Jeden Tag in der Vorweihnachtszeit (1. bis 24.12.2023)

veröffentlichen wir hier auf dieser Homepage und bei Facebook eine Weihnachtsgeschichte.

 

Die nachfolgende Geschichte wurde anlässlich eines Kurzgeschichten-Wettbewerbs des NOEL-Verlages im Jahr 2019 im Siegerbuch veröffentlicht.

 

Hugo Silberschuppe

 

Dr. Erika Hemmersbach

 

Fröhlich vor sich hin pfeifend eilte Marcus die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Während er zwei Stufen auf einmal nahm, klatschte eine Einkaufstüte leise glucksend gegen seine Beine. In der Tüte bewegte sich etwas protestierend. Marcus achtete nicht darauf. Er war überglücklich, dass er einen der letzten Karpfen erworben hatte.

Es war der 23. Dezember und der Fischhändler war fast ausverkauft gewesen. Nur drei riesige Karpfen schwammen noch in dem Becken. Marcus hatte schlucken müssen, als er den verlangten Preis hörte, den Karpfen hatte er aber dann doch genommen.

Mühsam hatten Marie und er von seinem bescheidenen Volo­ntärs-Gehalt Rücklagen für Weihnachten gemacht.

Der Fisch riss ein riesiges Loch in ihr Budget. Dann musste es eben nur eine Flasche Wein zum Essen geben und nicht mehr.

Marie suchte einen Job als Kindergärtnerin, hatte aber nach ihrem Umzug in die Kleinstadt noch nichts finden können. Die Stadtverwaltung sparte und es wurde nur selten eine Stelle ausgeschrieben. Die neue Wohnung war teuer und es blieb kaum Geld übrig für Extraausgaben. Wenn beide Ehe­leute verdienen würden, wäre ihr Geldbeutel auch nicht mehr so schmal und Marcus hätte ohne Bedenken den Fisch kaufen können.

Während Marcus die Wohnungstür aufschloss, pfiff er laut und falsch: „Morgen kommt der Weihnachtsmann.“

Morgen würden Marcus’ Eltern zum festlichen Heilig­abend-Essen zu Besuch kommen. Es war das erste gemein­same Weihnachtsfest des jungen Paares, und Marcus wollte seinen Eltern, die seine Eheschließung mit der unver­mögen­den Marie heftig kritisiert hatten, zeigen, wie gut es ihnen ging.

Marie schaute aus der Küche heraus. Ihre Wangen waren gerötet und ihr stand der Schweiß auf der Stirn. Marcus fand sie unwiderstehlich süß aussehend mit ihren verstrub­belten kurzen Haaren, die wirr nach allen Seiten abstanden. Schnell schloss er sie in die Arme und gab ihr einen innigen Kuss. Sie schmiegte sich an ihn und für eine Zeit lang vergaßen sie alles um sich herum. Dann löste sie sich von ihm und strahlte: „Den Nachtisch habe ich schon fertig und das Huhn für die Suppe ist auch ausgekocht. Du kannst gleich etwas probieren, wenn du magst. Hast du noch einen Fisch bekommen?“

Als Marcus nickte, fügte Marie hinzu: „Ich habe im Internet ein tolles Rezept für Karpfen blau herausgesucht. Leg ihn doch bitte gleich in den Kühlschrank!“

„Wieso Kühlschrank?“, antwortete Marcus ganz erstaunt.

„Ich werde ihn in die Badewanne setzen. Dann kannst du ihn morgen ganz frisch schlachten und zubereiten.“

Marie fuhr entsetzt zurück. Ihr verschlug es die Sprache. Mit zitternden Fingern zeigte sie auf den Beutel, in dem es plät­scherte und gluckerte.

„W…w… wie bitte?“, stotterte sie schließlich. „Der Fisch lebt doch nicht etwa noch?“

Marcus drückte ihr den Beutel in die Hand, schlenderte ins Wohnzimmer, streckte auf seinem Lieblingssessel lässig die Beine aus, nahm die Fernbedienung in die Hand und fing an, durch die TV-Kanäle zu zappen. Marie folgte ihm mit dem Fischbeutel in ihrer ausgestreckten Hand.

„Was soll ich damit? Ich töte doch keinen Fisch! Dir zu­liebe koche ich das Festessen für deine Eltern. Aber einen Fisch schlachten! Ich kann das nicht und ich will das auch nicht!“

Ihre Stimme steigerte sich zu einem hohen Diskant und ihr standen Tränen in den Augen. Wütend starrte sie Marcus an, der sich ungerührt ein Bier einschenkte und nur mit „Mmmm“, antwortete.

„Marcus!“

Er trank einen Schluck und wischte sich den Schaum von den Lippen. „Ich weiß nicht, was du willst, Marie! Wir waren uns doch einig, dass wir das traditionelle Weih­nachts­essen die­ses Jahr hier bei uns machen. Und wir haben immer Karpfen gegessen, solange ich zurückdenken kann.“

„Aber doch keinen lebenden Karpfen!“

„Meine Mutter hat immer am Heiligabend den Karpfen frisch zubereitet. Dann schmeckt er am besten. Du willst ihr doch zeigen, dass du eine gute Hausfrau bist, nicht wahr? Also stell dich nicht so an!“

Marie funkelte ihn ärgerlich an. „Dann schlachte du ihn doch morgen früh!“

Entsetzt hob Marcus abwehrend beide Hände. „Nein, nein“, lehnte er eilig ab, „Das kannst du als Frau auf jeden Fall besser. Ich würde den teuren Fisch nur verderben. Komm, lass uns nicht streiten, es ist morgen Weihnachten!“

Nach diesen Worten galt seine ganze Aufmerksamkeit einem Fußballspieler, der den Ball gekonnt durch die Rei­hen der Abwehrspieler schoss.

„Tooor!“, schrie Marcus begeistert. Der Karpfen war ver­gessen.

Marie starrte ihren Mann mit zusammengekniffenen Lippen an, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und knallte die Zimmertür hinter sich zu.

Ratlos starrte sie in den Beutel. Bestimmt bekam der große Karpfen Atemnot in der kleinen Wasserpfütze, die ihn um­gab. Marie ließ Wasser in die Badewanne einlaufen und schüttete den Beutelinhalt hinein. Der Karpfen blieb eine Weile reglos auf dem Wannenboden liegen.

„Oh, bist du schon tot?“, seufzte sie und tupfte mit ge­strecktem Zeigefinger auf seinen Rücken. Der Karpfen ant­wortete mit einem leichten Wedeln seiner Flossen. Unter Maries aufmerksamen Blicken erholte sich der Fisch zu­sehends und schwamm nach einer Weile langsam hin und her, wobei er sein Maul weit öffnete und wieder schloss. Marie betrachtete ihn nachdenklich.

„Du armer Kerl, bist so durchgeschüttelt worden. Be­stimmt hast du Hunger. Ich hole dir ein paar Brotbröck­chen. Die magst du bestimmt. Ich habe schönes, leckeres, weiches Rosinenbrot.“

Der Karpfen sah Marie aus schwarzen Augen an.

„Gleich bin ich zurück“, versprach sie dem Fisch

Marie eilte in die Küche und kam mit einem Schüsselchen voll Brotbröckchen ins Bad zurück. Zu ihrer Freude schluck­te der Karpfen brav die schwimmenden Stückchen hinunter. Marie hielt ihre Hand ins Wasser. Neugierig be­äugte der Fisch die rosigen Finger, schwamm näher heran und ver­suchte mit einem Zuschnappen, ob sie etwas Fress­bares darstellten. Marie lachte und es gelang ihr, mit ihrem Zeige­finger über seinen silbrig schimmernden Rücken zu strei­chen.

„Wie schön du doch bist“, flüsterte sie. „Ich könnte dich niemals töten. Du sollst weiterleben, das verspreche ich dir!“

Später beim gemeinsamen Abendessen fragte Marcus sie nach dem Karpfenrezept, welches sie herausgesucht hatte. Wütend antwortete Marie, dass sie den Karpfen nicht schlach­ten und es deswegen auch keinen Fisch geben würde.

Ein Wort gab das andere und der Abend endete mit dem ersten handfesten Streit des jungen Paares. Nach einer sich anschließenden Phase des eisigen Schweigens zog Marie es vor, im Wohnzimmer auf der Couch zu schlafen. Leise schluchzte sie in ihr Kissen hinein. Sie hatte sich ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest ganz anders vorgestellt.

Auch ihr Frühstück am Morgen des Heiligabends verlief im trotzigen Schweigen. Als sie den Tisch abräumte, murmelte Marie: „Und ich schlachte ihn nicht, dann essen wir eben etwas anderes.“

Marcus sprang auf und suchte in der Küchenschublade he­rum. Schließlich zog er ein großes Messer hervor.

„Wenn du das nicht kannst, dann tue ich es eben. Meine Eltern erwarten, dass wir ihnen frischen Karpfen anbieten. Sonst ist es für sie kein Weihnachten. Wir haben sie einge­laden, dann müssen wir auch die Konsequenzen ziehen.“

Mit einem ‚Niemals!‘-Schrei lief Marie ins Badezimmer und verriegelte von innen die Tür. Als Marcus heftig gegen die Tür klopfte, rief sie ihm zu: „Geh weg! Ich habe dem Fisch versprochen, dass wir ihn nicht schlachten!“

„Was hast du gesagt?“, brüllte Marcus zurück. „Du hast es dem Fisch versprochen? Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“

In den sich nun anschließenden Wortwechsel hinein er­tönte laut und nachdrücklich die Türglocke.

Marie, die leise vor sich hinschluchzend auf dem Bade­wannenrand saß, hörte zu ihrem Schrecken die Stimmen ihrer Schwiegereltern.

„Was ist denn los bei euch?“ dröhnte Vater, „man hört euch schon im Treppenhaus. Ist denn nicht Weihnachten? Und ihr streitet euch? Junge, ich habe einen schönen Cog­nac mitgebracht. Vielleicht solltest du ein Glas mit mir trinken und mir dabei erzählen, was passiert ist.“

Die Männerstimmen entfernten sich und Marie hörte, dass die Wohnzimmertür geschlossen wurde.

Leise Schritte kamen auf die Badezimmertür zu und jemand klopfte zögernd an. „Marie, kann ich dir irgendwie hel­fen?“, fragte ihre Schwiegermutter.

Statt einer Antwort fing Marie an zu weinen. Endlich brachte sie unter Schluchzern hervor: „Marcus hat einen Karpfen für euch gekauft. Er lebt noch und ich soll ihn schlachten, weil ihr nur frischen Fisch zu Weihnachten es­sen wollt.“

Zu ihrer großen Überraschung hörte sie ein unterdrücktes Lachen vor der Badezimmertür.

„Marie, lass mich herein, ich muss dir etwas erzählen.“

Und, als Marie nicht antwortete: „Marcus ist mit Vater im Wohnzimmer. Sie hören uns nicht.“

Leise entriegelte Marie die Tür. Ihre Schwiegermutter schob sich mit einem Lächeln durch die Öffnung und reichte Marie ein Taschentuch. „Warum hast du das nicht vorher gesagt? Dann wäre dir viel Kummer erspart ge­blieben.“

Marie sah die Ältere fragend an. Diese nickte ihr zu und setzte sich auf den Wannenrand. Bewundernd musterte sie den Karpfen, der gierig die letzten Krümel verschlang. Dann fing sie an zu kichern. „Der Fisch sieht aus wie mein alter Mathematiklehrer. Er hieß Hugo. Der hatte auch so ein breites Maul. Sollen wir den Karpfen nicht Hugo nennen?“

„Hä?“, machte Marie verständnislos. Dann betrachtete auch sie ihren schwimmenden Braten und fügte nach einer Weile hinzu. „Hugo Silberschuppe, weil er so schön silbrig glänzt. Aber du wolltest mir etwas sagen?“

Ihre Schwiegermutter lächelte fein. „Ja, weißt du, eigentlich mag ich gar keinen Fisch. Aber Vater wollte unbedingt immer einen Karpfen zu Weihnachten als Festessen haben. Und der Karpfen sollte stets frisch sein.“

Sie kicherte in sich hinein. „Ich bin immer in das Garten­häuschen zum Schlachten gegangen, weil ich kein Blut im Haus haben wollte, habe ich gesagt. Aber, noch niemals habe ich selber einen Fisch geschlachtet. Ich habe ihn immer fertig zubereitet gekauft und niemand hat es bisher bemerkt. Gerne würde ich etwas anderes zu Weihnachten essen, aber Vater zuliebe …“

Sie ließ den Satz mit einem Seufzer ausklingen. „Ich hatte so gehofft, dass ihr mit der alten Tradition brechen wür­det.“

Marie hatte ihr fassungslos zugehört. Schließlich glitt ein Strahlen über ihr Gesicht und sie umarmte ihre Schwie­germutter herzlich.

„Dann sagen wir es doch Vater und Marcus. Marcus macht sich so große Sorgen, dass ihr nicht zufrieden seid. Hurrah, Hugo Silberschuppe soll leben!“

Unbemerkt hatte sich die Badezimmertür wieder geöffnet. Der Vater stand mit verblüfftem Gesicht vor den Frauen und starrte dann in die Badewanne auf den munter schwim­menden Hugo.

„Ich habe eure letzten Worte gehört“, murmelte er. „Also hast du nur mir zuliebe jedes Jahr einen Karpfen zube­reitet? Und das jetzt schon seit dreißig Jahren?“

Als seine Frau bestätigend mit dem Kopf nickte, schloss er sie liebevoll in seine Arme, wobei er prustend anfing zu lachen. „Und ich habe seit dreißig Jahren tapfer jedes Jahr deinen Karpfen gegessen, weil ich glaubte, dass du ihn so gerne magst. Ich mache mir überhaupt nichts aus Fisch, hätte viel lieber Wild gegessen. Siehst du, mein Junge, das ist Liebe! Aber vielleicht hätten wir miteinander einmal reden sollen, meinst du nicht, mein Schatz?“

Marcus schlang seine Arme um Marie.

„Ich glaube, ich habe einiges gelernt dieses Weihnachten. Aber was machen wir jetzt mit Hugo?“

„Setzen wir ihn doch in den großen Weiher im Stadtwald“, schlug Marie vernünftig vor und strahlte ihren Marcus glücklich an.

Gesagt, getan. Marie holte einen großen Eimer, weil sie Hugo den Transport in dem kleinen Beutel nicht mehr zu­muten wollte und setzte den Fisch vorsichtig hinein.

Unter fröhlichem Geplauder fuhren alle zum Stadtwald, genossen den Spaziergang durch den winterlichen Park und setzen schließlich den Fisch in dem großen Teich ab. Marie meinte mit Überzeugung:

„Hugo hat mit einer Flosse gewinkt! Er freut sich, dass er bei seinen Artgenossen ist.“

Niemand widersprach ihr.

 

Auf dem Rückweg hielten sie noch in einem Einkaufs­zen­trum an und gemeinsam kauften sie alle Zutaten zu einem schönen Raclette-Essen. Das Gerät schenkten die Eltern den jungen Leuten gleich mit zu Weihnachten.

Am Abend saßen alle satt und zufrieden zusammen im Wohn­zimmer, hörten Weihnachtsmusik und naschten von den Keksen und Weihnachtsschokoladen, während die Ker­zen am Baum den Raum mit einem warmen Licht ver­zauberten. Schließlich lehnte sich Mutter an Vater, sah das junge Paar dankbar an und meinte: „Das war das schönste Weihnachtsfest, das ich jemals hatte.“