Stegmann, Christa

Der besondere Abend

 

Es schneite schon seit einigen Tagen, aber der Schnee blieb nicht liegen. „Das würde sich heute ändern“ dachte Rita, während sie mit ihren Kindern den Baum schmückte. Sabine und Stefan legten vorsichtig die Geschenke unter die Tanne und stapelten noch einige um sie herum. Die Großeltern, Kinder, Freunde und Bekannte, alle hatten etwas abgegeben und so kam ein bunter Berg von großen und kleinen Gaben zusammen. Jeder hatte sich viel Mühe gemacht und sein Geschenk liebevoll verpackt.

 

„Hoffentlich wird etwas dabei sein das Mutti freut“, dachte Rita voller Sorge. Die Mütter waren immer so schwer zu beschenken. Nie wünschten sie sich etwas, alles hatten sie schon und angeblich brauchten sie nichts. Trotzdem würden die Omas am Heiligen Abend mit großen erwartungsvollen Augen um den Tisch sitzen und bestimmt bitter enttäuscht sein, wenn Rita nicht an sie gedacht hätte. Mit den Kindern war es viel leichter, sie gaben lange Wunschlisten ab und so machte es keine Mühe etwas davon auszuwählen.

 

Während sie die Süßigkeiten auf den bunten Tellern verteilte, dachte sie über das Gespräch nach, das sie mit einer Nachbarin geführt hatte. „Wir schenken uns nichts mehr“, sagte diese fast trotzig „Schließlich kaufen wir uns sowieso was wir brauchen.“ Es wirkte etwas überheblich wie sie das so sagte. „Na, mir wäre das zu nüchtern“, überlegte Rita. Eine Überraschung musste einfach sein und wie sie vor Jahren einmal „vernünftig“ war und schon einen Monat vorher ihr Geschenk bekam, da brach sie am Heilig Abend in Tränen aus. Paul hatte sich an ihre Abmachung gehalten und ihr nichts mehr geschenkt. Sie wusste noch genau wie fassungslos sie war, dass er nicht einmal eine Kleinigkeit für sie hatte. An diesem Tag schwor er sich, ihr nie wieder etwas im Voraus zu kaufen. Rita war eben keine Frau für vernünftige Abmachungen.

 

Ein schabendes Geräusch ließ sie aufhorchen. Paul schippte Schnee. Das war gut so, denn gleich mussten sie das Haus verlassen um zur Kirche zu gehen. Sicher, Paul würde sich wieder weigern mitzukommen. Jedes Jahr das gleiche Spiel. Sie konnte bitten und betteln, er ließ sich nicht umstimmen. Das war nicht immer so, als die Kinder klein waren kam er immer mit. Es war, als wollte er sie auf den rechten Weg bringen. Inzwischen waren sie fast erwachsen und er verhielt sich, als hätte er seine Schuldigkeit getan.

 

So, es war soweit, eisige Kälte kniff ihr ins Gesicht. Sie hätte sich vorher eincremen sollen. Zu spät! Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen als sie sich auf den Weg machten.

 

Die Kirche war besonders schön geschmückt, ein Chor sang und Rita versuchte einigermaßen bequem auf ihrer Holzbank zu sitzen. „Gut, dass ich einen Mantel angezogen habe“, ging es ihr durch den Kopf. Ihre Gedanken schweiften ab und sie musste sich ermahnen aufmerksamer zuzuhören. Wie jedes Jahr wurde die Weihnachtsgeschichte vorgelesen und am Ende des Gottesdienstes sangen alle „O du fröhliche“, wobei Rita über sich selbst erstaunt war, denn sie sang laut und kräftig mit. „Nun haben wir uns den Rest des Abends verdient“, ging es ihr plötzlich durch den Sinn. „Pfui, du bist unmöglich“, schalt sie sich selber.

 

Paul wartete schon im Auto und nun freuten sich alle auf ein besonders leckeres Abendessen und natürlich auf die Bescherung.

 

Zuerst fiel Sabine auf, dass etwas nicht stimmte. Sie konnte nicht erklären was es war, aber vor dem Gottesdienst sah die Stube anders aus. Nun merkten auch Rita und Paul eine Veränderung, aber woran sie eigentlich lag konnten sie nicht sagen. Stefan erkannte es aber sofort. Vor dem Tannenbaum lagen nur noch wenige Geschenke. Sicher noch genug für alle, aber die Hälfte fehlte. Die Terrassentür quietschte etwas und erst jetzt wurde ihnen bewusst wie kalt es im Wohnzimmer war. Tatsächlich, die Tür stand offen!

 

Einbrecher am „Heiligen Abend“? Das war doch wohl nicht möglich! Dabei war klar, es musste jemand hier gewesen sein. Voller Angst suchten sie das Haus ab, fanden aber niemand. Paul sah sofort nach seiner Geldkassette und Rita vergewisserte sich ob ihr Schmuck noch da war. Erleichtert kehrten beide zurück, während der Rest der Familie diskutierte, ob man wohl dafür am „Heiligen Abend“ die Polizei rufen sollte. Das Ergebnis war noch offen, als Rita die Päckchen durchsah um festzustellen welche fehlten. Alle Geschenke hatten nämlich kleine Namensaufkleber, so dass es nicht schwer war sie zuzuordnen.

 

Rita entdeckte plötzlich einen Zeitungsartikel zwischen den Geschenken. Erstaunt zog sie das Blatt hervor und sah, dass jemand aus zusammengeklebten Buchstaben einen Text gefertigt hatte. Aufgeregt verlangte sie nach ihrer Brille und begann vorzulesen, während ihr Paul über die Schulter sah.

 

VERZEIT MIR! ICH BIN SCHON LANGE OHNE

ARBEIT UND ICH HABE AUCH KINDER

 

Betroffen sahen sie sich an. Keiner dachte mehr daran die Polizei zu holen. Man sollte teilen und sie hatten geteilt, wenn auch unfreiwillig. Die Geschenke waren plötzlich nebensächlich und als sie sich später erkundigten was sie eigentlich bekommen hätten, da war es eher aus Sorge darüber, dass das Geschenk vielleicht nicht für jeden geeignet war. Sie hatten sich viel zu sagen und niemand bemerkte, dass sie dem Gedanken dieses besonderen Abends ganz nah’ gekommen waren.