Wassmann, Arndt

Ein bisschen von beidem

 

Es war eine dunkle und stürmische Nacht. Regen peitschte drohend gegen die Wände der kleinen Kate, und das Grollen des Donners ließ den Boden erbeben. Im Inneren der Behausung bot sich jedoch ein Bild des Friedens, erhellt von einem kleinen Talglicht: ein junges Mädchen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Sommer, saß ihrer Mutter an einem groben hölzernen Tisch gegenüber, während zu ihren Füßen zwei kleine Jungen spielten. Doch blickte man in die Augen der beiden Frauen, ward schnell klar, dass der Schein der beschaulichen Szenerie trog.

 

„Hast du etwas von Vater gehört?“, fragte das Mädchen.

 

„Ach Sieglind, meinst du wirklich, das hätte ich dir nicht schon längst gesagt?“ Es lag kein Vorwurf in der Stimme der Mutter, nur Traurigkeit.

 

„Nein, es … es tut mir leid. Ich vermisse ihn nur so sehr.“

 

„Ich weiß. Und ich bete jede Nacht zu unserem Herrgott, er möge ihn heil aus dem Krieg wiederkehren lassen.“

 

„Ich auch, Mama. Wir …“

 

Ein dröhnendes Hämmern unterbrach Sieglinds Gedanken. Alle Augen in der Hütte richteten sich auf die Tür. Erneut schlug eine Faust dagegen. Ängstlich blickte das junge Mädchen zu ihrer Mutter.

 

„Mach nicht auf“, flüsterte sie.

 

Wieder ein Hämmern. „Ihr begeht einen schweren Fehler, wenn ihr nicht öffnet“, erklang draußen eine Stimme.

 

Doch die beiden Frauen waren vor Angst wie erstarrt.

 

Berstendes Holz ließ Sieglind zusammenfahren, und ihre kleinen Brüder versteckten sich weinend hinter dem Rock der Mutter.

 

Drei Männer traten durch die offene Tür. Dunkle Kapuzen verhüllten ihre Gesichter, während hinter ihnen der schwarze Nachthimmel immer wieder von Blitzen zerrissen wurde.

 

Einer der Eindringlinge schloss die Tür und trat auf das Mädchen zu. „Bist du Sieglind, die Tochter des Köhlers?“

 

„Ich …“, begann sie zögernd zu antworten, doch ihre Mutter ging dazwischen.

 

„Was wollt ihr von uns? Wie könnt ihr es wagen, einfach nachts in unser Haus zu kommen!?“ Sieglinds Mutter versuchte mutig zu klingen, doch nicht nur ihre Tochter spürte das Zittern in ihrer Stimme.

 

„Ich habe deiner Tochter eine Frage gestellt, nicht dir, Weib. Und jetzt schweigt still, sonst werde ich dafür sorgen, dass du es tust.“ Seine Stimme war nicht laut, aber so furchteinflößend, dass sogar das Weinen der kleinen Jungen zu einem leisen Wimmern erstarb.

 

Wieder wandte sich der Mann an das Mädchen. „Bist du Sieglind, die Tochter des Köhlers?“

 

„Ja“, antwortete sie mit tonloser Stimme.

 

„Gut. Du wirst mit mir kommen, jetzt. Noch vor Ende dieses Monats bringe ich dich zurück.“

 

„Meine Tochter geht auf gar keinen Fall mit Euch!“

 

„Das hast du nicht zu entscheiden.“

 

„Oh doch, das habe ich!“

 

Sieglind blickte erschrocken auf, als sie das Messer in der Hand ihrer Mutter blitzen sah. Doch der Mann hatte schon reagiert. Mit einem lauten Klirren landete die Klinge auf dem Boden.

 

Was folgte, waren zwei schallende Ohrfeigen für ihre Mutter. Nicht mehr, nicht weniger. Fast bedächtig zog der Mann darauf sein Schwert aus der Scheide, die unter seinem langen Mantel verborgen gewesen war.

 

Sieglind sah, wie ihre Mutter erstarrte. Egal, wie viel Angst sie selbst hatte, sie würde nicht zulassen, dass ihrer Mutter etwas geschah! Langsam, mit ausgebreiteten Armen, trat sie vor den Mann und blickte unter die dunkle Kapuze, wo sie die Augen vermutete.

 

„Herr, bitte, Ihr wolltet mit mir sprechen. Was kann ich für Euch tun.“ Jedes Wort fiel ihr schwer, so stark spürte sie die Angst in ihrem Körper. Doch die Sorge um ihre Mutter war stärker.

 

Ein leises Lachen drang unter der dunklen Kapuze hervor. „Nun, scheinbar ist doch noch ein wenig Vernunft in dieser Familie verblieben. Du wirst mit mir kommen, freiwillig. Andernfalls gebe ich dir mein Wort, dass keiner von euch diese Hütte hier lebend verlässt. Und ich pflege meine Versprechen zu halten.“

 

Sieglind hatte das Schwert gesehen, die schnellen Bewegungen des Mannes - und sie blickte auf die beiden anderen, die immer noch reglos an der Tür standen, so, als ginge sie all dies hier überhaupt nichts an. Das Mädchen zweifelte keinen Augenblick daran, wie ernst die Worte der dunklen Gestalt gemeint waren. Ihre Mutter hatte ihr das Leben geschenkt. Jetzt war es Zeit, diese Schuld zu begleichen:

 

„Ihr habt gesagt, Ihr steht zu Eurem Wort, Herr. Wenn ich mit Euch komme, versprecht Ihr dann, meine Familie zu verschonen?“

 

„Es erfordert Mut, selbst in einer ausweglosen Situation noch zu verhandeln. Ich schätze dies. Deiner Familie wird nichts geschehen. Und jetzt komm!“

 

„Und Ihr …“, wandte er sich betont höflich zu Sieglinds Mutter, „… solltet besser darauf achten, gegen wen Ihr Euer Messer erhebt. Es wäre doch schade, wenn es in diesem Haus bald drei Waisen gäbe.“ Mit einem klingenden Ton ließ er eine Münze aus seiner Hand springen. „Für einen neuen Türriegel.“

 

Sieglind fühlte den festen Griff um ihr Handgelenk, fühlte, wie sie zur Tür gezogen wurde, fühlte den verzweifelten Blick ihrer Mutter auf sich ruhen - und glaubte nicht, dass sie sie jemals wiedersehen würde.

 

Regen prasselte auf Sieglinds Haut und durchnässte ihr dünnes Kleid, als der Mann sie durch die Nacht zu seinem Pferd führte. Dort legte er ihr einen dicken Mantel um.

 

„Du wirst hinter mir sitzen. Versuchst du abzuspringen oder mich vom Pferd zu stoßen, wird es erst dir leidtun und dann all jenen, die in dieser Hütte hier wohnen.“

 

Sieglind blickte zu ihm auf. Seltsamerweise schien die Angst von ihr gewichen, nun, da es keinen Ausweg mehr gab, da alles entschieden war.

 

„Herr, Ihr braucht mir nicht ständig mit dem Tod meiner Familie zu drohen. Ich werde gehorchen.“

 

„So, wirst du das?“, antwortete die dunkle Gestalt leicht belustigt. „Nun, wir werden sehen.“

 

Kaum saß sie hinter ihm auf dem Pferd, drehte er seinen Körper halb herum, zog einen dunklen Beutel aus Stoff über ihren Kopf und verschnürte ihn unter dem Kinn.

 

„Es wird ein langer Ritt. Du musst nicht alles hören und sehen. Aber wenn du schreien und weinen willst, nur zu, das hält mich wach.“

 

Sieglind hatte nicht die Absicht zu schreien. Was hätte es genutzt? Wem? Stattdessen schlang sie die Arme um die Hüften ihres Entführers und suchte Halt auf dem Rücken des Pferdes. Die erzwungene Nähe war ihr zuwider. Was in aller Welt war nur an diesem Abend geschehen? Und warum? Was wollten die drei Männer ausgerechnet von ihr?

 

Drei? Mit einem Mal kam der Strudel ihrer Gedanken zur Ruhe, und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf diesen einzigen Punkt: Drei?! Die Begleiter ihres Entführers hatten die Hütte vor ihm verlassen und dann … dann hatte es sie einfach nicht mehr gegeben. Oder spielte ihr da die Erinnerung einen Streich? Nein, vor der Hütte war sie mit dem Mann allein gewesen. Ein einzelnes Pferd hatte dort gestanden, und er hatte auch mit niemandem mehr ein Wort gewechselt. Hatte es die beiden anderen überhaupt jemals gegeben?

 

Langsam schlug Sieglind die Augen auf. Vögel zwitscherten. Es war bereits früher Nachmittag. Die Sonne blinzelte ab und an durch das dichte Blätterdach des Waldes und …

 

Wo in aller Welt war sie? Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Hände und Füße waren gefesselt. Unter ihr lag eine Decke aus festem Stoff. Erst allmählich setzte ihre Erinnerung wieder ein. Der Ritt, die dunkle Gestalt, dass jemand sie vom Pferd gehoben hatte - all jenes war also doch kein böser Traum gewesen, sondern bittere Wirklichkeit.

 

Sieglind wandte ihren Kopf, blickte sich um. Nicht weit entfernt stand das Pferd, auf dem sie durch die Nacht geritten war. Von ihrem Entführer jedoch fehlte jede Spur.

 

Die Fesseln an Armen und Beinen gaben trotz Zerren und Ziehen nicht nach. Nun, sie hatte nichts anderes erwartet. Eigenartigerweise machte sie sich kaum Sorgen, zumindest nicht um den Augenblick. Wenn die dunkle Gestalt sie hätte tot sehen wollen, wäre bereits mehr als genug Gelegenheit dafür gewesen. Aber was wollte er nur von ihr?

 

In diesem Augenblick hörte sie das Knacken von Zweigen. Ihr Entführer kehrte zurück - doch diesmal verhüllte keine Kapuze sein Gesicht. Sieglind blickte ihn an, während er langsam auf sie zuschritt. Er mochte um die dreißig sein, großgewachsen, schlank. Natürlich hatte sie ihn bereits gestern gesehen, doch erst jetzt nahm sie sein Aussehen auch wirklich wahr. Braune Locken fielen ihm bis auf die Schultern, und als er sich zu ihr herabbeugte, blickte sie in wunderschöne grüne Augen, schön - und doch furchteinflößend, ebenso wie sein ganzes Gesicht. Es strahlte Anmut aus, Stärke und … und etwas, das sie erzittern ließ.

 

„Guten Morgen. Bald geht die Sonne unter. Du solltest etwas essen.“ Er ließ eine Handvoll Beeren auf ihre Decke gleiten. „Keine Sorge, das ist nicht alles.“

 

Wenig später kehrte er mit einem Laib Brot und etwas Käse zurück, den er aus der Satteltasche seines Pferdes geholt hatte.

 

„Zeit, ein paar deiner Fesseln zu lösen, oder?“, sagte er mit einem schelmischen Grinsen, von dem Sieglind nicht sagen konnte, ob es ihr die Furcht nahm oder sie nicht noch steigerte.

 

Das junge Mädchen massierte ihre Handgelenke, an denen die Spuren der Fesseln deutlich sichtbar waren. Dann blickte sie ihren Entführer an, der sich neben sie gesetzt hatte und aß.

 

„Was habt Ihr mit mir vor?“

 

„Iss!“

 

„Warum habt Ihr gerade mich genommen? Ich habe Euch noch nie zuvor gesehen.“

 

Mit einem gefährlichen Blitzen in den Augen wandte er sich ihr zu. „Erste und wichtigste Regel für dich: wenn ich dir etwas befehle, gehorchst du. Also?!“ Er deutete auf die Beeren und das Brot, das auf der Decke lag.

 

Schweigend griff Sieglind zu dem kargen Mahl. Sie verstand es einfach nicht. Warum sie? Er hatte ihren Namen gekannt. Woher? Was wollte er von ihr? Wohin brachte er sie?

 

Doch im Augenblick konnte sie nichts weiter tun als ihm zu gehorchen. Und schließlich gab es weitaus schlimmere Befehle, als zu essen.

 

Kaum war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden, drängte ihr Begleiter zum Aufbruch. Offenbar zog er es vor zu reisen, wenn möglichst wenige neugierige Blicke ihn trafen.

 

„Herr, bevor Ihr mir wieder Augen und Ohren nehmt, dürfte ich Euren Namen erfahren?“

 

„Nenn mich Hieronymus.“

 

„Bringt Ihr mich wirklich nach Hause zurück, wenn … wenn Ihr mich nicht mehr braucht?“

 

Er trat auf sie zu, fasste ihr Kinn und drückte leicht ihren Kopf nach oben. „Ja, das werde ich. Und jetzt sind es genug der Fragen.“

 

Wie gestern legte er wieder den Stoffbeutel um ihren Kopf. Sie sah, dass er aus Samt gefertigt war. Nie zuvor hatte sie so edlen Stoff getragen. Hätte es nicht ein Kleid sein können? Ein Rock? Irgendetwas, das sie zu einer Frau machte statt zu einer Gefangenen? Doch solche Überlegungen führten nicht weiter. Egal, wohin er sie brachte, es würde bestimmt kein Schloss sein, und kein festlicher Ball würde auf sie warten.

 

Wieder war die Nacht vergangen, ohne dass sie sich wirklich daran entsinnen konnte. War irgendetwas in dem Tuch, was ihr nicht nur die Sicht nahm, sondern auch ihre Sinne benebelte? Jetzt jedoch fühlte sie sich wach, ausgeruht und - frei. Erst als sie sich erhob, wurde ihr bewusst, dass sie heute keine Fesseln daran hinderten. Von ihrem Entführer war nichts zu sehen, nur sein Pferd graste friedlich zwischen den Bäumen.

 

Sieglind blickte sich um. Sie war … irgendwo in einem Wald. Wie gestern. Aber wieso war sie nicht gefesselt? Hatte er es vergessen?

 

Doch in diesem Moment schien etwas anderes, Fremdes und doch seltsam Vertrautes die Kontrolle über ihren Körper zu übernehmen und alle Fragen zu verdrängen - ihr Wille zu überleben!

 

Sie war schon weit von der Stelle entfernt, an der sie erwacht war, als ihr klar wurde, dass sie rannte, floh, um ihr Leben lief. Ja, er hatte gesagt, er brächte sie zurück - von lebendig war jedoch nie die Rede gewesen. Niemand entriss mitten in der Nacht jemanden seiner Familie, nur um ihn wenig später zurückzubringen. Vielleicht waren ihre kleinen Brüder die nächsten? Vielleicht ihre Freundinnen aus dem Dorf? Vielleicht irgendein anderes armes Mädchen, das nicht wusste, wie ihr geschah?

 

Sieglind rannte, lief, floh! Sie musste fort von hier, fort von dieser dunklen Gestalt, fort von ihrem Weg in den Tod. Wenn sie erst zuhause angelangt war, würden die Männer aus dem Dorf ihre Familie beschützen. Sie würden den grausamen Mann finden und …

 

In diesem Augenblick erstarrte Sieglind. Kein Muskel schien sich mehr in ihrem Körper zu rühren. Sie war an einen kleinen Bach gelangt - und dort stand er, am anderen Ufer, und blickte sie vom Rücken seines Pferdes aus an - Hieronymus.

 

Schritt für Schritt kam er durch das seichte Wasser auf sie zu und blieb so nahe vor ihr stehen, dass sie den Atem seines Hengstes in ihrem Gesicht spürte. Immer noch war sie unfähig, sich auch nur einen einzigen Schritt zu bewegen.

 

„So gehorchst du also? So stehst du zu deinem Wort?“, fragte er, und in seiner Stimme schien sich Hohn mit einer eigenartigen Zufriedenheit zu vermischen.

 

Er stieg ab und trat auf sie zu. „Du wolltest also fliehen, statt dich einfach in dein Schicksal zu ergeben? Löblich, sehr löblich. Vielleicht wirst du mir aus genau diesem Grunde von besonderem Nutzen sein. Und vielleicht wirst du genau darum überleben. Nun, wir werden sehen.“ Er schien mehr mit sich selbst als mit ihr zu sprechen. Doch dann blickte er sie an, und ein gefährliches Lächeln lag auf seinen Lippen. „Aber nichtsdestotrotz stimmst du sicherlich mit mir darin überein, dass dein widersetzliches Verhalten Strafe erfordert.“

 

Als Sieglind nicht reagierte, nahm er ihren Kopf in beide Hände und führte ihn in einem unfreiwilligen Nicken auf und ab.

 

Er packte ihr langes, blondes Haar und zog sie zu einem umgestürzten Baumstamm, auf den er sich setzte.

 

Sieglind wusste, was nun folgte. Es würde schmerzhaft sein, demütigend, aber schlussendlich nicht wirklich schlimm. Die Frage war vielmehr: Was kam danach?

 

„Hieronymus, Herr, werdet … werdet Ihr mich schänden?“

 

Ihr Entführer lachte aus vollem Halse, so, als hätte sie eben etwas sehr Unterhaltsames gesagt. „Oh, dies mit Sicherheit nicht. Deine Unversehrtheit ist quasi conditio sine qua non.“

 

Noch ehe sie überlegen konnte, was die seltsamen Worte wohl bedeuten mochten, zog er ihr Kleid nach oben und ließ seine Hand mit Schwung auf ihre Hinterbacken sausen. Wieder und wieder und wieder.

 

„Ihr seid ein Zauberer, nicht wahr?“ War es richtig, diese Frage zu stellen? Sieglind wusste es nicht, doch was hatte sie schon zu verlieren?

 

Den ganzen Weg zurück zum Lager hatte sie geschwiegen, obwohl ihre Fragen viel mehr brannten als ein gewisser Körperteil. Er hatte sie absichtlich nicht gefesselt, hatte gewollt, dass sie floh. Warum? Er hatte gewusst, wohin sie lief, obwohl sie es selbst nicht wusste. Woher? Was hatte er nur mit ihr vor?

 

Sieglind war nun klar, dass sie ihm ausgeliefert war, dass es kein Entrinnen gab. Aber die Ungewissheit über ihr Schicksal war viel quälender als jede Folter es hätte sein können.

 

Bedächtig drehte sich Hieronymus zu ihr um. Gespielte Überraschung lag auf seinem Gesicht.

 

„Ein Zauberer? Was bringt dich auf diesen Einfall?“

 

Sieglind blickte ihn an. „Die beiden Männer in unserer Hütte. Ich habe sie gesehen. Aber in Wirklichkeit waren sie nie da.

 

Jede Nacht sitze ich hinter Euch auf dem Pferd. Ich bin wach, und doch kann ich mich kaum an irgendetwas erinnern.

 

Und unten am Bach: Ihr habt bereits auf mich gewartet, obwohl ich auch in eine ganz andere Richtung hätte laufen können.

 

Außerdem sprecht Ihr wie ein Gelehrter, nicht wie ein Verbrecher.“

 

„Oh, danke für deine Wertschätzung.“ Er lachte, doch es lag keine Häme darin, eher Vorfreude auf … was auch immer. „Nun, du hast einen wachen Verstand. Du stellst Fragen, wo andere längst von ihrer Angst verschlungen wären. Und du hast unten am Bach nicht um Gnade gewinselt, sondern deine Strafe mannhaft ertragen.“

 

„Also habe ich recht?“

 

„Was all deine Fragen betrifft, so kann ich sehr gut verstehen, wie dir zumute ist, wie du dich fürchtest. Und auch, wenn du mir dies jetzt wohl kaum glaubst - es tut mir leid, dich so lange im Ungewissen zu lassen. Wenn du das nächste Mal erwachst, werde ich dir antworten.“

 

Sieglind fragte nicht weiter. Ihr Entführer hatte alles gesagt, was er sagen wollte. Schweigend kaute sie an dem harten Brot, das wohl schon mehr Tage auf dem Pferd verbracht hatte als sie. Morgen wollte er ihr also antworten. Was war morgen anders als heute? Hatten sie dann ihr Ziel erreicht? Und war es das letzte Ziel, das sie in ihrem Leben erreichen würde?

 

Diesmal vergingen die Stunden bis zum Aufbruch nicht schweigend. Hieronymus unterhielt sich mit ihr, fragte sie nach ihren Träumen, ihren Wünschen, ihren Hoffnungen. Und sie antwortete. Zum einen aus Angst, was er tun würde, wenn sie schwieg, zum anderen aber auch in der Hoffnung, dass er so vielleicht einen Menschen in ihr sah und nicht nur einen Gegenstand, der zufällig sprechen konnte.

 

Sieglind war sich sicher, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte. Sie war noch nie einem Zauberer begegnet, hatte immer geglaubt, es seien Gestalten, die nur in den Märchen vorkamen, die ihre Mutter ihr früher immer erzählt hatte. Wie waren sie in diesen Geschichten gewesen? Gut? Böse? Sie konnte sich nicht mehr wirklich erinnern. Vielleicht ein bisschen von beidem.

 

In dieser Nacht schmerzte es, auf dem Pferd zu sitzen. Natürlich schmerzte es. Was hatte sie denn erwartet? Es war nicht wirklich schlimm, aber es hielt sie davon ab, so schnell wie in den Tagen zuvor in jenen eigenartigen Halbschlaf zu fallen, der ihr die Erinnerung nahm.

 

Ihr Vater hatte sie nur selten geschlagen, nur, wenn sie es wirklich verdient hatte. Die eigentliche Strafe waren dabei für sie nicht die Prügel gewesen, sondern das Gefühl, ihre Eltern enttäuscht zu haben. Was würde ihr Vater sagen, wenn er zurückkehrte und erfuhr, dass sie einfach mit einem fremden Mann fortgeritten war? Würde er stolz auf sie sein, weil sie ihre Familie beschützt hatte? Oder wütend? Würde er überhaupt jemals zurückkehren?

 

Sieglind versuchte den Gedanken zurückzudrängen, dass sie dann vielleicht schon längst tot war. Hieronymus konnte sie nicht einfach wieder gehen lassen, selbst wenn er das vorhatte. Sie kannte sein Gesicht, hatte herausgefunden, dass er magische Kraft besaß, selbst wenn er es bisher noch nicht zugab. Sie konnte zu den Hexenjägern gehen, ihn verraten.

 

Ink… Inkw… Sie konnte sich nicht mehr an den seltsamen Namen erinnern, den der Pfarrer einst für diese Männer gebraucht hatte. Aber sie würden Hieronymus verfolgen, wenn sie von ihm erfuhren. Das konnte er unmöglich riskieren.

 

Zu ihrem eigenen Erstaunen war Sieglind sich überhaupt nicht sicher, ob sie sich wünschte, dass man ihn fasste. Er hatte sie verschleppt, ihre Mutter bedroht, war grausam gewesen - und doch … Irgendetwas an ihm faszinierte sie. War es das Geheimnis, das ihn umgab? Dass sie gerade durch das erste wirkliche Abenteuer ihres Lebens ritt? Oder …

 

Doch noch während sie darüber nachdachte, spürte sie wieder die seltsame Wirkung ihrer samtenen Haube, die sie auch heute trug. Sie schlang ihre Arme fester um Hieronymus Hüften und ließ sich halb wachend, halb träumend durch die Nacht tragen.

 

Sieglind öffnete ihre Augen - und blickte direkt in Hieronymus Gesicht.

 

„Ich wollte nicht, dass du allein bist, wenn du erwachst. Es wartet noch genug Schrecken auf dich.“

 

Spürte sie tatsächlich Mitleid in seiner Stimme? Hatten all die Dinge, die sie ihm gestern über sich erzählt hatte, sein Herz …

 

Doch als sie sah, wo sie sich befand, lösten sich diese Gedanken der Hoffnung ebenso schnell auf, wie Träume im ersten Licht des Tages. Um sie herum waren Mauern, alt, verfallen. Durch einige herausgebrochene Steine fiel etwas Licht ins Dunkel. Sie lag gefesselt auf einem Lager aus Stroh und musste aufblicken, um ins Gesicht ihres Entführers zu sehen. Sie war eine Gefangene in seinem Kerker.

 

„Ich habe versprochen, dass ich dir heute antworte, und dies werde ich tun. Du scheinst einen wachen Verstand zu besitzen und wirst einsehen, dass es leichtsinnig gewesen wäre, dir schon auf dem Weg hierher zu trauen. Vielleicht wärest du ja tatsächlich in eine unerwartete Richtung gelaufen, schnell genug, um zu entkommen.“

 

Es lag wirklich Mitleid in seiner Stimme. Doch es war Mitleid mit jemandem, dessen Schicksal besiegelt war. Sieglind wunderte sich, wie ruhig sie ob der Situation blieb. Keine Tränen rannen ihre Wangen hinab, nicht einmal ihr Herz schlug schneller.

 

„Ich werde sterben, nicht wahr? Und was Ihr meiner Mutter zurückbringt, wird mein toter Körper sein.“

 

Hieronymus blickte lange in ihre Augen, bevor er anhob zu sprechen.

 

„Ich weiß es nicht. Und das ist die ehrlichste Antwort, die ich dir geben kann. Heute Nacht ist es soweit. Das Equilibrium, die Herbsttagundnachtgleiche. Ob du den morgigen Tag erblickst, steht nur in den Sternen, die ich nicht zu deuten vermag.“

 

„Was wird mit mir geschehen?

 

„Nun, du hattest ganz recht, ich bin ein Zauberer, ein Magier. Heute Nacht wird das wichtigste Ritual meines Lebens seinen Lauf nehmen, und mein Leben steht dabei in genau den gleichen Sternen wie deines.“

 

„Was ist es wert, dass man sein eigenes Leben dafür einsetzt - und das von anderen?“

 

Hieronymus lachte leise auf. „Dein Vater kämpft für den Herzog von Braunschweig, hast du mir erzählt. Und wofür kämpft der Herzog? Macht? Reichtum? Ruhm? Sind dies Dinge, für die sich der Kampf lohnt? Der Herzog sagt Ja.“

 

„Gegen wen zieht also Ihr in den Krieg?“

 

„Gegen niemanden, der auf einem Schlachtfeld wartet. Meine Walstatt ist der Geist. Auch ich strebe nach Macht. Macht, die Welt zu erkennen, Macht, sie nach meinem Willen zu formen.“

 

„Und ich bin Euer Soldat, den Ihr in dieser Schlacht opfert?“

 

Hieronymus lachte.

 

„Mein Soldat? So habe ich das noch nie betrachtet. Aber im Grunde hast du recht. Deine Art gefällt mir. Es wäre wirklich schade um dich, sehr schade.“

 

„Wofür habt Ihr mich ausersehen? Ihr wusstet, wer ich war, als Ihr mich entführt habt. Also wisst Ihr auch, dass ich Euch in einem Kampf nichts nutzen werde.“

 

Spielte es denn wirklich eine Rolle, wie genau sie ihr Leben verlor? Ja, das tat es! Wenn sie schon starb, wollte sie wenigstens wissen, wofür!

 

„Wie ich schon sagte, ich ziehe in keinen Krieg. Ich werde einen Dämon beschwören, ein mächtiges Wesen aus einer anderen Welt, und ihm einen Handel vorschlagen: unberührtes Blut gegen arkane Macht und ein langes, langes Leben.“

 

Sieglind schluckte. Sie wusste fast nichts über Dämonen, nur das wenige, was der Pfarrer im Dorf manchmal erzählte. Und eigentlich hatte sie daran ebenso wenig geglaubt wie an Zauberer. Dennoch …

 

„Seid Ihr sicher, dass ein Dämon mit jemandem handelt, der zu Mitleid fähig ist? Denn ich weiß, dass Ihr dies seid!“

 

Hieronymus stand ruckartig auf. Die freundlichen Züge von seinem Gesicht waren verschwunden. Offenbar hatte sie genau seinen wunden Punkt getroffen.

 

„Herr, Hieronymus, es tut mir leid, ich …“ Entschuldigte sie sich tatsächlich gerade bei dem Mann, der sie töten wollte?

 

„Du hast recht. Als ich in jener Nacht zu dir kam, brauchte ich einfach nur ein letztes Opfer. Ich warf einen kurzen Blick in deinen Geist, sah deinen Namen, spürte, dass du noch unberührt warst. Das reichte mir. Keine große Auswahlzeremonie, keine langen Überlegungen.“

 

Hieronymus zögerte kurz, fuhr dann aber fort. „Die anderen sind alle Waisen, aufgelesen von der Straße. Aber mir lief die Zeit davon. Das Equilibrium stand bevor. Und so nahm ich dich. Kein großes Geheimnis also, kein mächtiger Zauber, der mich zu dir führte.

 

Doch durch Zufall habe ich in dir ein Mädchen gefunden, das nicht nur klug ist, sondern auch anderen direkt ins Herz zu schauen vermag.“

 

Hieronymus wandte sich schon zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um. „Verwechsle Mitleid nicht mit Entschlossenheit! Wünsche ich mir, dass du stirbst? Nein, das tue ich nicht. Würde ich es genießen? Keinesfalls. Bin ich bereit, deinen Tod in Kauf zu nehmen, um ein höheres Ziel, mein Ziel, zu erreichen?“

 

Er blickte ihr fest in die Augen. „Ja, das bin ich.“

 

Sieglind zerrte an ihren Fesseln, als sie wieder einsam in ihrem Verlies lag. Doch diese waren fest - und würden standhalten.

 

Nun war die Panik da, deren Fehlen sie vorhin so überrascht hatte. Angst durchflutete ihren Körper. Sie würde sterben! Und sie würde nicht nur ihr Leben verlieren, sondern vielleicht auch noch ihre Seele, wenn ein Dämon im Spiel war! Konnte es sein, dass ihr Entführer einfach nur wahnsinnig war? Dass es all dies gar nicht gab? Keinen Dämon, keine Magie, einfach nur seinen gestörten Geist?

 

Doch dafür war er zu ruhig gewesen, zu überlegt, zu vernünftig. Vernünftig? Jemand wollte sie abschlachten, ausbluten lassen - und sie nannte dies Vernunft?!

 

Mühsam erlangte Sieglind die Kontrolle über sich zurück. Angst und Panik waren keine guten Ratgeber. Hatte er nicht noch von anderen Mädchen gesprochen? Vielleicht würde er sie selbst als letzte nehmen, und der Dämon war bereits satt und …

 

Sieglind erschrak über ihre eigenen Gedanken. Mochten andere ruhig sterben, wenn sie nur selbst am Leben blieb? War sie in Wahrheit genauso verdorben wie der Zauberer? Oder hätten andere an ihrer Stelle ebenso gedacht?

 

Immer wieder kreisten ihre Gedanken um die stets gleichen Fragen: Was würde geschehen? War ihre Seele bereits der Hölle geweiht? Oder gab es doch noch einen Weg, ihr Leben zu retten?

 

Erst als sich die Tür ihres Kerker wieder öffnete und Hieronymus erneut eintrat, bemerkte sie, dass schon seit geraumer Zeit kein Licht mehr durch die zerbröckelnden Mauern fiel.

 

„Komm, es ist Zeit!“

 

Überall leuchteten Kerzen. Der Raum war groß, fast eine Halle. Doch die letzten Menschen hatten diesen Ort schon lange verlassen. Wo einst eine Decke gewesen sein mochte, leuchteten nun die Sterne des Nachthimmels.

 

Die Kerzen erhellten seltsame Muster auf dem Boden: ineinander verschlungene Kreise, erfüllt von fremdartigen Zeichen und Schriften - und inmitten all dessen sechs weitere Mädchen: gefesselt, wimmernd und ohne ein Stück Kleidung am Leib.

 

Bald lag auch sie inmitten der Zeichnungen, unverhüllt und der Gnade eines Wahnsinnigen ausgeliefert, der keine Gnade zeigen würde.

 

Hieronymus blickte zu ihr herab.

 

„Ich sage dir jetzt, was ich auch den anderen gesagt habe: Wenn es beginnt, und das Leben aus dir weicht, halt dich an etwas fest, das dir Kraft gibt, das dich an diese Welt bindet. Ob der letzte Funke deiner Existenz weiterglimmt oder auf ewig erlischt, hängt nicht an der Menge des Blutes in dir, sondern an der Stärke deines Willens.“

 

Mit diesen Worten zog er einen prachtvollen Dolch aus seinem Gürtel, dessen Klinge im Lichte der Kerzen golden schimmerte.

 

Bald lag Sieglind in einem See aus Blut. Unfähig, sich zu rühren, unfähig, sich zu wehren. Sie fühlte, wie mehr und mehr ihrer Kraft sie verließ, während die seltsamen Beschwörungsformeln des Zauberers immer lauter und fordernder von den Wänden widerhallten.

 

Nicht mehr lange, dann hatten sie ihr Dorf erreicht. Sieglind erkannte die Wege, die Bäume.

 

Hieronymus hatte Wort gehalten. Noch erinnerte sie sich an all das, was geschehen war. Doch sie war dankbar, dass jenes Grauen, jener der Schrecken bald vergessen sein würden.

 

Als der Dämon erschien, hatte sie sich in ihre eigene Welt geflüchtet, eine Welt in der ihr Vater sie im Arm hielt, eine Welt, in der sie mit ihren kleinen Brüdern spielte. Und am nächsten Morgen war sie erwacht, neben ihr eines der anderen Mädchen, blass, verängstigt - aber am Leben. Was aus den übrigen geworden war …

 

Hieronymus stieg von seinem Pferd und half ihr herunter.

 

„Zeit für den Abschied, Sieglind. Hab´ Dank. Ich wünsche dir ein langes und erfülltes Leben.“

 

Sie wusste, dass sie ihn hassen musste, verachten, verabscheuen. Doch seltsamerweise tat sie es nicht.

 

„Das wünsche ich Euch auch.“

 

Mit jedem Schritt, den sie auf ihr Dorf zuging, vergaß sie mehr und mehr von den seltsamen Tagen, die hinter ihr lagen. All dies verlor seine Bedeutung - denn ihr Vater lief auf sie zu, weinend, lachend, überglücklich.

 

„Der Herzog hat mich gehen lassen, einfach so, ohne Grund!“, rief er ihr freudestrahlend entgegen. „Und jetzt bist auch du wieder da! Was in aller Welt ist denn geschehen?“

 

Sieglind drückte ihn fest an sich, wollte ihn nie wieder loslassen. Was geschehen war? Sie wusste es nicht. Doch sie wusste, dass der Grund des Herzogs einen Namen hatte: Hieronymus.

 

Ein Name, der nun ebenso verblasste, wie all die anderen Erinnerungen. Nur eine einzige, seltsame Frage glitt noch durch ihren Geist: Waren Zauberer gut oder böse?

 

Die Antwort darauf war das Letzte, was sie vergaß: wohl ein bisschen von beidem.