Jeden Tag in der Vorweihnachtszeit (1. bis 24.12.2023)
veröffentlichen wir hier auf dieser Homepage und bei Facebook eine Weihnachtsgeschichte.
Die nachfolgende Geschichte wurde anlässlich eines Kurzgeschichten-Wettbewerbs des NOEL-Verlages im Jahr 2019 im Siegerbuch veröffentlicht.
Frohe Weihnachten!
Gitte Hedderich
Wie jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit steht Silke am Herd in der Küche, um das Festmenü vorzubereiten, und wie jedes Jahr setzt ihr das Gewissen zu. Wie soll sie nur allen gerecht werden? Die Situation ist schwierig und sie sitzt zwischen allen Stühlen.
Da ist als erstes ihr Bruder. Kurz schweifen ihre Gedanken in die Vergangenheit. So kennt ihn niemand von ihren Kindern, den zärtlich besorgten großen Bruder, mit dem sie so trauliche Weihnachtsfeste in ihrer beider Elternhaus verlebt hat. Ihre Kinder kennen nur den gestrauchelten Onkel Jürgen, warum er so wurde wie er nun lebt, das hat sie ihnen zwar erzählt, aber wirklich begreifen können sie es nicht. Nina war ja erst fünf, als es passierte, und Marc acht Jahre alt. Sie konnten sich kaum mehr an Tante Moni, Jürgens Frau erinnern. Sie allerdings hatte das Drama hautnah miterlebt. Wie hatten sie sich damals auf das Kind gefreut, das die kleine Familie komplett machen sollte. Moni hatte von Anfang an Angst gehabt. Sie hatte sie getröstet so gut sie konnte. Sieh mal, hatte sie gesagt, ich habe zwei Kinder und alles ist gut gegangen. Millionen von Frauen bekommen Kinder, warum sollte bei dir etwas schiefgehen. Dann kam der verzweifelte Anruf von Jürgen.
Sie hatte ihn kaum verstehen können und war in die Klinik gerast. Zu spät, Monis Angst hatte sie nicht betrogen. Eine Fehlgeburt hatte sie erlitten. Die Ärzte hatten gekämpft, aber verloren. Nicht mal das Kind wurde gerettet, beide starben und Jürgen war allein.
Damals war sie selbst so eingespannt gewesen, dass sie es zuerst überhaupt nicht mitbekommen hatte wie ihr Bruder abstürzte. Sie hatte ihren jungen Haushalt, zwei kleine Kinder und einen Mann. Das alles nahm sie gefangen. Sie telefonierte mit Jürgen und versuchte ihn zu trösten, aber das reichte eben nicht. Erst viel zu spät bekam sie mit, dass er am Morgen einfach nicht mehr aufstand.
Wozu fragte er sich. Er ging nicht mehr zur Arbeit und es kam wie es kommen musste, er wurde gekündigt. Wenig später dann kamen die Geldsorgen dazu, er konnte seine Miete nicht mehr bezahlen, es dauerte ein knappes Jahr, da lag sein Leben in Scherben und er wurde obdachlos.
Zehn Jahre waren nun vergangen, aber immer um die Weihnachtszeit wurde das alles wieder lebendig, als sei es gerade erst geschehen.
Marc war nun schon achtzehn Jahre alt und bereits ein junger Mann. Sie machte sich Sorgen um ihn. Längst schon erzählte er ihr nicht mehr, was ihn beschäftigte, und manche seiner Äußerungen klangen so radikal. Natürlich dachte die Jugend immer, sie könne die Welt ändern, trotzdem alles rechtfertigte das nicht. Wie er den Onkel manchmal ansah, so voller Verachtung, oder war es gar Hass? Warum hatte er so gar kein Verständnis für ihn?
Aber hatte sie es denn? Warum stand sie nicht zu ihm? Warum lud sie ihn nicht mit der Verwandtschaft zusammen ein? Allem zum Trotz? Das würde ihm viel bedeuten, wenn sie daran dachte wie er immer geweint hatte, wenn Marc früher ein Weihnachtsgedicht für ihn aufgesagt hatte, dann wurde die Vergangenheit wieder lebendig und er merkte so recht, was er verloren hatte.
Feige war sie, gestand sie sich ein. Feige und egoistisch. Sie wollte ein Fest ohne Konflikte und die brachte Jürgen nun mal zwangsläufig mit. Auch wenn man ihn baden ließ und ihm einen Anzug anzog, das Leben auf der Straße hatte ihn geprägt. Dort gibt es keine Etikette, dort wischte man die Nase mit dem Ärmel ab und aß meist mit den Fingern.
Ihr Ninchen war da das komplette Gegenteil, ein Seelchen. Immer bat sie Onkel Jürgen zu bleiben, doch brachte ihr das nur böse Blicke ihres Bruders ein.
Sie hatte oft Tränen in den Augen, wenn sie sah, wie der nun alte Mann sein Essen hungrig hinunterschlang und dann wieder lostippelte.
Silke sah seufzend auf die Uhr. Nun war es fast soweit. Heiligabend und fast Mittag. Um zwölf würde Jürgen kommen. Das war Tradition, bei ihnen zu Hause hatte man immer um zwölf gegessen. Marc und Nina waren schon daheim, sie hatten an diesem Tage früher schulfrei.
Marc saß brütend in seinem Zimmer. Wieder mal Heilig Abend. Gleich würde es schellen und Onkel Jürgen kam, um sich durchzufressen. Er verachtete solche Menschen aus tiefster Seele. Wenn die Nachbarn nun mitbekamen, dass sie ‚solchen‘ Besuch bekamen. Weihnachten hin oder her, wer Essen will, soll dafür arbeiten. Ihm schenkte schließlich auch niemand was, er musste Tag für Tag aufstehen und zur Schule gehen, aber nächstes Jahr hatte er sein Abi in der Tasche. Gut nur, dass die Zeiten vorbei waren, an denen er für ihn ein Weihnachtsgedicht aufsagen musste, dann hatte er auch noch geflennt, wie ein kleines Kind. Nicht ein bisschen Selbstdisziplin hatte der alte Knabe. Wenn seine Mutter wüsste, dass er mit seinen Kumpels solchen Leuten Lektionen erteilte. Wie flink sie hüpfen konnten, wenn sie sie aufmischten. Dann flogen die Säume der zerschlissenen Mäntel um ihre Hacken. Eilig rafften sie ihr Gerümpel zusammen, um es in Sicherheit zu bringen, wenn sie welche von ihnen mit Tritten und Schlägen vor sich herjagten, war das ein Spaß! Dann zeigten sie ihnen, wer die Herren in diesem Land waren, und was mit solchem Abschaum passierte. Er seufzte, irgendwann, dann saß er in einer Partei und dann würde sich so manches ändern in diesem Land, vorbei mit dem Schmarotzertum. Richtig in Rage war er nun, und da schellte es auch schon. Seine ganze Verachtung legte er in seinen Blick, als er die Türe öffnete und seinen Onkel hineinließ.
Nina rannte an ihm vorbei und begrüßte den Onkel freudestrahlend. Sie nahm, ohne eine Miene zu verziehen, seinen stinkenden Mantel und hängte ihn an die Garderobe.
„Komm nur, das Essen ist gleich soweit“, lud sie ihn ein, „darf ich dir ein Glas Wein einschenken?“
Marc verzog angewidert das Gesicht, aber sein Onkel strahlte. „Gerne mein Kind“, antwortete er.
Dann kam seien Schwester aus der Küche und setzte ihm einen Teller vor, gefüllt mit duftenden Köstlichkeiten.
Gans gab es mit Rotkraut und Klößen.
„Lass es dir schmecken, mein Lieber“, bat sie ihn, nachdem sie ihn begrüßt hatte. Sie war nervös, wie jedes Jahr, und es wurde immer schlimmer seit Marc dieses feindselige Verhalten an den Tag legte.
„Onkel Jürgen, du solltest uns viel öfter besuchen“, regte Nina an und ignorierte den schmerzhaften Tritt, den ihr Bruder ihr unter dem Tisch verpasst hatte.
„Ich halte es hier nicht mehr aus“, verkündet Marc, „hier stinkt es.“
Er nahm seine Mütze und setzte sie auf.
Der Onkel stutzte. ‚Mit Mütze sieht der Junge aus … kann das sein? Kann es Marc sein, der ihn und seinen Freunden letztens so zugesetzt hat? Der Harald eine Ohrfeige verpasst hat, das sein ohnehin schlecht sitzendes Gebiss zerbrach? Der ihn hochgezerrt hatte und ihm einen Tritt verpasste?‘
Marc bemerkte den Blick seines Onkels. ‚Er hat mich erkannt‘, dachte er und war einen Moment lang betroffen. Dann jedoch lächelte er hochmütig.
Nun wusste der alte Narr wie er mit ihm dran war.
Trotzdem war da so ein Gefühl in seinem Magen. Schnell verließ er die Wohnung, aber seinen Gedanken konnte er nicht davonlaufen. Verdammt, er war sentimental, daran war sicher Weihnachten schuld.
Eigentlich hatte Jürgen heute mit seiner Schwester reden wollen. Sie fragen, ob sie ihn unterstützen würde, wenn er wieder versuchte Fuß zu fassen in dieser Gesellschaft. Ob sie ihm zur Seite stehen wolle, wie früher.
Als er allerdings bemerkte, wie bedrückt Silke war, schwieg er. Er würde sie aus dem Obdachlosen-Asyl anrufen. Dann waren die Kinder nicht dabei und sie würden leichter reden können. Er bedankte sich für das fabelhafte Essen.
Nina bat ihn noch zu bleiben, aber er winkte lächelnd ab. „Wenn das Christkind kommt, will ich nicht stören“, meinte er und nahm das Paket, das seine Schwester ihm reichte. „Frohe Weihnachten“, wünschte sie ihm. „Frohe Weihnachten“, entgegnete er und ging.
Es war still geworden in den Straßen. Er fühlte sich nicht so recht, so sehr er auch das gute Essen genossen hatte, sein Magen war es nicht mehr gewohnt und seine Beine fühlten sich schwer an. Er erreichte den Park und setzte sich auf eine Bank, um kurz zu rasten.
Kalt war es geworden. Trotzdem war es anders als sonst. Irgendwie fror er innerlich. Ein sehr großer Mann fesselte seinen Blick. Er war ungewöhnlich gekleidet. Sein Mantel war wie mit einem weißen Pelz bezogen. Er lachte und drehte sich, dabei schleuderte er den Besatz des Mantels von sich. Der setzte sich auf Gras und Wege und ließ sie weiß funkeln. Dabei wuchs dieser Mantelbesatz scheinbar nach. Dann griff er in seinen Bart und zog einige Eiszapfen heraus, die schleuderte er hoch und sie blieben an Bäumen und Dachrinnen hängen.
Die ganze Zeit umsprang ihn ein riesiger weißer Hund. „Wer bist du“, wollte Jürgen wissen?
„Man nennt mich Bruder Frost“, bekam er zur Antwort. „Ich verschönere die Welt und sammle erfrorene Herzen ein. Jedes Jahr erbarmt sich der Herr einigen wenigen Seelen, die an der Kälte der Welt zerbrochen sind, du gehörst dazu, komm mit mir.“ Er reichte Jürgen seine Hand und sah ihn mit gütigen Augen an.
Ohne zu überlegen fasste Jürgen zu und Bruder Frost führte ihn zu seinem Schlitten. Als sie darauf Platz genommen hatten, blickte Jürgen zurück. Er sah einen alten erfrorenen Mann auf der Bank sitzen, aber das störte ihn nicht mehr, sein Herz war erfüllt mit Frieden, als sich der Schlitten in die Wolken erhob.
Silke indes war erleichtert, dass dieses Treffen ohne Komplikationen verlaufen war. Sie feierte mit den Kindern einen stillen Heiligen Abend, bis zu dem Zeitpunkt als die Polizei schellte und sie bat, sie zu begleiten, man habe einen toten Obdachlosen gefunden und man vermutete, es sei ihr Bruder. Die Kinder begleiteten die Mutter, und als sie dann über dem stillen Leichnam ihres Bruders stand, hätte sie am liebsten laut geschrien. Erst wenn wir jemanden verlieren, erkennen wir so recht, was er uns bedeutet hat. Sie begnügte sich damit über das friedliche Gesicht zu streicheln und ihm ein letztes Lebewohl mitzugeben. Nina rannen indes die hellen Tränen über das Gesicht. Marc wurde von den unterschiedlichsten Gefühlen heimgesucht. Nun erst konnte er sein Handeln hinterfragen. Trug er nicht mit Schuld?
Das wurde ein sehr stilles Fest. Die Verwandten kamen zwar, wie in jedem Jahr, zum Festschmaus, aber in diesem Jahr lastete das Geschehen auf allen und sie fragten sich insgeheim: Haben wir recht gehandelt, dass wir ihn ausschlossen, statt ihm zu helfen?
Nach kurzer Zeit verabschiedeten sie sich und es war reichlich übriggeblieben.
„Packst du es mir ein“, bat Nina die Mutter. „Ich will hinausgehen, und wenn ich jemanden finde, der hungert, will ich es ihm geben.“
Die Mutter strich ihr über das Haar und reichte ihr eine Tasche, in die sie auch noch einen Christstollen gepackt hatte.
Als sich Nina auf den Weg machen wollte, kam Marc aus seinem Zimmer. Er trug einen Mantel, eine Mütze und Handschuhe auf seinem Arm. „Nimmst du mich mit?“, bat er seine kleine Schwester. „Sie sollen nicht nur keinen Hunger leiden, sie sollen auch nicht frieren.“
Silke musste sich rumdrehen, denn Marc sollte nicht sehen, dass ihr die Tränen in die Augen geschossen waren.
Ihre Kinder.
Nun konnte sie stolz auf sie sein. Sicher konnte Jürgen das Weihnachtswunder auch sehen von dort, wo er nun war.