Stegmann, Christa

Die Waldameise Norbert

 

Mitten im Wald, unter einem großen Baum, befand sich ein Ameisenhaufen. Dort lebte die Ameise Norbert. Heute war sie völlig verzweifelt, denn sie hatte sich verlaufen. Ein Ameisengang ähnelte dem anderen und Norbert wusste beim besten Willen nicht mehr, ob er rechts- oder linksherum laufen musste. Dabei sollte es zum Abendbrot ein Salatblatt geben. Wenn er nicht pünktlich um 18 Uhr zu Hause war, musste er hungrig ins Erdloch.

 

Norbert sah sich hilfesuchend um, aber keiner beachtete ihn. Die anderen Ameisen liefen geschäftig hin und her und schleppten dabei Lasten, die oft größer waren als sie selbst. Scheinbar wusste hier jeder wo es lang ging – nur Norbert nicht! Völlig nutzlos stand er den anderen im Weg.

 

„Ach, wenn ich doch nicht so vergesslich wäre“, seufzte er. Dabei hatte ihn die Mutter noch gemahnt: „Geh’ immer geradeaus und meide alle Seitenwege, dann kannst du dich nicht verirren.“

 

Natürlich wurde ihm der gerade Weg nach einiger Zeit langweilig. Was mochte wohl in den Nebengängen los sein? Norbert musste einfach ‘mal reingehen. Es lohnte sich, denn er sah eine Hochzeitsgesellschaft. Die Braut sah wunderschön aus und der Bräutigam stupste sie gerade zärtlich mit der Nase an. Viele Ameisenkinder tanzten um das Brautpaar herum und ehe sich Norbert wehren konnte, wurde er auch in den Kreis gezogen und herumgewirbelt. Ja, so war es dann passiert und jetzt stand er da und wusste nicht wohin mit sich.

 

„Ich könnte mich auf den Rücken schmeißen und die Beine schlaff hängen lassen“, überlegte sich Norbert „die Sanitäter kämen und würden mich wegschaffen.“ Er sah sich schon auf der Blättertrage liegen, begleitet von zwei stämmigen Ameisen, die ihn im Eilschritt zur Krankenstation brachten. Seine Eltern würden angerannt kommen. Die Mutter könnte ihre Tränen nicht zurückhalten und der Vater würde ernst blicken, um dann bedächtig den Kopf hin- und herzuwiegen. Da fiel ihm wieder das leckere Salatblatt ein. Sicher hatten sie so etwas nicht im Krankenhaus. Er hatte gehört, dass die Patienten dort meistens vorgekaute Aststückchen bekommen. Ihm wurde übel bei dieser Vorstellung.

 

Nein, ihm musste etwas Besseres einfallen. Plötzlich war es ihm klar, die Ameisenpolizei musste er finden. Die würden ihn nach Hause bringen. Sicher würden sich seine Eltern furchtbar erschrecken. Vielleicht glauben sie sogar, dass ich verhaftet wurde“, malte er sich aus. „Wo steckt denn die Polizei? Wenn ich sie brauche, muss sie doch da sein!“ Norbert wurde ungeduldig. Er lief hier hin und dorthin. Ab und zu fragte er auch nach dem richtigen Weg, aber jede Ameise sagte ihm etwas anderes. Es war wirklich zum Verzweifeln.

 

Er war schon ziemlich erschöpft, als er die Patrouille endlich sah. So schnell er konnte, lief er ihnen entgegen und stellte sich mitten auf die Straße. Der Ameisenzug stoppte und nachdem er seinen Wunsch und die Adresse genannt hatte, drehten alle um und marschierten wieder zurück. Diesmal zu ihm nach Hause.

 

In ihrer Mitte befand sich Norbert, der sich viel Mühe gab im Gleichschritt mitzumarschieren. So kamen sie nach einiger Zeit zu Hause an. Die Mutter erschrak tatsächlich, als sie ihren Jüngsten zwischen den vielen Polizisten entdeckte. Weil ihm aber nichts passiert war, holte sie voller Dankbarkeit das Salatblatt aus dem Vorratsraum und schenkte es den Rettern. Norbert war sprachlos und er sah voller Entsetzen, wie nach einigen Minuten alles bis auf den Strunk verspeist war.

 

„Oh nein“, dachte Norbert, jetzt muss ich doch hungrig ins Erdloch.

 

Wie erstaunt war er aber, als sich seine Eltern fein herausputzten. Seine Frage, ob sie noch ausgehen würden, beantworteten sie nicht, sondern lächelten sich nur zu. Noch ungewöhnlicher war, dass sie ihn um diese Uhrzeit mitnahmen. Ja, er durfte aufsitzen und ab ging es in den nächsten Seitengang. Dort befand sich ein Feinschmeckerlokal. Norbert bekam große Augen, als er die Speisen der anderen Gäste sah. Schließlich entschied er sich für GERÖSTETE BLATTROULADE MIT WALDHIMBEEREN.

Anschließend war er so satt, dass er kaum noch in sein Erdloch passte.

 

Verlaufen hat er sich nicht mehr, denn seine Mutter begleitet ihn jetzt immer. So lange, bis er groß genug ist, seinen eigenen Weg zu finden.