Hirschmann, Karl G.

Die Klassensprecherin

Franka war die gewählte erste Klassensprecherin der 9a und sie übte dieses Amt mit Begeisterung, Hingabe, aber auch mit viel Fingerspitzengefühl aus. Es war schwierig gegen Christopher anzukommen, der als zweiter Klassensprecher fungierte und die Jungen der Klasse hinter sich wusste. Nur knapp, lediglich mit einer einzigen hauchdünnen Stimme Mehrheit, hatte Franka ihren Widersacher zu Beginn des Schuljahres schlagen können und jedermann in der Klasse fragte sich seitdem insgeheim, wer wohl der „Abtrünnige“ gewesen sein mochte, der Franka seine „Bubenstimme“ gegeben hatte. Zwölf Mädchen und dreizehn Jungen saßen nämlich in der Klasse und jeder wusste, dass einfach alle Mädchen Franka gewählt haben mussten. Christopher war viel zu sehr „Macho“, als dass er auch nur eine einzige Mädchenstimmen hätte erhalten können. Außerdem lästerte er immerzu gegen sie. Nach der Klassensprecherwahl, die allerdings überraschender Weise dreizehn zu zwölf für Franka ausgegangen war, hatte Chris, wie ihn seine Freunde und Mitschüler nannten, innerhalb der Klasse mächtigen Dampf – und somit Druck – aufgebaut, indem er seit diesem Zeitpunkt kontinuierlich behauptet hatte, „...wenn man zusammenhielte, würde man schon noch herausbekommen, wer der dämliche Verräter gewesen war und dann würde hier ein für alle Mal reiner Tisch gemacht werden...“

 

Die Mädchen indessen waren sich ebenfalls nicht schlüssig, wer es denn gewesen sein könnte, allerdings mutmaßten sie kichernd, „...dass derjenige bestimmt in Franka verknallt sein müsse und mit ihr gehen wolle...“

 

Franka nahm´s einigermaßen gelassen, weder widersprach sie noch stimmte sie dem zu. Kurzum, es kümmerte sie nicht sichtbar. Sie verrichtete ihren „Job“ als Klassensprecherin recht mutig und souverän alleine, denn ihr Kontrahent ließ von Anfang an keinerlei Anstalten erkennen, dass er mit ihr zusammenarbeiten wollte – und alle Jungen hielten zu ihm.

 

Trotzdem: Einer von denen musste ein „...falsches Spiel spielen...“, so wie sich Christopher und die anderen Jungen äußerten. Nur – wer war es?-

 

Mitte September holte die Klassensprecherin in irgendeiner Vorviertelstunde, auf Herrn Wenzels Wunsch hin, die Wünsche der Klasse bezüglich des Wandertages ein .

 

„Mir egal, wo ihr hinfahren wollt“, hatte Christopher dabei genervt und sich bei der von Franka initiierten Abstimmung demonstrativ der Stimme enthalten. Es gelang dem taktisch und organisatorisch geschickten Mädchen allerdings tatsächlich mühelos, ihrem Klassenlehrer, Herrn Wenzel, dessen bevorzugtes Reiseziel, nämlich den „Nürnberger Tiergarten“, auszureden und ihm statt dessen den Wunsch der Mehrheit der Klasse, nämlich eine vormittägliche „Shopping-Tour im Langwasser-Einkaufszentrum“, einzupflanzen.-

 

Und dieser „Wandertag“ wurde ein voller Erfolg. Nach der Fahrt mit dem Zug und der U-Bahn ließ Herr Wenzel die Schüler vor Ort in einzelnen Gruppen losziehen und das Einkaufszentrum eigenverantwortlich durchkämmen. Auch den Jungen, selbst Christopher, bereitete dies großen Spaß, wie sie später bekundet hatten, denn sie konnten nach Herzenslust im „Restaurant“ der bekanntesten Fast-Food-Kette schlemmen.

 

Wer weiß, vielleicht war gerade an diesem Tag bereits die Idee der Rache geboren worden?

 

Herr Wenzel war ebenfalls sichtlich zufrieden gewesen, dass es „...keine disziplinären Probleme gegeben hatte...“, so wie er sich am Ende des Tages ausdrückte. Und die Mädchen? Na, die schleppten zahllose Einkaufstaschen von dieser „Shopping-Tour“ nach Hause. Im Zug, der sie zurück nach Eibach, ihrem Schulort, brachte, zeigten und verglichen sie ihre „Schnäppchen“. Die Jungs pfiffen ihnen sogar etwas bewundernd zu. Fast schien es so , als ob ein sanfter, leicht spürbarer Klassengeist durch das Zugabteil – und in die Köpfe der Jugendlichen schwebte.-

 

Nach diesem Wandertag war Frankas Ansehen auch bei den Jungen abrupt gestiegen, sie merkte das an den bewundernden Blicken, die sie ihr heimlich zuwarfen. Nur Christopher verhielt sich ihr gegenüber weiterhin abweisend, das

 

Mädchen blieb Luft für ihn.-

 

Ach ja, und dann beschloss die Klasse, eine Klassenparty im Klassenzimmer zu veranstalten. Außerhalb der Schulzeit – von 17.00 Uhr bis 22.00 Uhr. Herr Wenzel zeigte sich begeistert von der Idee und meinte „...wenn ihr das selber alles organisiert, bin ich selbstverständlich bereit, die Aufsicht zu übernehmen, geht klar, so ´was fördert doch die Klassengemeinschaft zusätzlich...“ Und augenzwinkernd fügte er noch etwas ironisch hinzu: „Vielleicht lässt sich ja unser hochverehrter zweiter Klassensprecher, Christopher Wagner, dann doch endlich herab, mit Franka zusammenzuarbeiten, denn sonst mach´ ich die Party nämlich nicht! Das ist meine einzige Bedingung, die ich stelle. Geht das klar, Christopher, unterstützt du Franka dabei zum Wohle der Klasse?“

 

Alle blickten wie gebannt auf Christopher und was blieb dem schon anderes übrig, als zustimmend zu nicken und damit seine Bereitschaft zu erklären. Sonst hätte er alle, auch die Buben, gegen sich gehabt. Und das wusste Christopher.

 

„Geht klar, Herr Wenzel“, murmelte er und ein erleichtertes Scharren und Raunen ging durch die Klasse.

 

„Ach noch ´was, bitte keine Halloween-Party“, fügte der Lehrer noch schnell hinzu.„Nein, nein“, beruhigte Franka sofort, „wir wollen nur ´ne stinknormale Party mit Musik. Aber tanzen wollen wir schon, Herr Wenzel! OK?“

 

„Na, meinetwegen, also „Bingo“, wann soll sie denn sein, eure Party?“

 

Jetzt schaltete sich Christopher überraschender Weise ein. „Das werden wir schon noch eruieren, Herr Wenzel“, meinte er hochtrabend und etwas herablassend.

 

Herr Wenzel ignorierte den provokanten Tonfall. Offenbar hatte dieser extrem schwierige Schüler Christopher Wagner seine „pädagogische Medizin“ endlich geschluckt. Das Gefühl momentaner Zufriedenheit breitete sich in ihm aus und der Lehrer lächelte leicht. „Bingo“, dachte er etwas voreilig. Etwas zu voreilig.

 

Vielleicht hätte er damals schon einschreiten sollen und … dann wäre alles vielleicht ganz anders gekommen.

 

Vielleicht – vielleicht aber auch nicht.-

 

In der ersten Pause desselben Tages versammelten sich alle Schüler der 9a im Pausenhof um Franka und Christopher, der nun erstaunlich problemlos mit dem Mädchen kooperierte. Rasch war mit Freitag, dem 13. Oktober, ein passender Termin gefunden worden. Nach der Pause teilten die Schüler Herrn Wenzel die Entscheidung der Klasse bezüglich ihres Wunschtermins mit – und er war erneut einverstanden. „Na, wird doch langsam mit eurer Klassengemeinschaft. Man muss nur ein wenig Geduld haben. Und wenigstens ist keiner von euch abergläubisch!“, lachte er nur.

 

Wenn er damals schon gewusst hätte, dass …

 

Die nächste Woche verging wie im Flug. Der Oktober tauschte den September mit Regengüssen gegen die letzte Herbstsonne ein.-

 

Anfang Oktober wurde es plötzlich ernst. Es ging um die Organisation der Party. In der Klasse wurde heftig diskutiert. Monika schlug vor, ein paar Partyspiele mit einzubauen, was unter lautem Gelächter der Buben abgeschmettert wurde.

 

„Willst wohl noch die „Reise nach Jerusalem“ spielen?“, lästerte Paul.

 

Barry setzte noch einen drauf: „Oder „Blinde Kuh“? Könnte ja eigentlich zu dir passen!“

 

Monika wurde knallrot, aber Franka rettete die Situation auf ihre schlagfertige, etwas rustikale Art und Weise. „Barry, an deiner Stelle wäre ich ruhig, weil Kleinkinder wie du gehören entweder in den Hort oder in die Krabbelgruppe. Du bist so ein „Blindes Huhn“, was sage ich da, so ein komplett „Blinder Möchtegern-Hahn“, nur, dass du kein Korn findest, sondern nur Stroh für´s Hirn!“

 

Totenstille.

 

Her Wenzel schnaufte entsetzt. „Aber, Franka...!“

 

Barry schrie sofort zurück: „Das wirst du mir noch büßen, Franka! Das hast du nicht umsonst gesagt! Und so etwas wie dich habe ich auch noch gewählt!“ Er sprang hoch und rannte mit hochrotem Kopf aus dem Klassenzimmer.

 

Totenstille.

 

Die Jungen blickten sich untereinander vielsagend an. Jeder in der Klasse wusste nun Bescheid, jeder hatte verstanden, allein Herr Wenzel zog daraus nicht die richtigen Schlüsse. Die Mädchen schauten abwartend hinüber zu Franka. Wie würde sie reagieren?

 

Lange Pause. Franka blieb regungslos auf ihrem Platz sitzen, senkte den Kopf weit nach vorne und ließ ihre langen, kastanienbraunen Haare nach vorne baumeln, so dass ihr Gesicht mit den funkelnden grünen Augen darin eintauchte, komplett verschwand und dahinter verborgen blieb.

 

Alle warteten sie nun auf Christophers Reaktion.

 

„Geschieht ihm ganz recht, wenn er andere so beleidigt“, meinte dieser endlich lapidar und Herr Wenzel blickte ihn verwundert an, er hatte nämlich geglaubt, der Junge würde bedingungslos hinter Barry stehen und zu ihm halten. Offensichtlich hatte der Lehrer noch immer nicht die Zusammenhänge gecheckt.

 

Herr Wenzel erhob sich schließlich ein wenig schwerfällig stöhnend, schlenderte hinaus auf den Gang, um Barry wieder hereinzuholen, aber … der Junge befand sich nicht auf dem Gang sondern war verschwunden.

 

Der Lehrer wurde vor Aufregung purpurrot im Gesicht und meinte: „Wenn er in zwanzig Minuten nicht wieder da ist, muss ich seine Eltern anrufen!“

 

Und zu Giovanni, Barrys Banknachbarn, gewandt: „Sei so gut und suche ihn im ganzen Schulgebäude! Auch im Schulhof!“

 

„Keine Sorge, ich werd´ ihn schon finden!“, meinte dieser und verschwand.

 

Die Klasse verhielt sich nun erstaunlich ruhig. Die Schüler diskutierten leise in Gruppen über den Vorfall. Herr Wenzel hatte sich etwas beruhigt und ließ sie gewähren: Er registrierte nicht ohne Stolz, dass sich dabei auch die Jungen zu den Mädchen gesellten. Zur Tagesordnung konnte und wollte allerdings keiner übergehen. Auch Herr Wenzel nicht, der nach einiger Zeit doch begann, nervös, ja regelrecht hektisch im Zimmer auf und ab zu laufen, sich dabei die Haare raufte und mit der Hand über´s Kinn strich.

 

Die Zeit verstrich, ohne dass Barry oder Giovanni wieder auftauchten.

 

Nach etwa dreißig Minuten kam jedoch die Entwarnung, die Türe öffnete sich, Barry setzte sich wortlos auf seinen Platz und Giovanni daneben. Und dann „flutschte“ die Organisation der Party irgendwie unter Frankas und Christophers Regie – nur die beiden Banknachbarn, Barry und Giovanni, beteiligten sich nicht daran. Aber Christopher hatte erneut Wort gehalten und seinen versprochenen Part als Klassensprecher abgeleistet.

 

Auch Herr Wenzel war zufrieden, denn keiner hatte das Wort „Alkohol“ auch nur zur Diskussion gestellt. Cola, Spezi und Limonade – so waren die Getränke ausgemacht worden. Zur Selbstversorgung.

 

In der darauffolgenden Woche sah man Christopher und Franka urplötzlich Händchen haltend durch den Schulhof laufen. Alle wussten Bescheid; Christopher hatte offensichtlich seinen „Franka-Boykott“ komplett beigelegt und ins Gegenteil verkehrt. Doch am Vormittag der Party waren sie plötzlich wieder auseinander. Niemand wusste warum und Franka zuckte nur mit den Schultern, als ihre neugierigen Klassenkameradinnen sie darüber ausfragen wollten.

 

„Meine Privatsache“, murmelte sie nur und blickte ein wenig traurig drein.

 

In dieser letzten Pause vor der Party standen alle Jungen zusammen und tuschelten miteinander, klopften sich anerkennend auf die Schultern oder auf die Schenkel, lachten, grinsten und sorgten untereinander für beste Laune. Alle, mit Ausnahme von Barry, den sie wegschickten, sobald er sich ihnen nähern wollte. Auch die Mädchen wurden weggeschickt. Herr Wenzel beobachtete die Szenerie im Pausenhof Stirne runzelnd und etwas missbilligend aus einem geöffneten Fenster im ersten Stock. Er hörte wie die Jungen den Mädchen ein „...wartet´s einfach ab – ist ´ne lustige Überraschung für die Party...“, zuriefen.

 

Irgendetwas missfiel dem Lehrer daran, aber er wusste nicht, was. Überraschungen mochte er ganz und gar nicht, allerdings maß er seiner Beobachtung doch zu wenig Bedeutung bei, als dass er eingeschritten wäre. Der Gong holte ihn zurück zur bitteren Realität: Musik! Boris Ravel! Bolero! Musikinterpretationen!

 

Nach 11.15 Uhr bereitete die 9a ihre Party gemeinsam mit Herrn Wenzel im Klassenzimmer vor. Auch Barry half mit und die Jungen unterhielten sich ganz normal mit ihm. Alles schien cool und easy abzulaufen: Die Stereo-Anlage lief bereits, Tische wurden aus dem Klassenzimmer hinausgetragen, um Platz für die Tanzfläche zu schaffen. Die Getränke standen bereits im hinteren Eck, daneben die Plastikbecher und einige Teller mit Chips, Snacks und Gummibärchen.

 

Dann war endlich Schulschluss und alle gingen nach Hause. Um 17.00 Uhr sollte die Party starten.-

 

Die Mädchen erschienen vollzählig, aber von den Jungen kam nur Barry zur Party. Sonst keiner. Franka tobte und schrie und trommelte mit Fäusten auf den Tischen herum. „Ich bin so ein Vollidiot“, brüllte sie verzerrt, „ich hätte es wissen müssen, von Anfang an wissen müssen!“ Und plötzlich wurde sie ganz ruhig und wandte sich an Barry: „Barry, ich glaube, sie wollen sich alle an dir rächen!“

 

Barry schrie laut auf.

 

Herr Wenzel war entsetzt, als Franka ihm die Zusammenhänge erklärte. Wie ein Puzzle setzte sich nun auch bei ihm alles zusammen. Ein Mosaik an gelungener Täuschung entstand.

 

„Kommt, wir müssen hier raus´! Aufräumen können wir morgen noch!“, rief er, schaltete das Licht aus und verschloss die Zimmertüre. Gemeinsam hasteten sie alle nach unten, rannten hinaus und schauten, ob jemand in der Nähe wäre.

 

Fehlanzeige. Die Luft war rein. Barry blieb weiterhin wortlos.

 

Sie kamen nun an den Fahrradständern vorbei.

 

Barrys neues Mountain-Bike hatte nur mehr Schrottwert.

 

Ein Schild mit der Aufschrift „Verräter werden bestraft“ hing am Lenker.

 

Es war wie symbolisch mit einem Strick dort befestigt worden.

 

Und beim genaueren Hinsehen stand noch ein Satz klein geschrieben auf dem Schild: „Das nächste Mal bist du dran!“

 

Herr Wenzel schaltete sofort per Handy die Polizei ein.

 

Die Sachlage war klar und eindeutig.