Weber, Gabriele

Die Schmerzen des Lebkkuchenmannes

 

„Uh, das halte ich nicht aus“, stöhnte der Lebkuchen-Mann auf dem Backblech. Die Finger des neuen Lehrlings Felix stachen so vehement in seinen weichen Bauch und drückten die Rosinen hinein, gerade wie die dicksten Dübel für ein Wohnzimmerregal.

Ihm war schlecht und er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Alles war verkehrt, denn draußen hatte es 26 Grad und das im September. Die Wärme des großen Backofens nachher, mit all seinen teiggeformten Freunden um ihn herum, war der einzig tröstliche Gedanke. Denn dies war die seligmachende, richtige Wärme für ihn. Der nächste Schmerz blieb nicht aus, genau wie eine OP ohne Narkose. Er durfte sich nicht übergeben, denn das hieße aussortiert zu werden, rein in den Abfallkübel. Wer kübelt, in den Kübel.

Nach der Backzeremonie kam ja der leckere Zuckerguss mit dem feinen Pinsel, der ihn hauchfein berührte und zart kitzelte. Das war wunderbar und hoffentlich hatte Antonia aus Portugal heute diesen Job, sie machte es mit besonderer Sorgfalt und er hätte stundenlang so liegen können.

Bis dahin würden 30-40 Minuten vergehen. „Oh Mann“, japste er atemlos, „was haben wir da für einen Grobian?“

Das Gesicht war schon fertig und er rollte die Augen ein wenig nach links. Sah er recht, da zwinkerte ihm ein schlankes Lebkuchen-Mädchen zu. Seine Arme waren weit ausgestreckt, er hätte sie fast berühren können, leider nur fast.

„Psst psst“, meinte sie. „Du bist ja noch viel blasser als der ungebackene Hefeteig, ist dir nicht wohl?“

Wilfried, in seiner Übelkeit, konnte nicht reden, er schnaufte tief und schaute mit den dunklen Rosinenaugen lange zu ihr hinüber und dachte: Sie hat mir angesehen, dass es mir nicht gut geht, wie erfreulich heutzutage, da wird es mir ganz wohl ums Herz.

„Meinst du, wir können zusammen bleiben, bis wir fix und fertig und braun gebacken aus dem Ofen kommen?“ Er säuselte recht leise, dass es kein anderer hören konnte. Er war heute ganz mutig.

Sie zwinkerte wieder ein wenig. „Ja“, tuschelte sie, „da müssen wir schauen, ob unsre Arme und Hände noch ein wenig dicker werden. Wenn die Hefe uns ein bisschen mehr auftreibt, haben wir Glück und dann kleben wir einfach zusammen und tun als ob nichts wäre.“

Wilfried antwortete: „Es darf bloß keiner das Fenster aufmachen, sodass wir keinen kühlen Luftzug abbekommen, dann ist nämlich die Chance dahin.“

Die Zeit verging wie im Fluge und wie würde es aber weitergehen, wenn die großen Schieber ihre Körper aus dem Backofen heraus nehmen würden. Keiner sollte sich trauen und ihre Arme mit einem scharfen Messer trennen.

„Schön wäre es bei einer netten Familie, die uns im November sonntags auf den Kaffeetisch legt. Was meinst du?“, ihre hohe Stimme war nun sehr angenehm in seinen Ohren und er konnte sich den gemütlichen Nachmittag vorstellen. Kaffee-Duft, heiße Schokolade für zwei kleine Mädchen vielleicht. Puzzle und Spiele auf dem Tisch. Kerzenschein und dann natürlich das Schicksal des kurzen Lebkuchen-Lebens. Bis auf den letzten Krümel in den Mägen verschwinden, aber bloß nicht schon jetzt im Herbst. November, am liebsten ab dem 1. Advent, das wäre der richtige Moment.

Eine kleine Zunge, die erst schon am Zuckerguss mit Zitrone oder Haselnuss leckt und kleine Fingerchen oder Patschhändchen eines Babys, das die Rosinen stibitzt, damit könnte er leben.

Dazu das wonnige Lebkuchen-Mädchen auf dem anderen Teller, das zuzwinkert, da wäre die Welt für ihn in Ordnung.