allem verirrte Kinderseelen!

 

Und: Wenn ich mit ihnen fliege,

 

mit diesen Gewehrkugeln,

 

sehe ich meine Eltern im Himmel bald wieder,

 

schneller als ich mir das vorzustellen vermag!

 

Bin ich jetzt im Himmel?“