Neubauer, Ursula

I - Ein ehrenwertes Haus

Ich wurde in einem ehrenwerten Haus geboren, und zwar am längsten Tag im Jahr.

Eine Hebamme war bei meiner Mutter im Schlafzimmer, doch die Geburt ging nicht voran.

Schließlich schickte sie meinen Vater zu Fuß los, einen Arzt zu holen.

Wir hatten damals weder Auto noch Telefon. Mein Vater musste etliche Kilometer durch die Stadt laufen,

weil der Doktor bei einem anderen Patient war. Als die beiden endlich nach zwei Stunden bei meiner Mutter eintrafen,

hatte ich es alleine geschafft, auf die Welt zu kommen.

 

Unsere Wohnung befand sich im dritten Stockwerk eines alten Fachwerkhauses. Der Besitzer war ein alter, mürrischer Mann,

der ein Gesicht machte, als ob er ein Gallenleiden hätte. Sein Name war Sauer, was haargenau auf ihn zutraf.

Wir Kinder hatten höllische Angst vor ihm. Er verjagte und beschimpfte uns, sobald er uns zu Gesicht bekam.

Trotzdem ermahnte mich meine Mutter, zu ihm und den Nachbarn immer nett und höflich zu sein.

 

Nachbarn gab es viele bei acht Wohnungen in dem Haus. Erstaunlicherweise wohnten viele Mieter jahrzehntelang dort,

obwohl unser geiziger Hausbesitzer kaum renovierte oder modernisierte. Aber Neubauwohnungen waren rar und teuer.

 

Man kannte sich und half sich gegenseitig. Das hielt die Leute jedoch nicht davon ab,

über die anderen Mieter hinter deren Rücken zu reden. Das Theaterstück „Tratsch im Treppenhaus“

hätte genauso gut in unserem Wohnhaus spielen können.

 

Zum Beispiel die Sache mit dem netten Herrn Schäfer, der im dritten Stockwerk neben uns in der Nachbarwohnung lebte.

Er war schon lange Witwer und vor fünf Jahren pensioniert worden.

Eines Tages tauchte eine Frau mittleren Alters auf und machte einmal die Woche seine Wohnung sauber.

Dann kam sie zweimal, dann dreimal die Woche und plötzlich jeden Tag. Doch sie verließ abends immer seine Wohnung.

 

Meine Mutter beäugte sie kritisch und wartete jeden Abend in der Küche auf das Geräusch der zufallenden Tür der Nachbarwohnung.

Als dies eines Abends ausblieb, war es mit der Toleranz meiner Mutter vorbei.

„In seinem Alter!“, sagte sie empört zu meinem Vater. Herr Schäfer war 70 Jahre alt.

Als Allererstes suchte meine Mutter am nächsten Morgen Frau Hofmann aus dem zweiten Stockwerk auf,

um sie über diesen Sumpf der Unmoral, der sich nebenan abspielte, zu informieren.

Frau Hofmann wohnte am längsten im Haus und fühlte sich verpflichtet, Anstand und Moral im Hause hochzuhalten.

Sie war entsetzt über diesen Sittenverfall, wie sie es bezeichnete. Mit meiner Mutter zusammen wollte sie

eine Strategie entwickeln, diese ’Schlampe‘ zu vergraulen. Das ging meiner Mutter nun doch zu weit.

Über jemanden reden, war eine Sache, aber die Person zu vertreiben, eine andere.

Also musste Frau Hofmann alleine handeln. Zuerst versuchte sie, ihr Missfallen der besagten Dame gegenüber mit

anzüglichen Bemerkungen und verächtlichen Blicken zu zeigen.

Als Nächstes ließ sich sogar dazu herab, mit Herrn Schäfer ein ernstes Wort zu reden.

Als das alles nichts half, ging Frau Hofmann zum Hausbesitzer und klärte ihn über die herrschende Unmoral

in seinem Mietshaus auf. Herrn Sauer ging es weniger um die Moral sondern mehr um das Geld.

Er teilte unserem Nachbarn schriftlich mit, dass die Miete und die Nebenkosten ab nächsten Monat erhöht würden,

da er nun mit zwei Personen in seiner Wohnung leben würde. Herr Schäfer tat das einzig Richtige.

Er kündigte, zog zu seiner ‚Schlampe‘ und ehelichte sie.

 

Nun wären Sitte und Anstand eigentlich wieder hergestellt gewesen, aber Frau Hofmann passte die Heirat auch nicht.

Diesmal kamen die entrüsteten Worte „In seinem Alter!“ von ihr.

Mutter sagte erbost: „Sie hat ihn bestimmt um den Finger gewickelt, weil sie hinter seiner Pension her war.“

Da ich damals erst acht Jahre alt war, konnte ich mir nicht vorstellen, wie eine Frau einen erwachsenen Mann

um den Finger wickeln konnte und fing an zu kichern. Das brachte mir einen strafenden Blick meiner Mutter ein

und den üblichen Standardsatz: „Das verstehst du nicht, dazu bist du noch zu klein!“

 

Diesen Satz bekam ich auch zu hören, als ich ganz unschuldig nach dem Ehemann von Frau Hofmann fragte,

den ich noch nie gesehen hatte. Sie hatte nämlich einen Sohn, namens Hans, der ihr Ein und Alles war.

Als Kind habe ich ihn lange Jahre für ihren Mann gehalten, weil er bedingt durch seine Halbglatze schon so alt aussah.

In Wirklichkeit war er damals Mitte dreißig, schwul, Kellner von Beruf und die Folge eines Fehltritts

von Frau Hofmann. Das habe ich natürlich alles erst viel später erfahren.

Frau Hofmanns Tagesablauf bestand aus zwei Dingen: sich um Hans zu kümmern und zum Arzt zu gehen.

Sie ging ungelogen jeden Tag zum Arzt, weil sie überzeugt war, todkrank zu sein und bald zu sterben.

Wenn sie mit meiner Mutter zusammen am Küchentisch saß und Kaffee trank, bestand ihr Gespräch nur

aus diesen zwei Sätzen: „Ich muss noch für Hans ...“ und „Der Arzt hat gesagt ...“

Vierzig Jahre später lebte sie immer noch, während meine Eltern schon längst gestorben waren.