Neubauer, Ursula

Duell auf der Landstraße

Opa Paul, geboren 1885, lebte mit seiner Familie in der Bergarbeitersiedlung„Grube Marga“ in der Nähe von Senftenberg in der Niederlausitz.

Von Beruf war Opa Paul Maschinenführer im Braunkohletagebau, doch nebenbei betätigte er sich als Fotograf. Als einziger weit und breit mit einer Kamera wurde er zu fast allen Familienfeiern geholt. Dadurch kam Opa Paul viel herum, war bei allen bekannt und beliebt. Das Herumreisen beschränkte sich allerdings auf einen gewissen Radius, weil er die Wege mit dem Fahrrad bewältigen musste. Zur damaligen Zeit - vor dem Zweiten Weltkrieg - fuhr kaum jemand ein Auto und die Straßen waren entsprechend leer. Opa Paul betrachtete es als Vorteil, weil er all seine Utensilien auf dem Fahrrad verstauen musste. Kein leichtes Unterfangen, denn die Fotoapparate waren viel größer und sperriger als heute. Außerdem hatte er auf den Familienfeiern meist schon gut gespeist und viel getrunken, so dass er danach in Schlangenlinien fuhr. So war es für ihn besser, wenn sich kaum jemand auf den Strassen befand.

 

Um so mehr staunte Opa Paul, als er an einem Samstagabend im Sommer wieder einmal mit dem Rad unterwegs war und ganz weit hinten einen kleinen, schwarzen Punkt sah.

„Nanu, wer mag das wohl sein“, dachte er verwundert und radelte mitten auf der Straße weiter.

Der kleine, schwarze Punkt wurde größer und entpuppte sich als ein Radfahrer, der ebenfalls die ganze Straßenbreite in Anspruch nahm.

Opa Paul sagte sich: „Na, der wird schon ausweichen!“ und radelte weiter.

Er kam von einer Hochzeitsfeier, wo das Bier in Strömen geflossen war und der Schnaps dazu. Nach dem Fotografieren hatte er sich ein paar Bierchen genehmigt und zwei Schnäpse. Einen auf das Wohl der Braut und einen auf den Bräutigam. Man wusste, was sich gehörte. Außerdem freute er sich, dass es mal wieder eine Hochzeitsfeier zum Fotografieren gab, denn die Geschäfte liefen schlecht in letzter Zeit.

Müde von der Arbeit und dem Alkohol trat Opa Paul gemächlich in die Pedale. Die andere Fahrradgestalt kam im genauso bedächtigen Tempo immer näher. Nach ein paar Minuten erkannte Opa Paul den entgegenkommenden Radfahrer und wäre vor Schreck beinahe gestürzt, weil er unwillkürlich abbremste. Es war der Mann, den er am meisten hasste! Es war sein schlimmster Feind! Es war sein Konkurrent!

 

Seit einem halben Jahr war Opa Pauls bis dahin so erfolgreiche Karriere als Fotograf ins Gegenteil umgeschlagen. Der Grund dafür lag in dem jungen Ehepaar Schreiber. Sie waren neu in der Stadt, weil Herr Schreiber Arbeit in der Verwaltung in der Bergbaufabrik gefunden hatte. Frau Schreiber blieb zu Hause, so wie es damals üblich war. Er besaß jedoch ebenfalls eine Fotoausrüstung und dazu noch einen funkelnagelneuen und viel modernere, als Opa Paul sich jemals hätte leisten können. Seine Frau begleitete ihn und half ihm beim Fotografieren. Dazu hatte das Ehepaar noch die Frechheit, Werbung in eigener Sache zu machen.

 

Anfangs hatte keiner in der Stadt die beiden als Fotografen so richtig wahrgenommen. Es war mehr aus Not und Verlegenheit gewesen, als das Ehepaar Schreiber zum ersten Mal bei einer Familienfeier Fotos schoss, da Opa Paul zu dem selben Termin bei einer Konfirmation beschäftigt war. Doch dann stellte sich heraus, dass die Fotos des Ehepaars besser aussahen, schneller fertig waren und dazu noch weniger kosteten. Zum ersten Mal in seinem Leben musste Opa Paul schmerzlich erfahren, dass bei Geld die Freundschaft aufhörte und was Konkurrenz bedeutete. Es setzte ein regelrechter Ansturm auf das Ehepaar ein und Opa Paul schaute verdrießlich in die Röhre.

Doch nicht alle Kunden liefen ihm davon; viele der langjährigen Freunde in seinem Alter blieben ihm treu. Aber bei ihnen gab es nicht mehr so viele freudige Anlässe, die man hätte fotografieren können.

Die lukrativen Aufträge wie Hochzeiten und Taufen bekam immer mehr sein Konkurrent. Opa Paul, sonst eher ein ruhiger Geselle, schäumte vor Wut. Nicht nur Neid und Eifersucht nagten an ihm. Nein, die Tatsache, dass seine „guten Freunde“ so schnell ins gegnerische Lager gewechselt waren, machte ihm zu schaffen. Wie fast jeder Mensch suchte Opa Paul erst mal die Schuld bei den anderen. Seine Ansichten über das Ehepaar hörten sich nicht gerade freundlich an.

„Dieser hergelaufene Kerl weiß doch gar nicht, was Arbeit ist. Sitzt nur am Schreibtisch und kommt ausgeruht nach Hause. Kein Wunder, dass er so viel Zeit zum Fotografieren hat. Und seine Frau sollte lieber zuhause die Kinder hüten.“

 

Entsprechend waren Opa Pauls Gefühle, als er erkannte, wer ihm dort auf der Landstraße entgegenkam. Nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, trat er nun etwas fester in die Pedale und blieb absichtlich auf der Mitte der Straße.

„Sieh an, der Herr Schreiber, und heute sogar ohne seine Frau. Er wird wohl auf einer Familienfeier gewesen sein“, murmelte Opa Paul vor sich hin.

Die Männer radelten in einem gemütlichen Tempo auf einander zu und die Entfernung zwischen ihnen verringerte sich immer mehr.

„Er fährt ja immer noch auf der Straßenmitte! Warum macht dieser Kerl denn nicht Platz?“, grummelte Opa Paul.

Die zwei Räder fuhren weiter. Das Tempo wurde schneller. Noch dreißig Meter!

„Ach, so ist das! Dieser unverschämte Bengel will nicht ausweichen“, schnaubte Opa Paul verärgert.

Tief über die Lenkstange gebeugt und starr geradeaus blickend, saßen die zwei Rivalen auf ihren Rädern und beschleunigten. Noch zwanzig Meter!

„Wart’s ab, du Sesselfurzer, dir werde ich es zeigen“, ereiferte sich Opa Paul.

Beide erhoben sich aus ihren Sätteln und traten mit entschlossener Miene in die Pedale. Noch schneller! Noch zehn Meter!

„Ich gebe nicht nach!“, knirschte Opa Paul mit zusammengebissenen Zähne.

Zwei Männer auf zwei Rädern! Noch fünf Meter!

Krach! Bum! Peng!

Es gab einen fürchterlichen Knall, als die Räder aufeinander prallten und die Männer im hohen Bogen auf die Landstraße flogen. Nach ein paar Schrecksekunden rappelten sich Opa Paul und Herr Schreiber mit schmerzverzerrten Gesichtern auf, blickten auf die herumliegenden verbeulten Teile, schauten sich bedeppert an und fingen wie auf Kommando an zu lachen.

Sie reichten sich die Hände und damit fing ihre Freundschaft an.