Nölter, Horst-Dieter

Alfred und sein Kidnapper

„Bind mich los!“, schrie Alfred.

 

Sein Geißelnehmer Kurt, eine Kapuze tragend, reagierte nicht, ging zur Tür, trat hinaus und verschloss das Verlies von draußen.

 

Dunkelheit, stickige Luft, Hunger und Durst quälten den gefangenen Jungen sehr. Ganze zwei Tage hatte man ihn nach dem Zugriff aus einem Auto, mit einigen Unterbrechungen, durch die Gegend gefahren. Eine halbe Flasche Wasser war das einzige, was er während dieser Zeit zu sich nehmen durfte. Er hat keine Ahnung, wo er sich befindet.

 

Alfreds Eltern hatten bereits abends, nach Fernbleiben ihres Sohnes, die Polizei anrufen wollen. Ein zuvor klingelnder Ton ließ sie sofort zum Hörer greifen. Eine verstellte Stimme verlangte Lösegeld in Millionenhöhe, um es genau zu sagen, 2 Millionen Euro. Um ihren Sohn lebend wiederzusehen, verbat sich der Sprecher jegliche Mitteilungen an die Polizei oder andere Verfolgungsarten.

 

Alfreds Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit und sich mit dem Stuhl drehend bemerkte er ein kleines Fenster im hinteren Raumbereich, mit schwachem Lichteinfall. Er hatte Schmerzen, denn an der Rücklehne des Stuhles gefesselt schien ein schärferer Gegenstand in den rechten Arm zu drücken. Mit seiner letzten Kraft versuchte er ein wenig, durch Dehnen des Seils, eine Entlastung zu schaffen. Es gelang einigermaßen die Schmerzen zu lindern. Er erschrak plötzlich, denn er verspürte ein leichtes Kitzeln im Nacken. Es brauchte eine Weile, bis er merkte, dass sich durch seine Dehnungsanstrengungen ein Teil des Seiles von der Lehne abhob.

 

Er versuchte aufzustehen und spürte, wie das Seil nachgab und sich ganz von der Lehne löste. Zumindest konnte er sich nun vom Stuhl befreien und den Raum näher inspizieren. Der Blick aus dem Fenster, nicht größer als eine mittlere Fliese, verriet, dass allmählich die Nacht einbrach. Geschwächt und müde versuchte er, auf einer im Raum befindlichen kaputten Decke, die Nacht zu verbringen. Albträume und auch ein wenig Kälte brachten ihm zusätzlichen Horrorstress.

 

Schlecht geschlafen, dafür aber recht früh wach, wollte er sich, bevor der Entführer auftaucht, von der Fesselung befreien. Alfred ging zum Stuhl zurück und sah an diesem ein Stück Metall aus der Lehne herausragen. Bestimmt ein Verbindungsglied für den Zusammenhalt der Lehne, dachte er. Die Hände noch gefesselt konnte er jetzt aber seitlich an die scharfe Kante des Metallstückes fassen. Das kleine Fenster verhinderte nun die völlige Dunkelheit.

 

Nach einer guten Stunde hatte er das Seil durchtrennt. Er setzte sich wieder auf den Stuhl und improvisierte die Fesselung so gut es ging. Nach einer weiteren halben Stunde hörte er Geräusche am Schloss der Tür und dann, in Folge, den Entführer eintreten.

 

Alfred mit hängendem Kopf dasitzend hörte im hinteren Raumbereich ungewöhnliche Geräusche.

 

Kurt ging, ohne weiter auf den Jungen zu achten, zu der besagten Stelle.

 

Im Nu war Alfred hoch, lief der stählernden Tür entgegen und dann raus. Er blickte sich kurz um und sah den Schlüssel von draußen stecken. Geistesgegenwärtig schloss er den Entführer ein. Die letzten gebündelten Kräfte sein Leben zu retten, ließen ihn nun verzweifelt aus diesem Labyrinth, einer verlassenen Industrieanlage, herauszufinden. Endlich fand er eine Treppe, die ihn aus dem Kellerbereich führte.

 

Der Kidnapper Kurt, ein arbeitsloser Taugenichts, aber mit reichlich krimineller Energie, wollte es mit wenig Aufwand zu Reichtum bringen. Seine schluderhafte Fesselung ließ nicht von nötiger Intelligenz ausgehen. Nun noch das Missgeschick, sich von einer jungen Geißel reinlegen zu lassen, ließ ihn wie ein Tölpel dastehen.

 

Auf dem Stuhl dann sitzend, die Kapuze in der Hand haltend, murmelte er vor sich hin: „Hier ist kein Rauskommen, ich sitze in der Falle“.

 

Er tröstete sich damit, im Knast eine Unterkunft zu haben und für die Versorgung nicht aufkommen zu müssen.

 

Alfred hatte derweil die Industrieanlage verlassen und eine wenig frequentierte Straße erreicht. Einen ersten Passanten bat er seine Eltern anrufen zu dürfen.

 

Ein Mann, dem der wie traumatisierte Junge schon aufgefallen war, fragte: „Ist Dir was passiert? Sag mir die Nummer Deiner Eltern.“

 

Alfred nannte sie, der fremde Mann wählte die Nummer und sein Vater war am Apparat. Der Mann reichte Alfred sein Handy und der berichtete in kurzen Worten dem Vater seine Erlebnisse. Zum Schluss sagte er: „Hole schnell die Polizei, wir sind hier …“, dann stockte er und fragte den Mann: „Wo sind wir hier?“

 

„An der alten Industrieanlage Blomberg in Ahlen“, antwortete dieser.

 

Alfred fragte seinen Vater, ob er mithören konne. Dieser bejahte und sagte weiter: „Junge, gib mir mal den Herrn!“

 

Der hörte vom Vater: „Sie haben sicher die Entführung meines Sohnes mitbekommen. Können Sie die in Ihrer Nähe verantwortliche Polizei verständigen und meinem Sohn eine Mahlzeit auslegen. Ich komme so schnell ich kann zu Ihnen. Es wird allerdings einige Stunden dauern.“

 

Der Mann, eigentlich nicht genügend mit Zeit ausgestattet, sich aber der Brisanz dieses Falles bewusst, sagte zu. Er informierte die Polizei, gab den Standort an und ging mit Alfred zu einem in der Nähe stehenden Kiosk. Eine Bratwurst mit Brötchen und Orangensaft sollten Alfreds Hunger und Durst etwas stillen. Kaum hatte er den ersten Bissen verzehrt, näherten sich zwei Polizeiautos. Der Mann hob die Hand und die Wagen hielten neben ihnen. Beide stiegen zu und die Fahrt ging im rasanten Tempo zu der Fabrikanlage.

 

Es wurde kein ruhiges Essen, Alfred konnte nur immer mal wieder in sein Würstchen beißen.

 

Vor der Halle angekommen, erklärte Alfred den ungefähren Tatort. Der außensteckende Schlüssel sollte das Finden erleichtern.

 

Vier Polizisten machten sich auf den Weg. Jetzt hatte Alfred es etwas ruhiger und konnte sich dem Rest der Mahlzeit widmen.

 

Die Polizisten kannten sich im verlassenen Industriegelände bestens aus. Das war sicherlich schon anderen Einsätzen in diesem Gebiet geschuldet.

 

Kurt, der amateurhafte Entführer, war fast froh, das ungemütliche Verlies verlassen zu können. Kaum waren die Polizisten, mit auf ihn gerichteten Pistolen, eingedrungen, kam ihnen Kurt schon mit hochgehaltenen Händen entgegen und ließ sich freiwillig die Handschellen anlegen.

 

Auf dem Weg zum zweiten Polizeiauto konnte Alfred zum ersten Mal seinen Peiniger erkennen.

 

Der behilfliche Mann verabschiedete sich von Alfred und wünschte ihm alles Gute. Den Polizisten gab er seine Legimitation, einschließlich Telefonnummer, sowohl als Zeuge, als auch für Alfreds Vater, der ihn ja sprechen wollte.

 

Alfred nahm wieder Platz im ersten Polizeiauto und kam vorerst im Polizeirevier unter. Der Vater wurde telefonisch unterrichtet.

 

Für die Presse war das mehr als ein Aprilscherz.

 

Redakteure und Leser haben sich prächtig amüsiert. Alfred war der Held in dieser Reportage. Der hilfeleistende Mann wurde auch positiv in den Medien erwähnt. Seine Unkosten waren es ihm wert und die Begleichung durch Alfreds Vaters lehnte er dankend ab.

 

Der Vater, ein Mittelständler, hätte die geforderte Millionen-Summe gar nicht aufbringen können, es sei denn er hätte seine ganze Existenz aufs Spiel gesetzt.