Kurzgeschichten-Wettbewerb Hund-Hund-Hund
ISBN 978-3-96753-172-5 - 16,90 € -
erhältlich ab 15.10.2023 im regionalen Buchhandel, Amazon und Verlags-Shop.
ebook-Amazon kindle - auch ab 15.10.2023 - Preis 8,45 €.
Manuela Bauer
Unvergessener Romeo
Eigentlich bin ich ein Hunde- und Pferdemensch, allerdings mag ich auch die anderen Null-, Zwei-, Vier-, Sechs-, Acht- und Nochmehrbeiner. Die einen natürlich etwas mehr als die anderen. Ich käme nämlich nicht unbedingt auf die Idee, mit einer Schlange oder Vogelspinne zu kuscheln, und Katzen sind mir bis auf ein paar wenige Ausnahmen ebenfalls suspekt. Trotzdem bin ich der Meinung, dass jedes Geschöpf ein Recht auf Leben hat, sogar diejenigen, die für manche nur nichtsnutziges Ungeziefer sind. Eine Spinne totzutreten oder eine Fliege zu erschlagen, nur weil ich mich davon belästigt fühle, kommt für mich nicht infrage. Falls mich solch ein Tier im Haus wirklich einmal stören sollte, dann fange ich es mit Schaufel und Besen oder einem Schraubglas ein, um es nach draußen in die Natur zu entlassen, wofür ich auch schon mal ungläubiges Kopfschütteln ernte.
Vor Jahren kam mir einmal in den Sinn, dass es vielleicht irgendwo in den Weiten des Universums unbekannte Kreaturen gibt, die uns ‚Menschen‘ als kleine Krabbeltiere wahrnehmen, die man ohne mit der Wimper zu zucken zerquetschen könnte, und hoffte, dass, wenn solche Wesen existieren, sie doch bitte tierlieb sein mögen. Diese und ähnliche Gedanken haben mich aufmerksamer und barmherziger gegenüber meiner tierischen Umwelt werden lassen.
Trotz meiner Pferdeliebe habe ich noch nie ein eigenes besessen. Dafür bekam ich immer wieder die Gelegenheit, die Pferde von anderen Leuten zu versorgen und zu reiten.
Natürlich brannte auch in mir als Kind und Jugendliche der innige Wunsch, ein Pony oder Pferd zu besitzen, doch konnte meine Familie sich das nicht leisten, was im Nachhinein betrachtet sogar gut war. Immerhin gibt es genügend Beispiele von Pferdebesitzern, die nicht ausreichend Zeit und Kraft für ihre Lieblinge finden, wodurch ich letztendlich immer wieder zu meinen Reitbeteiligungen kam.
Bei einem Hund verhält sich das ähnlich, selbst wenn er nicht ganz so anspruchsvoll ist.
Dreizehn Jahre lang, und zwar von meinem Teenager- bis zum Erwachsenenalter, gehörte Quentie, unsere Colliehündin, zur Familie. Als sie dann krank wurde, stellte sich heraus, wie viel Geld und Zeit es kosten kann, wenn man gut für sein Tier sorgen möchte. Etwa ein halbes Jahr lang haben mein damals noch zukünftiger Ehemann und ich uns um sie gekümmert, und zwar bis zu ihrem erlösenden Tod.
Damals ist mir bewusst geworden, dass man sich nicht einfach mal so aus einer Laune heraus ein Tier anschaffen sollte, wenn man nicht bereit ist, sich sein ganzes Leben seiner anzunehmen. Ebenso leuchtete mir im Lauf der Zeit ein, dass mir meine täglichen Verpflichtungen, zuerst der Beruf, später zusätzlich Kind, Kegel und Haus nicht genügend Energie für einen Hund übrigließen.
Deshalb lehnte ich den Wunsch meiner Familie, einen neuen Hund zu kaufen, entschieden ab, da ich ahnte, dass die meiste Arbeit und Verantwortung an mir hängenbleiben würde. Ein Hund vom Züchter wäre für mich sowieso nicht infrage gekommen. Ich hatte nämlich mitbekommen, dass es leider auch unseriöse Züchter gibt, die ihre Tiere nur als Mittel zum Zweck betrachten, sie unter miserablen Zuständen halten und herzlos ausmustern, wenn sie nicht die gewünschten Ergebnisse bringen. Es gibt sogar eine regelrechte Hundemafia, die nicht selten viel zu junge und kranke Welpen mit gefälschten Papieren verkaufen.
Ein Bekannter hatte vor Jahren unbedingt einen reinrassigen Dackelwelpen haben wollen. Da ihm allerdings der offizielle Preis von mehr als tausend Euro zu hoch war, kaufte er einen aus Osteuropa stammenden zum halben Preis auf einem Autobahnrastplatz. Eine Woche später stellte sich heraus, dass der kleine Waldi ungeimpft, krank und außerdem total verstört war. Seine Furcht vor ihm nicht so vertrauten Menschen hat er bis zu seinem Tod nicht mehr loswerden können. Wer weiß, was das arme Hundebaby schon Schlimmes hatte miterleben müssen. Aber das schmutzige Geschäft mit den Tierbabys, egal ob Hund, Katze oder andere Haustiere, boomt noch immer, erst recht seit Corona, da so manch gelangweilter Mensch sich einbildete, zur eigenen Bespaßung ein Tier haben zu müssen. Viele Vermehrer im In- und Ausland witterten das Geschäft und ließen ihre Tiere Junge produzieren, die zwar Abnehmer fanden, nicht wenige von ihnen jedoch irgendwann unbequem wurden und als so genannte Corona-Tiere im Tierheim landeten und Schlimmeres.
Mir fällt das ‚Foto der Schande ein‘, welches ich vor einiger Zeit im Internet entdeckte. Darauf zu sehen war eine Straße, auf der, verteilt bis zum Blickfeldende, tote Hunde lagen. Ich erfuhr, dass dieses Bild vor über vierzig Jahren von einem französischen Fotografen gemacht und in einer Zeitung veröffentlicht worden war, um darauf aufmerksam zu machen, wie verantwortungslos Menschen oft mit ihren Tieren umgehen. Die hundertvierzig Hundeleichen waren nämlich allesamt zur Ferienzeit ausgesetzte Tiere, die eingeschläfert werden mussten, weil es keinen Platz für sie gab.
Mir war also klar, dass, wenn ich irgendwann einmal einem Hund ein Zuhause geben wollte, dann einem armen Hascherl aus einem der überfüllten Tierheime. Doch war mir auch klar, dass solch ein Schritt wohlüberlegt sein muss. Schließlich ist ein Hund nicht irgendein Ding, das man nach Belieben weiterreicht, wenn es nicht mehr passt.
Hunde hängen an ihren Menschen, bauen eine Bindung zu ihrem Ersatzrudel auf. Immerhin leben sie schon seit vielen Jahrtausenden mit den Zweibeinern zusammen, und das hat laut Forschern ihre Gene verändert, sie zu Menschenfreunden, ja sogar zu Menschenverstehern gemacht.
Damals war ich noch nicht bereit für die zusätzlichen Aufgaben, die solch ein neues Familienmitglied unweigerlich mit sich bringen würde. Diese Bereitschaft kam erst ein paar Jahre später. Zu jener Zeit gingen wir mehr oder weniger regelmäßig zum fünfzehn Kilometer entfernt gelegenen Tierheim, um mit den Hunden Gassi zu gehen. Die Idee kam mir, als wir zum Tag der offenen Tür dort waren und ich bestürzt feststellte, wie viele Fellnasen es gab, die aus allen möglichen Gründen ihr Zuhause verloren hatten. Im Laufe der Monate lernte ich die verschiedensten Hunde kennen. Von Anka, die mit Vorliebe nach Mäusen buddelte bis zu Zorro, der es immer unheimlich eilig hatte und einen durch die Gegend zog. An die so genannten Problemhunde traute ich mich allerdings nicht heran. Dazu fehlten mir eindeutig die Erfahrung und der Mut.
Und dann kam der Tag, als Romeo und Julia ins Tierheim einzogen. Die Namen hatten sie vom Tierheimteam erhalten, denn, wie mir Herr Lang, der Heimleiter, erzählte, fand man Julia an einer Parkplatzbank angebunden, und Romeo war tagelang in der Nähe eines Dorfes herumgestreunt, bevor Anwohner das Tierheim verständigten und man ihn einfing. Es waren demnach keine Besitzer weit und breit, die hätten sagen können, wie die echten Namen der beiden lauteten. Julia war eine relativ junge Border-Collie-Hündin von höchstens zwei Jahren und Romeo eine schätzungsweise zehnjährige Promenadenmischung mit schwarzem Wuschelfell, vielleicht eine Mischung aus Schipperke und Mudi oder auch etwas ganz anderem.
Julia war also definitiv ausgesetzt worden, und ich fragte mich, wie man so etwas übers Herz bringen konnte.
Der Deutsche Tierschutzbund hatte einmal hochgerechnet, wie viele Tiere jährlich im Tierheim landen, nämlich ungefähr 350.000, und dies allein in Deutschland.
Die Gründe für das Abgeben sind vielfältig. Von Tierhaarallergie über zu hohe Kosten und Zeitmangel bis hin zu Umzug, Nichtzurechtkommen, Krankheit und Tod der Besitzer ist alles vertreten. Jedoch weiß man beim größten Teil der im Tierheim gestrandeten Tiere nicht, warum die Besitzer sie nicht mehr haben wollen, da sie einfach ausgesetzt werden.
Bei Romeo war man sich noch nicht sicher, ob er vielleicht entlaufen war, weshalb man im Internet und der Tageszeitung eine Fundmeldung mit Foto veröffentlichte.
Zuerst war Romeo dran mit Gassigehen. Er machte auf mich einen ziemlich gleichgültigen Eindruck, war weder ängstlich und misstrauisch, noch freundlich und fröhlich.
Wie ein Uhrwerk trippelte er vor uns her, zog kein bisschen an der Leine und schnüffelte kaum in der Gegend herum. Wenn wir ihn zu uns herriefen, gehorchte er zwar zögerlich, doch zeigte er kaum eine freudige Regung, wenn wir ihn streichelten. Es krampfte mir das Herz zusammen, als ich darüber nachdachte, wie enttäuscht der nicht besonders große schwarze Rüde mit der schon ergrauten Schnauze und dem linken Hängeohr von den Menschen sein musste. Wie lange er wohl herumgeirrt war, bevor man ihn ins Tierheim brachte? Was waren seine Vorbesitzer überhaupt für Menschen? Wenn sie ihn wirklich ausgesetzt hatten, dann in meinen Augen Herzlose. Wahrscheinlich waren sie extra weit gefahren, um zu unterbinden, dass er wieder nach Hause finden konnte.
Julia war das genaue Gegenteil von Romeo. Sie war fidel, ein wenig ungestüm und den Menschen zugetan. Nur, wenn uns andere Hunde mit ihren Gassigängern entgegenkamen, wollte sie auf ihre Rivalen losgehen, egal, ob diese groß, klein, männlich oder weiblich waren. Diese Macke machte sie allerdings mit ihrer liebenswürdigen Art uns gegenüber wieder wett.
Es dauerte keine halbe Stunde, da hatte ich mich in dieses Hundemädchen mit seinem hellbraun, weiß gemusterten Fell und den wachen bernsteinfarbenen Augen verliebt, und im Laufe der Tage wuchs in mir tatsächlich der Wunsch, sie mit nach Hause zu nehmen.
Als ich meinem Mann von meinen Überlegungen erzählte, reagierte er nicht so begeistert, wie erhofft. Doch nicht, weil er keine Hunde mochte, im Gegenteil, sondern weil er fand, dass ich mit einem Border Collie, der rassebedingt sowohl körperlich als auch geistig ausgelastet sein möchte, vermutlich völlig überfordert sein würde. Einerseits fühlte ich mich gekränkt, weil mein Mann mir nicht zutraute, mit einem etwas aufgeweckteren Hund zurechtzukommen, andererseits sah ich ein, dass ich nicht gerade zu den übermäßig belastbaren und konsequenten Menschen gehörte. Dass ein Hund wegen meiner Schwächen nicht richtig behandelt und dadurch unglücklich werden könnte, wollte ich auf keinen Fall. Immerhin würde hauptsächlich ich diejenige sein, die sich um ihn kümmerte. Mein Mann fand aber, dass Romeo, der ursprünglich einmal vielleicht Nero oder Blacky geheißen haben mochte, gut zu uns passen könnte, denn seiner Einschätzung nach war er ein unkompliziertes Kerlchen.
Wie recht er damit hatte, konnten wir erleben, als er drei Wochen später zu uns umzog, jedoch unter dem Vorbehalt, dass sein Vorbesitzer noch fünf Monate Anrecht auf ihn hatte. Ein Tier gilt laut Gesetz nämlich als Sache.
Ein gefundenes Tier ist also eine Fundsache, und der Anspruch seines Vorbesitzers erlischt, wie bei verlorenen Gegenständen auch, erst nach sechs Monaten. Herr Lang war sich allerdings ziemlich sicher, dass sich niemand melden würde, wahrscheinlich, weil es in solchen Fällen meistens so war.
Dass Romeo, dessen Namen wir beibehalten wollten, wie selbstverständlich in unser Auto sprang, als wir ihn an diesem wechselhaften Mittwochnachmittag Ende März abholten, ließ mich staunen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er zögerlich oder zumindest verwundert reagieren würde, wenn er mit uns mitkommen sollte, doch nein, es schien die natürlichste Sache der Welt für ihn zu sein.
Zwei Tage später nahmen wir uns vor, ihn zu baden, da er fürchterlich stank, und rechneten damit, dass dies ein Mordsunterfangen werden würde. Unsere Familien hatten nämlich bisher nur wasserscheue Hunde gehabt, bei denen die Fellpflege mit Hilfe von Wasser schon eher einem Ringkampf als einer Waschung glich und wonach die Zweibeiner meist genauso nass wie die Vierbeiner waren. Wieder weit gefehlt. Romeo gehörte zwar ebenfalls nicht zu den Wasserratten, fühlte sich ganz offensichtlich alles andere als wohl in der Badewanne, denn er stand zitternd und mit eingeklemmtem Schwanz da, doch ließ er die Prozedur brav und ohne Fluchtversuche über sich ergehen. Dafür flippte er nach dem Abtrocknen regelrecht aus, wälzte und schmierte sich wie wild geworden am Boden entlang und raste durch die Gegend, so dass wir uns krümmten vor Lachen.
Ich war wirklich froh, dass sich Romeo bei uns wohlfühlte, und weil ich ahnte, dass er mir nicht weglaufen würde, ließ ich ihn beim Gassigehen schon nach drei Tagen von der Leine. Später kam es zugegebenermaßen ab und an mal vor, dass er für fünf Minuten im Unterholz verschwand, doch er gehorchte, wenn ich ihn zu mir rief, zumindest spätestens nach dem zehnten Rufen.
Eines Tages traf ich den Förster der Gegend und rechnete mit Schelte von ihm. Einer der Jäger hatte mich nämlich ein paar Tage zuvor zusammengestaucht, weil ich meinen Hund frei herumlaufen ließ, wodurch seiner Aussage nach die Wildtiere gestört wurden. Als ich den Waldhüter fragte, ob dies tatsächlich ein Problem darstelle, verneinte er dies und meinte, er habe bereits mitbekommen, welch tollen und braven Hund ich habe, was mich unheimlich stolz machte.
Zu erleben, wie sehr sich mein Wuschelpuschel, wie ich Romeo manchmal nannte, jedes Mal freute, wenn ich von der Arbeit oder sonst einer Besorgung nach Hause kam, freute mich mindestens ebenso. Laut meiner Familie lag er während meiner Abwesenheit meistens im Flur, um beharrlich auf meine Rückkehr zu warten. Und wenn ich dann die Haustür öffnete, war seine Freude riesig. Er jaulte, wedelte um mich herum und ließ sich in meine Hände hinein auf den Rücken plumpsen, um gestreichelt zu werden. Auch wenn er mir gegenüber aufgeschlossen war, verhielt er sich dennoch anderen Menschen gegenüber abweisend. Zwar nicht, indem er sie angiftete, sondern indem er sie ganz offen ignorierte. Nur der engste Kreis der Familie wurde gemocht, die anderen Leute waren ihm reichlich egal.
Im Laufe der Zeit fiel uns auf, dass Romeo Angst vor Queues hatte. In unserem Aufenthaltsraum stand nämlich ein Billardtisch, und wenn mein Mann daran spielte, bellte er wie verrückt, wenn er in der Nähe war. Wenn ich hingegen zum Saubermachen den Besen schwang, ließ ihn das völlig kalt. Also vermuteten wir, dass er von einem Mann mit einem langen Gegenstand geschlagen worden sein musste.
Und dann kam der Tag, als Romeo krank wurde. Er konnte nicht mehr pinkeln, war antriebslos und hatte Schmerzen. Die Diagnose war fürchterlich: Ein riesiger Tumor hatte von seinem Unterleib Besitz ergriffen.
Auf die Frage, was man dagegen tun könne, kam die ernüchternde Antwort, dass eine Behandlung aussichtslos sei. Mein Herz schlug bis zum Hals, denn ich wusste, was dies bedeutete. Auch wenn mir der Abschied das Herz zerreißen würde, wollte ich meinen kleinen Freund nicht länger als nötig leiden lassen. ‚Ich werde dich nie vergessen‘, waren meine letzten Worte an ihn, bevor er für immer einschlief.
Inzwischen sind einige Jahre vergangen und viel ist seitdem passiert.
Doch bin ich heute noch darüber froh und dankbar, dass ich diesem liebenswürdigen alten Hund zumindest für dieses Dreivierteljahr ein wenig Glück und Geborgenheit schenken durfte