Stegmann, Christa

Die Giraffe Gitta

 

Im Zoo einer großen Stadt lebte die Giraffe „Gitta“ und langweilte sich. Zwar konnte sie die gesamte Anlage überblicken, aber das genügte ihr nicht. Sie wollte wie die Affen auf dem Felsen herumtoben. Auch stellte sie es sich lustig vor, auf dem Wasser zu schwimmen wie die Enten, oder zu tauchen wie die Otter. Das eigene Leben kam ihr dagegen trist vor. Sie konnte nur elegant in der Gegend herumstehen, auf alles herabsehen, und würdevoll ein Bein vor das andere setzen.

 

Gitta hasste es angestarrt zu werden. Deshalb beschloss sie etwas zu unternehmen, und sich zu wehren. Schon bog der erste Zoobesucher um die Ecke und blieb vor ihrem Gehege stehen. Sie spürte den Blick, der sie fast durchbohrte. Sekunden später stand sie ihm gegenüber. Sie senkte ihren Hals auf seine Augenhöhe und stieß plötzlich den Kopf nach vorn. Trotzig sah sie ihm direkt in die Augen. Er hatte das nicht erwartet, trat vor Schreck einen Schritt zurück, stolperte und fiel hin. Das freute Gitta, sie warf selbstbewusst den Kopf in den Nacken und trabte davon. Das machte sie nun mehrmals täglich und fühlte sich schon wesentlich besser.

 

Trotzdem schielte sie sehnsuchtsvoll zum Affenfelsen, auf dem immer etwas los war. Den ganzen Tag hörte sie wie sie kreischten. Es war nicht möglich einfach vorbeizugehen und sich unter die Affen zu mischen, denn ein breiter Graben umgab ihr Gehege. Alle hofften, dass der Abstand zu groß für sie wäre, sodass sie ihn nie überwinden könnte. Doch eines Tages, als der Wärter seinen letzten Rundgang gemacht hatte, nahm sie Anlauf und wagte den Sprung. Das war der Tag, an dem ein kleiner Junge mit dem Finger auf sie zeigte und sagte: „Guck’ mal Papi, die kann aber lange Spaghetti essen!“ Das alles war Gitta zu albern, und es gab ihr Mut und Kraft, das Hindernis zu überwinden.

 

Tatsächlich, sie hatte es geschafft! Erstaunt über sich selbst wiegte sie ihren hübschen Kopf hin und her. Jetzt musste noch der gewaltige Sprung über den Graben der Affen gelingen. Gitta spannte jeden Muskel an, und mit einem Satz war sie am Ziel. Direkt vor ihr erhob sich der Felsen, von dem sie immer träumte. Kreischend und zeternd stoben die Affen in alle Richtungen davon, als sie die Giraffe erblickten. Nur der Anführer, den sie „Rochus“ riefen, sprang hinter einer Felskante hervor. Seine langen Arme benutzte er dazu, sein Gewicht darauf zu verlagern. „Weshalb bist du hergekommen?“, fragte er Gitta.

 

Diese sagte selbstbewusst, „ich möchte mit euch leben, mit euch klettern und Spaß haben.“ Sie guckte Rochus dabei herausfordernd an, und nur deshalb stimmte er zu, obwohl er diesen Wunsch einfach „affig“ fand.

 

Kaum sahen die anderen Affen, dass ihr Anführer das große Tier akzeptiert hatte, verloren sie ihre Scheu. Zwei erklommen Gitta und versuchten sich zu fangen, wobei sie an ihrem Hals rauf- und runterhangelten. Ein dritter Affe suchte ihren Kopf nach Läusen ab, während der Vierte an ihrem Schwanz hing und sich baumeln ließ. Das war ihr lästig, und gereizt schüttelte sie alle ab. Sie wollte das Klettern versuchen, und ehe sie jemand daran hindern konnte, machte sie sich an den Aufstieg. Kurze Zeit später kam sie weder vorwärts noch zurück. Ihre langen Beine hatten sich verhakt. Zwanzig Affen waren nötig, um sie aus dieser misslichen Lage zu befreien.

 

„Es kommt daher, weil du eben nicht als Affe geboren wurdest“, meinte Rochus, der sie trösten wollte. Da schämte sich Gitta, der die ganze Geschichte furchtbar peinlich war. Sie entschuldigte sich mit hochrotem Kopf, und sprang zurück in ihr Gehege. Dort hatte sie Zeit über alles gründlich nachzudenken.

 

Dadurch sah sie Arno nicht, den Wärter, der alles beobachtet hatte. Er musste noch einmal zurück, weil er etwas vergessen hatte. Sein Weg führte ihn am Affengehege vorbei, und er traute seinen Augen kaum, als er dort die Giraffe sah. Die Rettungsaktion gefiel ihm besonders, und er nahm sich vor mehr auf die Tiere zu achten. Offensichtlich geschahen dort Dinge, von denen er nichts wusste. Deshalb legte er sich am nächsten Abend auf die Lauer um zu sehen, was da noch geschehen würde. Lange brauchte er nicht zu warten, denn schon trabte die Giraffe an ihm vorbei. Zielstrebig zog es sie zum Wasserbecken der Fischottern. Bevor Arno überhaupt begriff was Gitta beabsichtigte, war es schon geschehen. Er hörte es laut platschen, und plötzlich war sie im Wasser verschwunden.

 

Arno rannte los und sah gerade noch ihren Kopf, der kurz auftauchte. Ihre Augen waren entsetzlich weit aufgerissen, und mit den Hufen ruderte sie ziellos im Wasser herum. Es war ein jämmerlicher Anblick. Der Wärter warf Jacke und Schuhe von sich, um die Giraffe zu retten. Da sah er, wie sie an die Oberfläche kam. Viele Fischotter stützten Gitta, und trugen sie wie eine Siegestrophäe durch das Wasserbecken, wobei sie laut röhrten.

 

Gitta verstand schon, sie wurde auch nicht als Otter geboren und daher kam das Unglück. Sie dachte darüber nach, als sie wieder trocken in ihrem Gehege stand. Sie tröstete der Gedanke, dass weder der Affe, noch der Otter, jemals eine Giraffe sein könnten. Nur sie konnte das, und deshalb beschloss sie stolz auf ihre Fähigkeiten und ihr Aussehen zu sein. Wenn sie jetzt jemand ansah, zeigte sie sich von allen Seiten.

 

Arno veränderte inzwischen ihr Gehege, weil er dachte, dass sie mehr Gesellschaft braucht. Der Graben wurde mit Wasser gefüllt, und dort tummeln sich jetzt drei Fischotter.

 

Zwei Affen tobten durch die Anlage, ritten auf ihrem Rücken und zankten sich oft lautstark. Das brachte Schwung in Gitta’s Leben, und seitdem schielt sie nicht mehr sehnsüchtig zu den anderen Tieren.