Nölter, Horst-Dieter

Hänsel und Gretel

 

Es ist Spätsommer und der Wald lockt einige Menschen zum Pilze sammeln ein. So ging es auch Hans. Es dauerte eine Weile, bis er den ersten Erfolg verbuchen konnte. Eine Hand voll Pfifferlinge wechselten in den Korb.

 

Beim Aufrichten stand plötzlich eine junge Frau vor ihm und tat ganz erschrocken: „Ich habe Sie gar nicht bemerkt. Beinahe wären wir zusammengestoßen.“

 

Bei beiden zeichnete sich ein Lächeln ab.

 

Sie, eine sehr gut aussehende, junge Dame, setzte das Gespräch fort: „Haben Sie schon was gefunden und können mir einige Stellen verraten? Ich kenne mich hier nicht aus.“

 

So eine Annäherung ist ihm noch nicht vorgekommen.

 

Doch sie gefiel ihm sehr, viel zu schade um abweisend zu reagieren. Hans Antwort darauf: „Bin gerade mal 10 Minuten im Wald. Wenn Sie wollen, können Sie mich ja begleiten.

 

„Gerne!“, erwiderte sie.

 

Die nächste halbe Stunde sammelten sie Pilze und weiterer Wortwechsel blieb zunächst aus. Jeder war mit seinen Gedanken bei der neuen Bekanntschaft, sodass das Pilze sammeln zur Nebensache wurde.

 

Hans traute sich sie anzusprechen: „Darf ich Sie etwas fragen?“

 

„Nur los“, sagte sie.

 

„Sind Sie aus dieser Gegend?“

 

„Nein“, antwortete sie und ergänzte: „Ich komme aus Österreich und bin nur zu Besuch hier. Mein geschiedener Vater hat mich eingeladen.“ Nach einer kleinen Pause setzte sie fort: „Und Sie kommen wo her?“

 

„Aus Schwerin, in Nähe dieser Gegend“, antwortete Hans.

 

Plötzlich hörten sie Geräusche einer Motorsäge. Den Blick in diese Richtung gerichtet ließ sie den ohnehin geführten Weg weiter verfolgen.

 

Vom Laubwald durchquerten sie nun einen Nadelwald und die hier, von ihnen verursachten, knackenden Geräusche ließ die kurzzeitig abgeschaltete Motorsäge für immer verstummen.

 

Kaum hatten sie wieder einen Laubwald erreicht, senkte sich, ohne Vorwarnung, eine riesige Buche dem Waldboden zu.

 

Hans schrie noch: „Laufen Sie weg!“, doch es war schon geschehen. Das linke Bein der jungen Frau hat durch einen Seitenast eine erhebliche Wunde erfahren müssen.

 

Hans half ihr sofort aus der misslichen Lage. Er zerriss sein Hemd in breite Streifen und legte einen Notverband an.

 

Sie gab keinen Laut von sich, zeigte nur ein schmerzverzogenes Gesicht, das selbst in dieser Situation ihrer Schönheit keinen Abbruch tat.

 

In Nähe des Unfalls befand sich der Waldweg.

 

Hans holte so schnell er konnte sein Auto. Jetzt mit einem Sanitätskasten ausgerüstet legte er einen neuen Verband an und fuhr sie anschließend in ein Schweriner Krankenhaus. Nachdem er sie in ärztlicher Obhut wusste, wartete er noch die Diagnose ab. Eine verschmutzte Fleischwunde wird ca. eine Woche Klinikaufenthalt in Anspruch nehmen. Man gestattete Hans noch mit ihr zu sprechen. Mittels einer Spritze war die junge Frau schmerzfrei.

 

Sie stellten sich jetzt namentlich als Hans und Grete vor. Sie schauten sich liebevoll in die Augen und von beiden schien es, als gingen sie von einer großen Erwartungshaltung aus. Er versprach ihr, sie am nächsten Tag zu besuchen. Den Tag, also darauf, musste er eine Wartezeit in Kauf nehmen.

 

Der Vater war schon vor ihm da. Nach geraumer Zeit betrat er das Krankenzimmer und schaute in ein liebevolles Gesicht. Schon als er die Tür schloss, reichte sie ihm die Hand entgegen und sagte: „Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Sie sind ja sozusagen mein Retter. Bitte Hans, setzen Sie sich zu mir.“

 

Sie richtete ihren Oberkörper auf und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Hans war innerlich sehr berührt und eine gewisse Schüchternheit galt es jetzt abzulegen. So fiel ihm ein: „Ein wenig ist es wie im Märchen von Hänsel und Gretel. Statt der Hexe hatten wir einen illegalen Holzfäller.“ Grete lachte und bemerkte; „Hans, Sie gefallen mir und ich wäre traurig, wenn wir Geschwister wären.“