Neubauer, Ursula

II - Ein ehrenwertes Haus

Ein weiteres Drama spielte sich in der Wohnung gegenüber von Frau Hofmann, einer Freundin meiner Mutter, ab. Dort wohnte Frau Winter alleine mit ihrem Sohn Konrad. Da Frau Hofmann auch alleinerziehende Mutter war, trafen sich die beiden Frauen öfters und tauschten ihre Erfahrungen über ihre Söhnen aus. Wenn man ihnen zuhörte, musste man annehmen, ihre Kinder wären kleine Buben. In Wirklichkeit waren sie über dreißig und verwöhnte Mamasöhnchen.

Frau Hofmann war die unübertroffene Klatschbase im Haus und dadurch wurde meine Mutter über die schrecklichen Ereignisse in der Wohnung von Frau Winter umgehend informiert.

Als die Welt noch in Ordnung war bei Familie Winter, verließ Konrad jeden Morgen im weißen Hemd und dunklen Anzug mit Aktentasche die Wohnung, um zur Arbeit bei der Stadtverwaltung zu gehen. Seine Mutter winkte wie immer aus dem Fenster hinter ihm her. Gegen fünf Uhr nachmittags kam er zurück an den gedeckten Kaffeetisch. Anschließend ruhte er sich genau eine Stunde auf dem Sofa aus, während Mutti das Abendessen vorbereitete. Nach dem Essen las er Zeitung oder schaute fern. Gegen 22 Uhr gingen sie beide zu Bett. An den Wochenenden sah man sie gemeinsam beim Einkauf und Spaziergang im Städtchen. So lief das jahrelang ab, denn normalerweise hätte Konrad nie eine Frau kennengelernt. Mama war immer anwesend und wachte mit Argusaugen über ihren Sohn.

Aber wie das Schicksal so spielte. Die Stadtverwaltung schickte ihn zu einem einwöchigen Fortbildungslehrgang. Dort begegnete er Elisabeth und verliebte sich zum ersten Mal in seinem Leben. Und oh Wunder! Elisabeth, eine schüchterne, mausgraue Frau erwiderte seine Liebe. Ohne die Kontrolle seiner Mutter erklomm Konrad ungeahnte Höhen der Kühnheit und am Ende der Woche waren die beiden so gut wie verlobt. Konrads Mutter fiel zuerst aus allen Wolken und dann in eine Ohnmacht. Aber es half alles nichts, denn Konrad hatte die rosarote Brille auf und bemerkte den beleidigten Blick seiner Mutter gar nicht. Drei Monate später heiratete Konrad seine Elisabeth. Vielleicht wäre alles gut gegangen, wenn das junge Paar eine eigene Wohnung bezogen hätte. Da aber Wohnungsnot herrschte, blieb den beiden gar nichts anderes übrig, als bei der Mutter bzw. Schwiegermutter zu bleiben.

Die schäumte vor Wut und Eifersucht. Sie drangsalierte die junge Frau, wo sie nur konnte. Da Elisabeth, wie die meisten Frauen damals, dazu erzogen wurde, eher still zu sein und sich unterzuordnen, wehrte sie sich nicht, sondern litt stumm vor sich hin, bis sie den Alkohol und dessen stärkende Wirkung entdeckte.

Am Anfang reichten schon ein paar Gläser Wein oder eine Flasche Bier und Elisabeth fühlte sich leicht und beschwingt. Widerspruchsgeist regte sich in ihr und sie fand den Mut, zum ersten Mal der Schwiegermutter Paroli zu bieten. Diese wunderte sich zwar über den Mut ihrer Schwiegertochter, aber mit der Nüchternheit kam auch die Unterwürfigkeit bei Elisabeth zurück.

Die junge Frau merkte sehr wohl, dass der Konsum von Alkohol ihr genug Selbstbewusstsein und Stärke gab, sich gegen ihre Schwiegermutter zur Wehr zu setzen. Leider griff sie immer mehr zu diesem Hilfsmittel. Jetzt ließ sich Elisabeth zwar nichts von Konrads Mutter gefallen, aber dafür war sie alkoholabhängig geworden. Frau Winter und ihr Sohn standen diesem Problem hilflos gegenüber und verdrängten es einfach. Alkoholismus in der Familie, und dann noch bei der Ehefrau, das konnten sie doch nicht zugeben.

Aber hinter den verschlossenen Türen verwandelte sich das friedliche Heim der Winters in ein Schlachtfeld, weil Mutter und Sohn glaubten, das Problem aus der Welt zu schaffen, indem sie jeglichen Alkohol aus der Wohnung verbannten. Als Elisabeth dies bemerkte, schrie sie ihre Schwiegermutter an, die natürlich zurückbrüllte. Dann warf die sonst so schüchterne Elisabeth Konrads Mutter unflätige Beschimpfungen an den Kopf. Als sie anfing, die Gläser aus dem Küchenschrank auf den Boden zu werfen, kapitulierte Frau Winter und eilte aus der Wohnung, um in der nächsten Kneipe Bier zu besorgen. Dabei hätte sie fast Frau Hofmann überrannt, die im Flur stand und atemlos lauschte. Frau Hofmann erzählte meiner Mutter später, dass Frau Winter laut geschluchzt hätte.

„Die arme Frau!“, sagte sie und schüttelte bedauernd den Kopf.

An die arme Elisabeth dachte niemand. Und die Winters verhielten sich weiterhin so, als ob nichts vorgefallen wäre.

Eines Abends passierte es. Elisabeth hatte in der Küche nach einer Bier- oder Schnapsflasche gesucht und nur leere vorgefunden. Sie fing an zu krakeelen. Die Schwiegermutter kam in die Küche und wollte ihre Schwiegertochter beruhigen. Doch Elisabeth war so aufgebracht, dass sie die nächste Pfanne vom Herd ergriff und sie Frau Winter über den Schädel schlug, sodass diese blutüberströmt und bewusstlos auf den Boden fiel. Als Elisabeth sah, was sie getan hatte, fing sie an zu schreien. Konrad tauchte in der Küche auf und bekam bei dem Anblick seiner blutenden Mutter einen Schock. In seiner Hilflosigkeit rannte er sofort zu Frau Hofmann. Diese rief den Notarzt an und der Krankenwagen brachte beide Frauen ins Krankenhaus.

Frau Hofmann kümmerte sich um den verstörten Konrad und dabei erfuhr sie alles, was sich in letzter Zeit bei Familie Winter abgespielt hatte. Schon nach ein paar Tagen kam Frau Winter wieder aus dem Krankenhaus, da sie nur eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung gehabt hatte. Sie verschanzte sich mit Konrad in der Wohnung und sprach mit niemandem ein Wort. Wenn sie Frau Hofmann im Flur traf, wandte sie ihren Kopf ab oder schaute durch sie hindurch, als ob sie Luft wäre. Kurze Zeit später verließ sie mit ihrem Sohn endgültig unser Haus.

Frau Hofmann war mehr als empört. „Nicht einmal bedankt hat sie sich, nach allem was ich für ihren Sohn getan habe.“

Aber am meisten ärgerte sie, dass sie nicht wusste, wo Familie Winter hingezogen und was aus Elisabeth geworden war. Deshalb setzte sie alle Hebel in Bewegung, um es herauszufinden. Ihr Sohn Günther, der in einem Gasthaus in der Stadt arbeitete, bekam schließlich die richtige Information.

Frau Winter und ihr Sohn waren in eine andere Stadt gezogen und Konrad hatte sich in ein anderes Amt versetzen lassen. Elisabeth hatte sich erfolgreich einer Entziehungskur unterzogen und reichte anschließend die Scheidung ein.

Und in unser ehrenwertes Haus kehrten wieder Ruhe und Anstand ein.