Neubauer, Ursula

Der Himmelsflieger

Warum muss Mutter mir immer die Freude verderben. Mein Gott, ich bin dreizehn und keine drei Jahre alt. Aber sie behandelt mich wie einen kleinen Jungen. Dabei habe ich mich so sehr auf den „Kram- und Viehmarkt“ gefreut und besonders auf den „Sky Flyer“. Doch Mutter immer mit ihrer übertriebenen Angst. Sie hat wahrhaftig den Chipverkäufer an der Kasse gefragt, ob eine Fahrt mit dem „Sky Flyer“ nicht zu gefährlich für mich sei. Das war mir ja so was von peinlich. Er wollte nur wissen, ob ich schon zwölf sei und Mutter hat genickt. Dann sei doch alles in Ordnung, hat der Mann gesagt und mir zugezwinkert. Er versteht mich!

 

Endlich durfte ich auf den Sitz der Gondel. Natürlich musste mir Mutter noch zurufen, dass ich mich ja festhalten solle. Jeder hat das gehört und mich mitleidig angeschaut. Wie ich das hasse! Wie ich Mutter hasse!

 

Gott sei Dank, jetzt geht’s los! Langsam fahren wir hoch. Ich schaue nach unten. Alles wird kleiner. Alles ist weit weg. Ich sehe Mutter gar nicht mehr. Der Geruch von Bratwurst und Pommes steigt mir in die Nase. Vom Auto Skooter kommt fetzige Musik vermischt mit den alten Schlagern vom Kettenkarussell. Aus einem Lautsprecher ertönt ein kratzendes Geräusch. Eine quäkende Stimme von der Losbude verkündet den Hauptpreis. Die bunten Lichter des Riesenrades von nebenan flimmern. Ah, jetzt dreht sich meine Gondel. Schneller! Ich drehe mich im Kreis. Immer schneller! Der Wind pfeift mir um die Ohren, zerrt an meinen Haaren. Immer schneller! Alles um mich herum verschwimmt. Konturen lösen sich auf. Immer schneller! Ich schwebe im Nirgendwo. Immer schneller! Ich fühle mich leicht und frei. Warum kann es nicht so bleiben?

 

Oh nein, der Himmelsflieger wird langsamer. Gleich wird alles wieder vorbei sein. Ich will aber nicht, dass es aufhört!

 

Was ist das? Der Sicherheitsbügel ist nicht richtig eingerastet. Er lässt sich öffnen! Ganz weit! Ich blicke nach unten in eine wogende Menschenmasse, die näher kommt. Dort werde ich immer der kleine Junge für meine Mutter bleiben. Ich sehe nach oben in einen wolkenlosen, blauen Himmel. Der ist so schön. Da möchte ich sein. Langsam rutsche ich nach vorne, fühle die wärmende Sonne und lasse mich fallen. Schau nur, Mutter, ich fliege, ich fliege in die Freiheit!

 

Der gellende Schrei einer Frau verliert sich im Lärm des Jahrmarktes. Niemand sieht, wie sie mit ihren Händen einen Rollstuhl so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. Die Menschen um sie herum starren entsetzt auf den leblosen Körper des Jungen, der vom Himmel fiel.