Kurzgeschichten-Wettbewerb Hund-Hund-Hund
ISBN 978-3-96753-172-5 - 16,90 € -
erhältlich ab 15.10.2023 im regionalen Buchhandel, Amazon und Verlags-Shop.
ebook-Amazon kindle - auch ab 15.10.2023 - Preis 8,45 €.
Susanne Wondollek
Auf Probe
Überall Erinnerungen: hier sein Lieblingsball, dort seine ‚Burg‘, da Reste seiner speziellen Leckerlis.
In jeder Ecke einzelne grauschwarze Härchen.
Die Lücke, die ein gestorbener Hund hinterlässt, ist so abgrundtief wie die Traurigkeit über den Verlust auch all der Rituale, die viele Jahre den gemeinsamen Alltag bestimmten.
Familienausflüge mit Ball. Das Kuscheln vor dem Fernseher. Der Gute-Nacht-Keks. Spaziergänge, bei Sturm und Regen und während des ‚Tatorts‘ am Sonntag.
Regenbogen und Sternschnuppen, die man nur mit ihm gesehen hat.
Und vieles, vieles mehr.
Allein gehen? Ohne Hund? Zu zweit.
Mein Mann und ich sehen uns an und schütteln den Kopf.
„Lass’ uns ins Tierheim fahren und Hunde ausführen“, schlage ich vor. „Dann tun wir gleich ein gutes Werk.“
Gesagt, getan.
Erstaunt und beeindruckt stellen wir fest, wie viele ehrenamtliche Hundeausführer sich hier mit Liebe und Geduld dem riesigen Kangal, dem stürmischen Terrier und dem unsicheren Mischling annehmen. Selbst gehen wir nacheinander mit mehreren Neuzugängen aus und wollen schon traurig in unser leeres Haus zurück, als uns ein Ehepaar anspricht: „Haben Sie denn schon Volker kennengelernt?“
Nein, hatten wir nicht.
Trotz müder Füße führt uns die Neugier zum letzten Zwinger in Hundehaus 2.
Ein bärengroßes, tapsiges und ungestümes Wesen, mit flatternden Ohren und bis auf die schwarze Maske honigblondem Fell begrüßt uns lautstark und schwanzwedelnd.
Die Pfote lässt erahnen, dass seine Endgröße noch nicht erreicht ist. Die Rasse? Ganz klar: ein Mischling. Woraus? Über seine Vorfahren ist bei ihm als Fundhund nichts bekannt. Also lassen sich nur Vermutungen anstellen.
Malinois ist wohl auf jeden Fall dabei. Labrador aber auch, meint die Tierpflegerin. Kangal sei auch nicht auszuschließen, so ihr Kollege. Und einer der ehrenamtlichen Hundeausführer tippt auf Leonberger. In jedem Fall groß, und, wie sich schnell herausstellen sollte, immer hungrig.
Wie es auch sei: Ein Blick in das Gesicht meines Mannes genügt, um mich wissen zu lassen: Volker war bereits in sein Herz gesprungen.
Und seufzte. Nie hätte ich gedacht, dass unser Hund so früh sterben würde und mir keine Gedanken um einen Nachfolger gemacht. Hätte ich das getan, wäre er deutlich kleiner ausgefallen.
Volker ist riesig.
Und noch nicht ausgewachsen.
Ich mit 1,61m dagegen schon.
Ich schaue in Volkers Augen und sehe schwarz.
Nach langen Gesprächen und mehreren Besuchen und Gassigängen lasse ich mich dennoch darauf ein: Er darf mit zu uns – aber erst mal zur Probe.
Die ersten Tage mit Volker machen schnell klar: Wo und bei wem er immer auch vorher war: Erziehung war dort nicht angesagt.
Sitz, Platz, Bleib sind für Volker Fremdworte. Unbekümmert springt er an jedem hoch und gern auch in empfindliche Weichteile. Dabei hinterlässt er kleine, mittlere und auch größere blaue Flecken.
Meine Frühjahrsdekoration hält er für Leckerli und knabbert allen Keramikfiguren den Kopf ab. Bei Gassigängen zieht Volker zu jedem und allem, will gucken, schnüffeln und gern auch mal anlecken: seien es Spaziergänger, Jogger oder Fahrradfahrer, Kinderwagen, Schubkarre, Abfallsack, Besen oder Heckenschere. Alles muss inspiziert, alle und alles gecheckt werden.
Auf „Aus“ und „Nein“ reagiert er durchaus interessiert, schaut mit funkelnden schwarzen Augen hoch – und macht weiter, was er auch immer gerade gemacht hat: Pferdeäpfel fressen, Krümel vom Boden lecken oder an der Leine ziehen.
Wiesen und Felder der Umgebung hält er akribisch sauber und verrichtet sein Geschäft nach Rückkehr von den Spaziergängen – in unserem Garten.
‚Probe‘, denke ich, ‚auf Probe‘ und schaue Volker streng an.
Seine Augen sind dunkel und undurchdringlich.
Der erste Waldspaziergang offenbart: Auch diese Umgebung ist neu für Volker. Laubrascheln, Vogelgezwitscher, das Pochen eines Spechts, das Knacken von Zweigen: Alles findet er überaus faszinierend und aufregend. Besonders die Rehe weit vor uns auf einer Lichtung! Richtungswechsel und Ablenkungsversuche sind vergeblich: Begeistert hopst, springt und zieht Volker in ihre Richtung, und das mit aller Kraft. 30 kg??? Das hatte das Tierheim als Aufnahmegewicht angegeben. Sie müssen sich verguckt haben. Oder die Waage war kaputt. Nur mit äußerster Mühe kann ich ihn halten, während die Rehe fröhlich mehrere Runden um uns drehen.
‚Auf Probe‘, denke ich schweißgebadet, ‚auf Probe‘.
Volkers Augen glitzern wie schwarze Knöpfe.
Der Anblick anderer Hunde versetzt ihn in Tobsuchtsanfälle, die Zwei- wie Vierbeiner völlig verschrecken und sich seinerseits in ein schwanzwedelndes, freundlich schnüffelndes Nichts auflösen, sobald er sich ihnen nähern darf.
Nur: Wer möchte das, wenn er so begrüßt wird?
‚Auf Probe‘, erinnere ich mich, ‚auf Probe‘.
Und spare mir den Blick in seine Augen.
Vier Monate und mehrere Lektionen mit einer Hundetrainerin später: Volker geht bei durchhängender Leine brav bei Fuß – solange er keine Krähen, Tauben, Kühe, Pferde, Schafe, Rehe und andere Hunde sieht.
Wenn auch noch manchmal zeitverzögert, so gehorcht er auf ‚Sitz‘ und ‚Bleib‘ und hat noch einige andere überlebenswichtige Vokabeln dazugelernt.
Trotz seines immer noch leicht hysterischen Begrüßungsverhaltens im angeleinten Zustand hat er viele Hunde- und Menschenfreunde gefunden.
Hoch springt er nur noch, um einem auf den Baum flüchtenden Eichhörnchen näherzukommen.
Zur Erledigung seiner Geschäfte zieht er sich nur noch vereinzelt und im Notfall in den Garten zurück.
Er frisst für sein Leben gern und ist Lichtjahre von seinem (angeblichen) Anfangsgewicht entfernt.
Und es scheint, als wolle er alle Streicheleinheiten nachholen, die er in seinem ersten Lebensjahr versäumt hat.
‚Haben sich eigentlich seine Augen verändert?‘, frage ich mich. ‚Oder liegt das an der Wahrnehmung des Betrachters?‘
Volker schaut mich wissend an. Seine Augen sind nicht schwarz, sondern mahagonifarben mit bernsteinfarbenen Tupfern, die wie warmes Gold glitzern, wenn er sich auf dem Boden liegend ganz nah an mich heranrobbt, um gekrault zu werden.
Noch immer muss er ganz, ganz viel lernen.
Auch wird er uns sicher noch die eine oder andere Überraschung bereiten und vor etliche Herausforderungen stellen.
Trotzdem: Die Probe ist beendet. Volker bleibt.
Und ist auf dem besten Weg, zweitbester Hund der Welt zu werden.
Anmerkung: Der Text ist dokumentarisch:
Volker gibt es wirklich. Im Januar 2014 wurde er in einem kleinen Ort am Rand des Deisters im Schneetreiben ausgesetzt und an einem Baum festgebunden.
Dort bellte er sich die Seele aus dem Leib. So wurde man auf ihn aufmerksam.
Er wurde gerettet und ins Tierheim gebracht.
Dort lernten wir ihn kennen und schnell auch lieben.
Volker ist jetzt knapp 8 Jahre alt, und wir möchten nicht einen Tag mit ihm missen. Er mit uns aber auch nicht.
Weggeworfen, ausgesetzt.
Mensch, was hast du uns angetan?
Dieser Artikel erschien in BILD.de