Neubauer, Ursula

Opa Paul und die Russen

Immer wenn ich einen uralten Fotoapparat sehe, fällt mir diese Geschichte ein.

Erzählt hat sie mir meine neunzigjährige Schwiegermutter Dora. Sie wuchs in der Bergarbeitersiedlung Grube Marga,

in der Nähe von Senftenberg, in der Niederlausitz. Dort wurde bis vor einigen Jahren noch Braunkohle im Tagebau gefördert.

1920 zog Dora, gerade ein Jahr alt, mit ihren Eltern in den neu erbauten Industrieort.

Ihr Vater, besagter Opa Paul, war Maschinenführer in der Fabrik „Ilse Bergbau“. Aber er hatte etwas,

das damals noch außergewöhnlich war, und ihm gewisse Privilegien brachte. Er war der stolze Besitzer eines Fotoapparates

und zwar als einziger weit und breit. Damit verdiente er sich als Fotograf, meist auf Familienfeiern, etwas Geld nebenbei.

Genau diese Kamera hatte ihm und seiner Familie nach dem Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich das Leben gerettet,

als die Russen einmarschierten. Die Sieger besetzten die gesamte Gegend, wobei die Industrieanlage einen großen Wert für sie darstellte.

Die Bevölkerung litt vor allem unter den Plünderungen und anderen gewalttätigen Ausschreitungen der Soldaten.

Auch Opa Paul und seine Frau Marie wurden nicht verschont, wobei sie noch Glück hatten, als ihre Wohnung durchsucht wurde,

denn die Soldaten waren auf Schmuck und insbesondere auf Uhren aus. Schlimmer als der Verlustes seiner Uhr war jedoch für Opa Paul,

dass die Soldaten seinen Fotoapparat und das Zubehör mitgenommen hatten. Trotzt dieses harten Verlustes war er froh,

dass er und seine Familie noch am Leben waren.

 

Ein paar Tage später fuhr ein Militärauto vor und ein russischer Offizier in Begleitung einiger Soldaten stieg aus.

Sie zeigten auf Doras Vater und der Kommandant blickte ihn streng an.

Er schnauzte ihn an, zwar in recht gutem Deutsch aber mit starkem russischen Akzent: „Du da, mitkommen!“

Oma Marie fing an zu schluchzen, denn sie befürchtete das Schlimmste. Mit blassem Gesicht folgte Opa Paul dem Kommandanten ins Auto.

Sie fuhren ins Hauptquartier und Doras Vater wurde es immer mulmiger zu Mute. Seine Knie zitterten, als er hinter dem Offizier das Haus betrat.

Was hatten sie vor mit ihm? Wollten sie ihn etwa erschießen? Man hörte schlimme Sachen über die Russen.

Im Büro des Kommandanten entdeckte Opa Paul zu seinem Erstaunen seine Kamera und das gesamte Zubehör auf dem Tisch.

Der Offizier fragte, ob es ihm gehöre. Opa Paul nickte nur.

„Du machen Fotos?“

Erneutes Nicken von Doras Vater, der nicht wusste, was er von der ganzen Sache halten sollte.

Der Kommandant jedoch schien hoch erfreut über die Antwort, denn er klopfte Opa Paul heftig auf die Schulter und bellte:

“ Du machen Bilder von Kompanie. Du bekommen Apparat wieder.“

Opa Paul sah den Kommandanten ungläubig an. Als er merkte, dass es dem russischen Offizier ernst war, fiel ihm ein Stein vom Herzen

und er begann sofort den Fotoapparat auf das Stativ zu montieren.

Er hörte noch, wie der Russe „Stroisja!“ und kurz darauf „Smirno!“ brüllte und die Soldaten standen stramm in Reih und Glied

draußen auf dem Platz.

Der Kommandant stellte sich in Siegerpose neben die Kompanie und machte eine wichtiges Gesicht.

Opa Paul schoss einige Aufnahmen und bekam tatsächlich anschließend seine Kamera zurück.

„Wann Bilder fertig?“, fragte der Kommandant und blickte Opa Paul schon etwas freundlicher an als vorhin.

„In einigen Tagen“, versicherte ihm Opa Paul schnell.

Daraufhin teilte ihm der Offizier mit, dass das Militärauto ihn nach Hause bringen würde, gab ihm sogar freundschaftlich die Hand

und verschwand im Haus.

Doras Vater atmete tief durch. So richtig konnte es noch gar nicht fassen, dass alles so harmlos ausgegangen war.

Er schaute sich nach dem Fahrer des Militärautos um, doch er konnte ihn nirgendwo ausmachen.

Stattdessen kamen einige Soldaten auf ihn zu und überschütteten ihn mit einem Schwall russischer Wörter,

von denen er natürlich nichts verstand. Als sie zuerst auf den Fotoapparat und dann auf sich zeigten,

dämmerte es ihm, dass sie von ihm noch mal privat fotografiert werden wollten. Er nickte ihnen zu,

um sein Einverständnis zu zeigen. In diesen Zeiten war es besser, sich mit den Siegern gut zu stellen.

Seufzend baute er alles wieder auf. Einer der Soldaten stellte sich ein paar Meter entfernt vor Opa Paul auf.

Er schob den Ärmel seines Hemdes hoch und fünf Uhren blitzten golden im Sonnenschein auf seinem Arm,

den er nun angewinkelt und stolz vor seiner Brust hielt. Der nächste Soldat hatte nur vier Uhren um seinen Arm gewickelt,

doch der darauffolgende präsentierte sogar sieben Uhren.

Doras Vater blickte angewidert auf die Ansammlung, denn es war offensichtlich, dass sie aus Plünderungen stammten.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als widerwillig die Soldaten mit ihrer Beute zu knipsen.

Als der letzte Soldat vortrat und seine Ausbeute zur Schau stellte, stockte Opa Paul der Atem.

An dem Arm des Russen hing doch wahrhaftig seine eigene Uhr, ein Erbstück seines Vaters.

Mit knirschenden Zähnen fotografierte er den Russen. Es war hauptsächlich Opa Pauls Wut zuzuschreiben,

dass er zurück zum Haus stürmte und dort verlangte, den Kommandanten sofort zu sprechen.

Als der Offizier dann draußen vor ihm stand und ihn ebenfalls verärgert anblickte, weil er sich in seiner Ruhe gestört fühlte,

wurde Opa Paul ganz klein. Wer war er denn schon, dass er sich beim Kommandanten beschweren konnte?

Die Russen waren schließlich die Sieger. Da waren Plünderungen ganz normal. Er biss sich auf die Lippen,

als der Offizier ihn barsch fragte, was er noch wolle. Doch dann hatte er eine Idee.

Der Kommandant würde ihn schon nicht erschießen, zumindest so lange nicht, wie er die Fotos noch nicht hatte.

Opa Paul erzählte ihm im möglichst freundlichen Ton, dass er heute hier seine Uhr verloren hätte und sie nun rein zufällig

bei einem Soldaten entdeckt hätte. Der Soldat hätte sie wohl rein zufällig gefunden und wüsste nun nicht,

wem die Uhr gehöre. Er wollte den Kommandanten bitten, dies dem Soldaten mitzuteilen, da er, Opa Paul,

leider kein Russisch sprechen könne. Die Uhr sei sehr wertvoll, weil sie eine Erinnerung an seinen verstorbenen Vater sei,

fügte Doras Vater noch schnell hinzu.

Der Kommandant schaute Opa Paul sekundenlang verständnislos an. Als ihm langsam der Inhalt der Sätze bewusst wurde,

fingen seine Mundwinkel an zu zucken und er unterdrückte mühsam ein Lachen.

Sein Blick ging hinüber zu den Soldaten, die in respektvoller Hab-Acht-Stellung einige Meter entfernt standen.

Er brüllte sie kurz an und die Soldaten kamen angekrochen. Ein kurzer Wortwechsel, in dessen Verlauf die Soldaten immer mehr

in den Boden sanken, und Opa Paul bekam unverzüglich seine Uhr zurück.

Als eine Woche später Doras Vater dem Kommandanten die Fotos überreichte, sagte dieser schmunzelnd zu Opa Paul:

„A, staryi znakomij, du haben deine Uhr?“

 

Nun, es war nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, aber Opa Paul und seine Familie

standen von nun an unter dem persönlichen Schutz des Kommandanten.