Wassmann, Arndt

Die Bibliothek der Seelen

 

Er sprang. Kalter Wind strich um sein Gesicht. Gleich würde er im Fluss unter der hohen Brücke versinken. Die eisigen Fluten würden sich über ihm schließen. Es würde zu Ende sein.

 

Sein ganzes Leben zog in wenigen Augenblicken vor Harald Gessners geistigem Auge vorbei. All die Momente, die ihn hierher geführt hatten, all die Begebenheiten, die seinem Leben Stück um Stück den Sinn geraubt hatten – und noch ein paar mehr, die längst vergessen schienen. Es war die richtige Entscheidung, dachte er seinen letzten Gedanken. Dann schlug das eisige Wasser über ihm zusammen.

 

 

 

Licht.

 

War er tot?

 

Sanftes, warmes Licht.

 

Natürlich war er tot.

 

Oder doch nicht? Würde er sich in einem Krankenwagen wiederfinden, wenn er die Augen öffnete?

 

Das Licht blendete kaum. Es konnte also nicht besonders grell sein.

 

War das der Tunnel, von dem er so oft gehört hatte? Der Weg zum Himmel, zur Hölle?

 

In seinem Leben war Harald Gessner viel zu oft feige und ängstlich gewesen. Jetzt war damit Schluss! Was sollte ihm auch zustoßen? Der Tod vielleicht?

 

Entschlossen öffnete er die Augen, gewöhnte sich an die Helligkeit.

 

Wolken? Riesige Kessel mit brennendem Öl? Nein.

 

Verwunderung war nicht wirklich das passende Wort, um zu beschreiben, was Harald Gessner empfand, als er sich umblickte.

 

Hohe Regale umgaben ihn, die bis in weite Fernen reichten, über und über gefüllt mit Büchern der unterschiedlichsten Art. Wie in aller Herrgottsnamen war er in einer Bibliothek gelandet?!

 

„Einen kleinen Moment noch. Ich bin gleich für Sie da.“

 

Erst jetzt bemerkte er, dass er vor einem großen Tisch stand, dahinter eine junge Frau, die Papiere stempelte. Die Bibliothekarin? Wenn alle dieser Zunft ausgesehen hätten wie sie, wäre er wohl noch öfter Gast in den heiligen Hallen der Literatur gewesen. Lange, blonde Locken fielen ihr bis weit über den Rücken. Ihre Stimme hatte weich, faszinierend und verführerisch geklungen, und Harald war sich sicher, in wundervoll blaue Augen zu blicken, wenn sie endlich aufsah. War er doch im Himmel gelandet? Trotz seiner Entscheidung?

 

„So“, wandte sich die vermeintliche Bibliothekarin freundlich lächelnd an ihn, „wen haben wir denn da?“

 

Harald blickte sie verwirrt an. „Wo bin ich hier?“

 

„Immer schön der Reihe nach. Name Komma Vorname. Der Rest kommt später.“

 

„Gessner, Harald.“

 

„Beruf zu Lebzeiten?“

 

„Architekt.“

 

„Grund des Erscheinens?

 

„Wie bitte?“

 

„Ich hab denen schon ein Dutzend Mal gesagt, sie sollen das Formular ändern, aber auf mich hört ja keiner. Also …“, blickte sie ihn wieder lächelnd an, „… woran sind Sie gestorben?“

 

„Ich … nun …“ Harald fühlte, wie sein Gesicht mit jedem Augenblick roter wurde.

 

„Ach wie süß. Eine peinliche Todesursache?“ Seltsamerweise brachte es die Bibliothekarin fertig, sich über ihn lustig zu machen, ohne auch nur im Geringsten verletzend zu sein. „Fragen wir mal so“, fuhr sie fort, „sind Sie freiwillig hier?

 

„Ich … Eigentlich schon.“ Diese Frau brachte ihn völlig aus dem Konzept. Eben noch hatte er die düstersten Augenblicke seines Lebens an sich vorbeiziehen sehen und jetzt …

 

„Prima“, unterbrach die blonde Schönheit seinen Gedankengang, „mit euch kann man am meisten anfangen.“

 

So süß und reizend sie auch war, irgendwann reichte es!

 

„Wo bin ich hier? Wer sind Sie? Und was soll das Ganze?“, fragte der Architekt wütend.

 

„Na, na, na, kein Grund, aufbrausend zu werden. Fast alle sind durcheinander, wenn sie hierher kommen. Und den meisten geht es dabei viel schlechter als Ihnen.“

 

Harald spürte die leichte Zurechtweisung in ihrer Stimme. „Hören Sie, ich möchte wirklich nicht unhöflich sein. Ich bin nur etwas verwirrt, ob … ob meiner gegenwärtigen Situation.“

 

„Oh, das haben Sie aber schön gesagt“, strahlte sie ihn an. „Ich verstehe Sie ja. Bestimmt haben Sie einen alten Mann mit Schlüsseln erwartet oder jemanden mit Pferdefuß und glühendem Dreizack. Viel-leicht auch ganz etwas anderes. Sie glauben gar nicht, mit welch seltsamen Vorstellungen die meisten Leute hier auftauchen. Also, machen wir`s ganz einfach: Ich bin Daria, und Sie sind tot.“

 

„Und das hier?“, deutete Harald mit seiner Hand auf all die Regale und Bücher.

 

„Ist das Leben nach dem Tode, könnte man sagen.“

 

„Eine Bibliothek?!“, fragte der Architekt ungläubig.

 

„Nun ja, ein bisschen komplizierter ist es schon, aber im Grunde ganz richtig. Überwiegend Biographien allerdings“, kicherte Daria.

 

Harald versuchte sich verzweifelt zu erinnern, ob er vor seinem Sprung irgendwelche seltsamen Substanzen genommen hatte. Sein Leben war vorüber, doch er war nicht auf den Tod getroffen, der mit knöcherner Hand seine Sense schwang, nicht auf Charon, der ihn mit seinem Boot übersetzte, noch nicht einmal auf jemanden, der seine Seele wog. Statt-dessen stand er vor einer kichernden Bibliothekarin, die … nun ja, kicherte.

 

In diesem Moment verstummte Daria und blickte ihn an. „Verzeihung. Die meisten Neuankömmlinge sind froh, wenn sie jemandem mit ein wenig Humor begegnen. Also …“, fuhr sie in wesentlich seriöserem, aber dennoch freundlichem Ton fort, „… die Jenseitsvorstellungen, die gemeinhin unter den Menschen zirkulieren, sind zwar überaus kreativ, aber nichtsdestotrotz völlig unzutreffend.

 

Sie befinden sich hier in der Bibliothek der Seelen, und ich bin für diejenigen zuständig, deren Leben keinen eindeutigen Schluss zulässt, was mit ihnen nach dem Tode geschehen soll.“

 

Harald Gessner schwieg. Aus der anfänglichen Verwirrung und vielleicht auch Wut hatte sich ein unangenehmes Gefühl der Beklemmung entwickelt. Er hatte beinahe diejenige Person beleidigt, die über sein weiteres Schicksal entschied, über sein Schicksal in der Ewigkeit.

 

„Es … es tut mir leid, dass ich so aufbrausend war. Ich habe mich wie ein Idiot verhalten.“

 

„Nein, nein, ein Idiot sind Sie nicht, sonst wären Sie schon längst in der Ablage.“

 

„In der Ablage?“

 

„Ach, kommen Sie, heute ist ohnehin nicht viel los. Ich gebe Ihnen eine kleine Führung.“ Daria stand auf, fasste die Hand des Architekten und zog ihn mit sich. „Außerdem sind Sie eigentlich ganz süß, wenn Sie mal nicht so grummelig gucken.“

 

Als Daria ihn an den riesigen Regalen vorbeiführte, versuchte er einige der Buchrücken zu lesen. Namen, endlose Reihen von Namen. Hin und wieder kam ihm einer davon bekannt vor, ein König, ein Schriftsteller, ein General. Doch die meisten hatte er noch nie in seinem Leben gehört. Ebenso vermochte er kein Prinzip zu erkennen, nach dem die Bände angeordnet waren.

 

„Beeindruckt?“, fragte ihn Daria, als sie nach einer Weile stehenblieb.

 

„Ja. Natürlich. Ich … weiß nur nicht genau, was ich hier sehe.“

 

„Wie gesagt, das hier ist die Bibliothek der Seelen. Aber das sagt noch nicht wirklich viel, oder? Nun, jedes Buch enthält die Essenz eines Lebens. Alles, was die betreffende Person jemals gedacht, gefühlt oder erlebt hat. Eine Biographie, wenn Sie so wollen. Haben Sie einen der Namen erkannt?“

 

„Ein paar, aber nicht wirklich viele.“

 

„Ein paar sind viele“, sagte Daria freudestrahlend, „Vielleicht fällt mir doch noch was für Sie ein.“

 

„Das heißt, jeder Mensch, der jemals gelebt hat, wird nach dem Tode zu so einem Buch?“

 

Die Bibliothekarin lachte lauthals auf und winkte ab. „Ach Unsinn. Dann würden unsere Regale ja überquellen vor lauter Langeweile, Schund und Schmutz. Ich habe noch nie nachgerechnet, aber vielleicht einer aus zehntausend kommt hierher, wahrscheinlich noch weniger. Nur wer wirklich ein interessantes Leben hatte, etwas erreicht hat, irgendwie bedeutend war.“

 

„Also nur, wer in der Geschichte eine herausragende Rolle gespielt hat?“

 

„Nein, nein, nicht wirklich. Die natürlich auch, aber nicht nur.“

 

Daria zog ihn mit sich, offenbar auf der Suche nach etwas. Plötzlich blieb sie vor einem Regal stehen und zog einen dünnen, aber liebevoll gestalteten Band heraus.

 

„Hier zum Beispiel, Solveig aus Worms.“

 

Harald überlegte, konnte aber nur mit den Schultern zucken. „Tut mir leid, noch nie gehört.“

 

„Macht nichts. Sie taucht auch in keinem Geschichtsbuch auf. Sie war eine Weberin im elften Jahrhundert, verheiratet, neun Kinder, gestorben mit Anfang fünfzig. An sich nichts Besonderes. Aber eines Tages setzte sie es sich in den Kopf, mit ihrer ganzen Familie nach Santiago de Compostela zu pilgern – und schaffte es, ihren Mann davon zu über-zeugen. Furchtbar nettes Ehepaar übrigens. Einer ihrer Söhne wurde später Schildknappe bei Heinrich IV., ein anderer half beim Bau einer Kathedrale, inspiriert von der Pilgerreise. Somit ein interessantes und erfülltes Leben, obwohl sich keiner mehr an sie erinnert.

 

Sie sehen also, hier stehen nicht nur Fürsten und Könige, sondern auch ganz einfache Leute, die etwas aus oder in ihrem Leben gemacht haben, das sie interessant werden lässt.“

 

Harald war verwirrt, beeindruckt, war … Es fühlte sich einfach alles viel zu seltsam an, um passende Worte dafür zu finden, obwohl, oder vielleicht gerade weil er sich in einer Bibliothek befand.

 

„All diese Bücher hier, gehören sie jemandem? Werden sie jemals gelesen?“

 

„Aber natürlich. Es ist die Bibliothek der Götter.“

 

„Welcher Götter?“

 

„Nun mal nicht gleich so neugierig. Immerhin sind Sie nur ein Formular von der Ablage entfernt.“

 

Der Architekt schluckte. Es war ohne Zweifel eine Drohung gewesen, und dennoch lächelte ihn die Bibliothekarin immer noch an – und es wirkte ehrlich.

 

„Verzeihen Sie, ich …“

 

„Ach, war nur Spaß“, stieß sie ihn mit dem Ellenbogen an, „aber die Götter zu erklären, wäre, sagen wir ... vermessen. Dafür ist die Bibliothek eigentlich ganz einfach zu verstehen. Warum haben Sie denn früher gelesen?“

 

„Ich?“, fragte Harald überrascht. „Nun, um mich in ein anderes Leben zu versetzen, eine andere Welt, um eine spannende Geschichte mitzuerleben, um … Es hat einfach Spaß gemacht.“

 

„Ganz genau. In dieser Beziehung ist es eine Bibliothek wie jede andere. Mit dem kleinen Unterschied, dass all die Leute hier, all die Biographien, wirklich leben. Man kann sie besuchen, mit ihnen reden, sie mit anderen reden lassen, mit ihnen …“

 

Die Bibliothekarin unterbrach sich mit einem schelmischen Grinsen. „Kennen Sie die 300 von den Thermopylen?“

 

„Wen?“

 

„König Leonidas, Dilios, Daxos, prächtige Burschen, alle miteinander. Bin schon mit mehr als einem durch Sparta gewandert. Nur Leonidas wollte unbedingt bei seiner Frau bleiben, und …“ Die Bibliothekarin schaute ihn an. „Ich seh´ schon, falsches Buch. Vielleicht lieber Hippolyte und ihre Amazonen?“

 

„Äh …“ Eigentlich wäre Harald Gessner liebend gern auf den leicht anzüglichen Humor der Bibliothekarin eingestiegen, aber die Aussicht, in irgendeiner Ablage zu landen, was immer dies auch heißen mochte, ließ ihn eher frösteln als lachen.

 

Allerdings – war es nicht genau das gewesen, was ihn schlussendlich hierher geführt hatte? Die Angst vor dem, was sein könnte? Viel zu lähmend, um etwas aus dem zu machen, was war?

 

„Daria, vielleicht könnten Sie mir die interessantesten Werke hier empfehlen? Gern bei einem gemeinsamen Besuch?“

 

Die Bibliothekarin schaute ihn an. Diesmal lächelte sie nicht. „Das war knapp, weißt du?“

 

Was war knapp gewesen? Und wieso duzte sie ihn plötzlich?

 

„Endlich hast Du mal ein bisschen Eigeninitiative gezeigt! Du warst nur noch eine Unterschrift von der Ablage entfernt – und ich war gerade dabei, den Stift zu zücken.“

 

Gut, das war eindeutig gewesen. Sein Leben nach dem Tode hätte beinahe schon geendet, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte – aus den gleichen Gründen wie sein altes Leben. Und es würde bestimmt kein weiteres geben. Er hatte nichts mehr zu verlieren – außer allem.

 

„Daria, was muss ich tun, um nicht in der Ablage zu landen?“

 

„Richtige Frage. Nur weiter“, blickte sie ihn erwartungsvoll an.

 

„Ich habe mein ganzes Leben nach einer Aufgabe, einer Bestimmung gesucht.“

 

„Aber wolltest du sie wirklich finden?“

 

Harald schwieg. Die Bibliothekarin kannte ihn noch nicht mal eine Stunde, und doch schien sie mitten in seine Seele zu blicken.

 

„Ich will sie jetzt finden“, sagte der Architekt mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst überraschte.

 

„Tja, dann ist es wohl das Beste, dich auf die Suche zu schicken, oder?“

 

Harald verstand zwar nicht, was sie meinte, aber alles war besser als der Tod im Leben nach dem Tode.

 

Daria ging zu ihrem Schreibtisch und zog einen großen Ordner aus einer der vielen Schubladen. „Vermisste Personen, wollen wir doch mal sehen … Lindberg, Kimble, Godot, Byron – ja, warum nicht“, sagte Daria mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. Dann blickte sie Harald an. „Lord Gordon Noel Byron, sechster Baron of Rochdale – ist schon seit Wochen nicht mehr in seiner Biographie gewesen. Such ihn und bring ihn zurück! Sagen wir mal, es ist deine Aufnahmeprüfung.“

 

Natürlich lag Harald die Frage auf der Zunge, wohin genau er denn aufgenommen würde, aber das war im Augenblick irrelevant. Es war genug zu wissen, was ein Versagen bedeutete.

 

„Lord Byron? Der Dichter?“

 

„Genau der. Ist nicht das erste Mal, dass er weg ist. Auf die Dauer bringt sowas unseren ganzen Katalog durcheinander.“

 

„Gut, ich suche ihn. Gibt es Anhaltspunkte?“

 

„So lob ich mir das“, sagte die Bibliothekarin und kniff ihn lächelnd in die Wange. „Entschlossenheit!“

 

Harald war sich nicht sicher, was er lieber getan hätte: mit ihr ausgehen oder sie auf einem Scheiterhaufen verbrennen. Nun gut, ein Scheiterhaufen in einer Bibliothek würde vielleicht ein wenig Missfallen erzeugen, dachte er mit einem leicht boshaften Grinsen.

 

„Also, Schätzchen, hör mir gut zu“, fuhr Daria fort. „Wer einmal hier ist, hat jede Menge Freiheiten. Er kann sich innerhalb seiner eigenen Welt ganz nach Belieben bewegen. Und seine eigene Welt ist sein Leben, wie er es geführt hat. All die Orte, Freunde, Feinde, alles ist vorhanden.“

 

„Das heißt, manche Biographien müssten sich überschneiden.“

 

„Ganz richtig. Und für die meisten ist dies mehr als genug Raum für alle Ewigkeit, nur manchen unruhigen Geist drängt es dazu, die Grenzen zu durchbrechen, seine Welt zu verlassen. Lord Byron ist einer von ihnen.“

 

„Und er ist an einen unbekannten Ort geflohen?“

 

„Nun ja, weder geflohen noch unbekannt trifft es wirklich. Sagen wir einmal, er hat sich zurückgezogen. Und ich wäre wirklich eine schlechte Bibliothekarin, wenn ich tatsächlich nicht wüsste, wo er ist.“

 

„Warum bringt man ihn dann nicht einfach zurück?“

 

„Das ginge natürlich, allerdings reagieren die meisten Seelen auf Zwang nicht sonderlich gut. Wenn man ihren Willen bricht, so zerstört man die Einzigartigkeit, die ihnen innewohnt. Und zurück bleiben trostlose Biographien, die keiner mehr lesen will.“

 

„Ich soll Lord Byron also überzeugen, freiwillig in seine eigene Welt zurückzukehren?“

 

„Ganz richtig.“

 

„Gut, wo finde ich ihn?

 

„Na, na, es wäre doch keine Aufnahmeprüfung, wenn ich dir alles verraten würde, oder?“, lächelte ihn die Bibliothekarin schelmisch an.

 

„Hat dich eigentlich schon mal jemand übers Knie gelegt?!“ Bloß weil sie Macht über ihn besaß, war das noch lange kein Grund, ihn wie ein Spielzeug oder einen Schuljungen zu behandeln!

 

Doch die Bibliothekarin blieb ruhig und lächelte offensichtlich amüsiert. „Ich glaube, für solche Fragen musst du dich erstmal beweisen. Und jetzt entschuldige mich, es wartet noch ein Haufen Arbeit.“ Damit wandte sie sich irgendwelchen Formularen auf ihrem Schreibtisch zu und strahlte die Gewissheit aus, dass das Gespräch beendet war.

 

 

 

Hervorragend. Einfach hervorragend! Er sollte auf Wunsch einer, um es vorsichtig auszudrücken, äußerst gewöhnungsbedürftigen Bibliothekarin den Geist, die Seele oder was auch immer, eines Dichters suchen, der … schlichtweg überall sein konnte. Außer vielleicht im England des 19. Jahrhunderts, von wo Lord Byron stammte. Und dann sollte er ihn auch noch dazu überreden, genau dorthin zurückzukehren, von wo er absichtlich verschwunden war.

 

Harald lief ziellos durch die unendlichen Regalreihen. Erst einmal weg von dieser Bibliothekarin.

 

Doch wo sollte er anfangen? Lord Byron. Es war ein Wunder, dass er überhaupt etwas über ihn wusste. Englischer Dichter und Edelmann, zu seiner Zeit ebenso erfolgreich wie skandalumwittert; hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass Vampire und Frankenstein in der Literatur er-schienen waren. Gestorben im griechischen Befreiungskrieg gegen die Türken.

 

Hilfreich, wirklich äußerst hilfreich. War Daria wirklich so boshaft, ihn ohne Hinweis auf eine aussichtslose Suche zu schicken? Nein, die ganze vermeintliche Führung durch die Bibliothek war ein Test gewesen, konnte nur ein Test gewesen sein. Daria mochte wie ein nettes, fröhliches Mädchen mit einem vielleicht etwas eigenartigen Humor wirken – aber würden die Götter so jemandem die Entscheidung über das Nachleben der Menschen überlassen? Wohl kaum. Also war alles Absicht gewesen, alles geplant – jedes Wort, jede Geste. Aber half ihm das weiter? Worüber hatten sie eigentlich gesprochen? Gut, seine Jenseitsvorstellungen. Doch diese boten keinen brauchbaren Hinweis. Die-se seltsame pilgernde Weberin vielleicht? Hatte Lord Byron nicht selbst einmal ein Buch über einen Pilger geschrieben? Doch da konnte ihn seine Erinnerung auch trügen. Dennoch war es zumindest einen Ver-such wert.

 

Gerade, als Harald nach langem Suchen die Biographie Solveigs von Worms wiedergefunden hatte, schoss ihm ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf. Natürlich! Griechenland! Lord Byron hatte für die Griechen gekämpft. Also waren die Bemerkungen der Bibliothekarin über König Leonidas vielleicht doch kein bloßer Zufall gewesen, und er würde den Lord genau dort finden!

 

Harald verspürte jedoch keinerlei Lust, Daria nach der Biographie des Königs zu fragen. Keimte da zum ersten Mal in seinem Leben Stolz in ihm auf? Oder war es nur die Angst, dass jede weitere Frage als Scheitern ausgelegt wurde? Vielleicht beides.

 

Also gut, so schwierig konnte die Bibliothek doch nicht aufgebaut sein. Der Architekt überflog einige der Buchrücken, blätterte in den Inhaltsverzeichnissen. Und dann verstand er es. Eigentlich was ganz simpel: Zeitalter, Nation, Alphabet.

 

Bald stand er bei der griechischen Antike, Sparta, L – und das gesuchte Buch fiel ihm sofort ins Auge. Dutzende, Hunderte schmaler Bände waren darum gruppiert, strebten ihm zu, waren nur hier, weil sie Seite an Seite mit diesem König gekämpft hatten, Seite an Seite mit ihm gefallen waren, Seite an Seite mit ihm zur Legende wurden.

 

Und nun? Wie reiste man in eine andere Welt? Eine andere Zeit? Genügte es, einfach die passenden Seiten zu lesen?

 

Sturm peitschte über die Erde, Blitze zuckten. Die Landschaft war öde und leer, doch erfüllt von majestätischer Einsamkeit. Und da stand er, am Rande der Klippen, gegen die die tosende Brandung eines aufgewühlten Ozeans schlug – Lord Byron.

 

Harald Gessner sah nur die Silhouette in der Dunkelheit, einen Mann mit langem Mantel, ihm den Rücken zugewandt. Und doch war er sich sicher, dass genau hier der richtige Ort war, genau hier die richtige Zeit.

 

Langsam näherte sich Harald der dunklen Gestalt. Was sollte er sagen?

 

Doch diese Entscheidung nahm ihm der andere ab. „Hat sie dich geschickt?“, fragte Lord Byron, ohne sich umzusehen.

 

Konnte man einen Geist belügen? Sicherlich nicht, wenn die Wahrheit so offensichtlich war.

 

„Ja“, antwortete Harald, der nun selbst an der Klippe stand und auf das tosende Meer blickte.

 

„Du bist nicht der Erste. Schau!“ Der Lord deutete auf die Felsen, die sich am Fuße der Klippen auftürmten.

 

Der Architekt erschauerte. Sein Blick ruhte auf Dutzenden bleicher Skelette, die unwirklich im fahlen Mondschein glänzten. „Habt Ihr sie dort hinunter gestoßen?“, fragte er entsetzt.

 

„Nur ein paar, die anderen wollten einfach nicht wieder zu Daria“, lachte der Lord. „Aber sorgt Euch nicht, die weitaus meisten sind einfach unverrichteter Dinge in die Bibliothek zurückgekehrt.“

 

Vermutlich direkt in die Ablage, dachte der Architekt. „Warum seid Ihr hier?“, fragte er ruhig den Lord. Er hatte keine Angst mehr. Die Klippen erinnerten ihn an die Brücke, von der er gesprungen war. Wenn es enden sollte, endete es eben. Wenn nicht, nun, man würde sehen.

 

Lord Byron wandte sich ihm zu und deutete auf das sie umgebende Land. „All das hier – es ist noch echt, wirklich, besitzt wahre Erhabenheit. Die Menschen besitzen sie. Bald schon streite ich an Leonidas´ Seite gegen die verfluchten Perser, dieses ekelerregende Sinnbild der Dekadenz.

 

Ihr fragt, warum ich hier bin? Weil mein England genauso geworden ist, verweichlicht, schwach, nicht mehr würdig, den Namen Empire zu tragen.

 

Sagt, Ihr kommt aus der Zukunft, ist es besser geworden? Und schwafelt nicht von gesellschaftlicher Transformation, Moderne und ähnlichem Humbug“, er deutete auf den Fuß der Klippen, „wie jene dort!“

 

„Das Empire ist untergegangen. Nicht an seinen Feinden – an sich selbst.“

 

Harald war überrascht, als Lord Byron ihm plötzlich fest die Hand auf seine Schulter legte. „Ihr seid wahrhaft mutig. Der Mut zur Wahrheit ist die höchste Form der Tapferkeit. All jene am Fuße der Klippen waren Lügner, Blender, im Leben wie im Tode. Ihr nicht. Gut so! Und nun geht zu Daria und sagt ihr, sie soll bleiben, wo der Pfeffer wächst.“

 

Nun, dieser Weg würde für Harald wohl nur wenig erfreulicher enden als der über die Klippen. Irgendwie musste der Lord doch zurückzubringen sein!

 

„Lord Byron, vermisst Ihr denn nichts aus Eurer Zeit? Niemanden?“

 

„Wen sollte ich denn vermissen?“

 

Verdammt! Wenn er nur mehr über Byrons Leben gewusst hätte!

 

„Jemanden, den Ihr liebt? Oder vielleicht die anderen Dichter, die Ihr kanntet? Vielleicht Mary Shelley?“

 

„Diese Pute?! Habt Ihr ihren Roman überhaupt gelesen?“

 

„Ihr meint Frankenstein?“

 

„Ja, natürlich meine ich Frankenstein!“, sagte der Lord wütend. „Bloß weil sie eine Frau ist, ist das noch lange keine Entschuldigung für akute Dummheit! So schwachsinnig wie dieser angebliche Doktor in ihrem Geschreibsel verhält sich noch nicht einmal ein Schuljunge!“

 

Harald überlegte fieberhaft. Zu dem Roman konnte er nichts sagen, er kannte nur die Verfilmungen. Vielleicht war im Original ja doch einiges anders. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle. Der Lord war wütend – vielleicht war dies hier genau die Chance, auf die der Architekt gewartet hat.

 

„Seltsam, dass ihr Mary Shelley erwähnt. Daria sagte etwas über sie, bevor sie mich hierher schickte.“

 

„Was genau?“, fragte Lord Byron misstrauisch.

 

Gut, es war ein Spiel auf Leben und Tod. Konnte man einen Geist belügen?

 

„Ich … ich hab´ es nicht wirklich ganz verstanden. Können Schriftsteller wiedergeboren werden, wenn sie eine Fortsetzung ihres größten Erfolges schreiben wollen?“

 

„Was!?! Niemals! Das werde ich nicht zulassen!!!“ Byron schien außer sich vor Wut. Aus einer Seitentasche seines Mantels zog er ein zerknülltes Stück Papier.

 

„Hört zu, Fremder. Sagt König Leonidas, ich … ich komme so schnell zurück, wie ich kann.“ Dann begann Lord Byron im Schein der aufzuckenden Blitze von dem Stück Papier zu lesen – offenbar ein Teil seiner eigenen Biographie.

 

Ein weiterer Blitz zuckte auf, Donner grollte – und Harald Gessner blickte zufrieden über die leeren Klippen.