Dieter Wolters

Das Versteck

 

Die Sichel des Mondes steht messerscharf vor dem rötlich getünchten Abendhimmel. Wolken ziehen wie Dunstschleier vorüber. Die Luft ist durch Feuchtigkeit gesättigt und durchsetzt mit den Fäden der Finsternis. Jene schattenlose Welt der Nacht, in der ein Sensemann bereits die Klinge wetzt, wartet in den Startlöchern. Das Flüstern des Windes beruhigt sich. Wie der Schlafmantel mit seinem Umhang eine erholungsbedürftige Natur zudeckt. Das Leben wartet darauf, neu geweckt zu werden.

 

Während die Finsternis der Nacht die Schlafgeister aus den Löchern hervorkitzelt, wacht die Sichel des Mondes über dem Grund und Boden der Natur. Der rötlich getünchte Abendhimmel ist einem schwarzen Vorhang gewichen. Nichts vermag den Schlafmantel der Nacht zu durchstechen. -

 

Katrin liegt im Bett und kann nicht einschlafen. Für sie ist die Sichel des Mondes wie ein lebendiges Wesen, mit dem sie sich unterhält und das zu ihr spricht. Katrin will die Schatten der Mondgeister auf der Sichel des Mondes entdecken. Gerade sind Dunstschleier am Mond vorbei gezogen. Katrin hat gesehen, wie die Sichel des Mondes ihren Mund geöffnet und ihr etwas zugerufen hat.

 

„Kannst Du das noch einmal sagen?“, bittet sie den Mond, und die Sichel des Mondes tut ihr den Gefallen.

„Aua, das hat wehgetan!“, ruft Katrin plötzlich verärgert.

„So laut musstest Du auch nicht sprechen!“

 

Katrin fasst sich an die Wange. Der Mond hat sich doch tatsächlich erdreistet, sie, das kleine brave Menschenkind, mit der Spitze der Sichel zu pieksen!

 

Für den Augenblick reicht es Katrin! Sie hat keinen Bock mehr auf die Wunder der Nacht vor ihren Augen. Und auf die Sichel des Mondes ist sie auch nicht länger gut zu sprechen. Katrin schließt den Vorhang vor ihrem Fenster und entscheidet sich dafür, doch noch einzuschlafen. Sorgfältig und ausgesucht legt sich das Mädchen auf die verletzte Wange. Endlich erreichen die Schlafgeister der Nacht auch sie.

 

Der Morgen graut, und ein neuer Tag erhebt sich aus der Versenkung. Katrin fühlt sich müde. Aber sie muss aufstehen, weil das der Morgen eines ganz normalen Schultages ist. Sie reckt und streckt sich noch einmal und beginnt mit der Morgentoilette. Katrin ist ein Kind, das noch selbstverständlich gern zur Schule geht. Heute freut sie sich auf die Handarbeitsstunde. Sie kann die Zeit bis dahin kaum geduldig abwarten.

 

Endlich ist es soweit. Katrin sitzt auf der Schulbank, und die Handarbeitsstunde beginnt. Der Lehrer zeigt den Kindern, wie man mit Nadel und Faden Knöpfe annäht. Katrin hat mit ihren kleinen Fingern erhebliche Mühe beim Einfädeln des dünnen Fadens in die Nadel. Doch es macht Spaß, und Katrin bemüht sich redlich. Schließlich hat sie auch an den Puppenkleidern zuhause die Knöpfe angenäht.

 

„Aua, das hat wehgetan!“, ruft Katrin plötzlich, als die Spitze der Nähnadel in ihren Zeigefinger abrutscht. Sie saugt mit dem Mund einen Tropfen Blut aus dem Finger.

„Musstest Du mich schon wieder pieksen!“, ruft das kleine Menschenkind aus dem Klassenzimmerfenster. Aber die Sichel des Mondes zeigt sich zu dieser Stunde nicht.

„Musstest Du mich schon wieder pieksen?“, ruft sie noch einmal.

 

Diesmal aber lächelt sie dem Himmel entgegen und droht mit dem verletzten Zeigefinger: „Komm heraus aus Deinem Versteck! Heute Abend finde ich Dich ja sowieso!“