Jeden Tag in der Vorweihnachtszeit (1. bis 24.12.2023)

 veröffentlichen wir hier auf dieser Homepage und bei Facebook eine Weihnachtsgeschichte.

 

Die nachfolgende Geschichte wurde anlässlich eines Kurzgeschichten-Wettbewerbs des NOEL-Verlages im Jahr 2019 im Siegerbuch veröffentlicht.

 

Oh Tannenbaum

 

Olaf Lahayne

 

„Es war finster; es goss wie aus Kübeln, und meine Füße waren nass, kalt und glitschig wie zwei Aale in der Aller – zwei tote Aale, dem Geruch nach zu schließen. Wieder ein­mal fragte ich mich, was ich da draußen tat, versteckt zwi­schen den Bäumen, geschützt nur von meinem zer­knautsch­ten Regenmantel und meiner treuen Schrotflinte. Zeit für einen neuen Job, dachte ich mir, ein Job, wo du warm und trocken im Büro sitzt, wo du zu dieser Zeit höchstens raus­gehst, um auf dem Weihnachtmarkt in der Altstadt Glüh­wein zu schlürfen und …“

Teils amüsiert, teils irritiert lauschten die Beamten der Poli­zeiinspektion Celle diesem Monolog; endlich aber un­ter­bricht jemand den Erzähler: „Ja, danke, Herr Marlowsky; schon klar, was Sie meinen. Könnten Sie bitte zur Sache kommen?“

Der Erzähler blickte die Polizistin einen Moment wortlos an. Auf den zweiten Ermittler wirkte der Mann nun noch ver­schnupfter als vorher, und das nicht nur, weil schon wieder ein unübersehbarer Rotz-Tropfen an dessen Nasen­spitze baumelte. Daher beeilte sich der Beamte mit einem Hinweis; schließlich lief die Einvernahme seit über einer Stunde: „Was Frau Kommissar Jäger meint: Würden Sie bitte be­richten, wie der mutmaßliche Diebstahl ablief?“

„Danke, Herr Polizeimeister Thaer! Ich …“

Schon die formelle Ansprache verriet dem dienstjüngeren Ermittler, dass seine Vorgesetzte diese Hilfestellung gar nicht goutiert. Der Erzähler freilich war derart aufgebracht, dass er die Beamtin lautstark unterbrach: „Der mutmaß­liche Diebstahl!? Hör mal, du Jungspund: Vor drei Tagen, da hatte ich noch über tausend Weihnachtsbäume in mei­nen Lagern. Über Tausend, alles edle Nordmann-Tannen! Und vorges­tern früh, da wache ich auf, und alle sind weg. Alle! Meint ihr, die haben Beine bekommen und sind raus­spaziert, um sich ein trockenes Plätzchen zu suchen? Mut­maß­licher Dieb­stahl; von wegen: Der da hat sie geklaut, dieser Christbaum-Mafioso, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!“

Die vierte Person am Tisch sah sich um, als würde sein Gegenüber auf eine Person hinter seinem Rücken deuten. Da er dort aber niemanden entdeckt, nimmt er sodann die Sonnenbrille ab, um seinen Ankläger mit einer Mischung aus Überraschung, gekränkter Ehre und Amüsement anzu­blicken: „Ma, signori, non capito! Ho…“

„Auf Deutsch, bitte! Ihnen ist doch klar, was man Ihnen vorwirft, Herr Pellegrino?“

„Si, Commissaria, scusi! Habe nur … Wie sagt man? Ohne die Worte?“

„Sie sind sprachlos?“

„Esattamente! Die Vorwurf von Herr … Diebstahl, ich? Warum? Habe genug Christbaum, warum stehlen? Lager ist voll; viele gute Baum; viel Attività diese Tage …“

So gelassen sich der Beschuldigte gab, so erregt war sein Ankläger: „Glaub ich dir gern, du Gauner: Aktiv darin, uns ehrliche Händler zu beklauen. So machst du’s seit Jahren, und dann verscherbelst du die Bäume zu Dumping-Preisen. Aber nicht mit mir; nicht dieses Jahr! Ich werde …“

„Commissaria, per favore: Mit was Recht …“

„Meine Herren; das bringt uns doch nicht weiter! Wenn wir also mit der Darstellung des Sachverhaltes fortfahren könn­ten, Herr Marlowsky? Nur die relevanten Fakten, wenn’s geht.“

Der derart Ermahnte atmete mehrmals tief durch, und so­bald sein Blutdruck wieder ein wenig gesunken war, fuhr er in seinem Bericht fort.

 

„Sag, Erich, ist das wirklich nötig? Wenn ich das gewusst hätte … Ich glaube, mein Stiefel ist leck, ich krieg nasse Füße!“

Der Mann hob seinen linken Fuß, wobei er sich gegen den Stamm der Tanne hinter ihm lehnte, dann zog er seinen Gummistiefel aus. Dank Körperfülle, Alter und Dunkelheit zog sich diese Aktion arg in die Länge, erst nach mehreren Minuten hörte man es plätschern, als er das Wasser aus dem Stiefel goss. Dieses Geräusch ging fast unter im pene­tranten Plattern des Regens, dennoch zischte darauf jemand unter der benachbarten Nordmanntanne hervor: „Ver­flucht; nicht so laut!“

„Aber das Wasser …“

„Na und? Mehr als zwanzig, dreißig Zentimeter steigt das nicht. Und nasse Füße, die habe ich seit zwei Stunden. Still jetzt, sonst traut sich das Wild nicht raus. Solltest du als alter Waidmann wissen!“

„Wild? Mensch, Erich: Wir reden hier von Menschen! Ist das wirklich nötig?“

„Wie viele Jahre sind’s jetzt, die du für uns arbeitest, Hans?“

„Mal sehen … acht Jahre für den alten Marlowsky – deinen Vater, meine ich – und jetzt 16 Jahre für dich. Wieso?“

„Wenn du nächstes Jahr dein Jubiläum in unserem Betrieb feiern willst, dann passt du heut besser auf! Letztes Jahr, da haben diese Kerle fünf von unseren Lagern geplündert. Fünf, völlig kahl gefegt! Wir haben echt ordentlich Miese gemacht in dem Jahr, und wenn das dieses Mal wieder passiert … dann ist’s Sense; dann können wir dichtmachen! Und da die Polizei uns nicht helfen mag … Oder willst du nächstes Jahr den Baum für deine Enkel bei Pellegrino kau­fen, diesem Mafioso? Anstatt ihn gratis von mir zu krie­gen, wie alle Kollegen?“

Hans wurde daraufhin noch kleinlauter: „Nein, Chef. Aber das mit der alten Flinte … Mir ist nicht wohl dabei!“

„Warum? Ich hab’ den Jagdschein! Und dass mir hier und jetzt wer aus Versehen vor den Lauf läuft …“

Er musste den Satz nicht beenden: Seit Stunden wurde man von unten und oben befeuchtet. Anfangs schützten noch die bis zu fünf Meter hohen Nordmanntannen, unter wel­chen man auf der Lauer lag, bald aber waren auch diese komplett durchnässt.

Hans versuchte es mit Humor zu nehmen: „Na, wenn die Bäume im Wasser stehen, halten sie wenigstens länger. Sag, hast du etwa das Großlager extra hier auf den Damasch­wiesen gemacht, weil du wusstest, dass die Aller wieder über die Ufer …“

„Still!“, zischte Erich nun. „Da, hörst du das?“

„Schritte …“, wisperte Hans zurück. „Schritte im Wasser, zwei Personen, glaub ich.“

Mit leisem Knacken wurde die Flinte entsichert, dann trat ein breiter, schwarzer Schemen unter der Tanne hervor, und als sich dieser leicht plätschernd auf das andere Plät­schern zubewegte, folgte ihm Hans. Einige Bäume weiter kam des Baumlagers Eingang in Sicht. Dieser empfing eine beschei­dene Beleuchtung von der nächstgelegenen Aller­brücke her; somit konnten die Männer zwei Schemen erspähen. Diese machten sich offenbar an dem Vorhänge-Schloss zu schaf­fen, das die einzige Tür in dem drei Meter hohen, eng­maschigen Stahlgatter versperrte – beziehungs­weise ver­sperrt hatte: Denn schon nach ein, zwei Minuten hörte man die massive Kette durch das Gatter scheppern; gleich darauf öffnete sich die Tür mit einem unwilligen Quietschen.

„Nur zwei?“, wisperte Hans in die Richtung, in welcher er Erichs Ohr vermutete. „Und so klein … die kriegen ja kaum einen Baum hoch!“

„Klappe: Ich will sie auf frischer Tat haben!“

Er und Hans zuckten zurück, als gleich darauf eine Ta­schenlampe angeknipst ward. Deren Lichtkegel schwenkte aber nur flüchtig über das Lager, dann verharrte er gleich neben der Tür auf einer kaum meterhohen Tanne. Sobald der weniger kleine Schemen das Bäumchen angehoben hatte, watete Erich zwei, drei Schritte nach vorne, schaltete mit der Linken seine Lampe an und schwenkte mit der Rechten die Flinte: „Hab ich euch, ihr verfluchten italie­nischen … was …?“

Hier verstummte er, denn was er sah, entsprach so gar nicht seiner Erwartung: Das Bäumchen ruhte in den Armen eines rundlichen, bekopftuchten Mütterchens, und an deren durchnässtem Rockzipfel hing ein sechs-, siebenjähriges Mäd­­chen, dem das Wasser übers Gesicht und durch die strohblonden Strähnen lief.

„Bittä, Herrrr, nicht schießen!“, bettelte nach mehreren Schrecksekunden das Mütterchen mit breitem, slawischem Akzent. „Will nicht … will nur …“

„Meine Christbäume willst du klauen, du …“, erwiderte Erich, doch hatte er merklich Mühe, ein angemessenes Aus­maß an Ärger zu zeigen. „Wer seid denn ihr?“

„Ich glaube nicht, dass das Italiener sind.“

Hans’ Bemerkung erlaubte es Erich, seinen Blutdruck er­neut um einige Punkte steigen zu lassen: „Das seh’ ich auch, du Genie, aber zum Klauen kommen die trotzdem! Stimmt’s, Babuschka?“

Letzteres richtete sich wieder an die mutmaßliche Diebin. Diese hielt immer noch das Bäumchen umklammert: „Bittä, Herrrr … habe nicht Geld für Baum, nur für Maschenka, für einzige Enkelin …“ Damit blickte sie auf das Mädchen. Dieses versteckte sich hinter der Alten und fixierte von dort aus mit großen, feuchten Augen die zwei Männer. Einige Augen-Blicke zögerte Erich noch; dann senkte er knurrend die Flinte: „Du liebe Zeit … haut bloß ab hier, und nehmt das Teil da mit, das werden wir eh nicht los! Sonst ver­scheucht ihr noch …“

Sofort reichte das Mütterchen das Bäumchen an das Mäd­chen weiter, dann stürmte sie mit ausgebreiteten Armen auf den edlen Spender zu: „Dankä, dankä, Herrrrr: Viele Tau­send Dank! Ist für Maschenka erstes Fest mit echte Baum, seit …“

„Schon gut, vergiss es! He, nicht umarmen … oh Mann …“

„Dankä, dankä! Herrrren müssen trrrinken Vvodka zu Dank, ist alles, was ich habe: Ist kalt in Nacht.“

Und ehe sich die beiden Männer dagegen verwehren konn­ten, hatte die Frau schon von sonstwoher ein Fläschchen gezückt und drei Stumpen gefüllt.

„Na, was soll’s“, meinte Erich halb resignierend, halb amü­siert. „Bei dem Wetter … aber nur ein Glas, dann macht ihr gefälligst die Fliege!“

„Ja, Herrrr, soforrrt! Bitte, bitte, trrrinken: Sa sdarowje“

„Prösterchen!“, erwiderte Erich, nachdem er und Hans ihr Gläschen entgegengenommen hatten.

Alle drei leerten ihre Gläser in einem Zug, und anschlie­ßend seufzten sie ebenso synchron auf: „Oh ja, das brauchte ich jetzt!“

Die Frau zwinkerte Hans fröhlich zu: „Ist Rezept von Familie: Sehrrrr speziell, werrrrden sehen!“

Ihr schrilles Kichern vermengte sich mit einem lauten Klat­schen. Hans begriff gerade noch, dass da eben sein Chef umgekippt war; dann ward auch ihm schwarz vor Augen.

„Und dann?“

Der Christbaumhändler blickte die Kommissarin an, als sei diese irgendwie minderbemittelt: „Wie, und dann? Am Mor­­gen, da wachten wir auf, fast ersoffen und halb er­froren, und die einzigen Bäume, die noch im Lager waren, auf denen lagen wir. Sonst alles weg, ratzekahl, vom 5-Meter-Riesen bis zum letzten Tannenzweig. Dieses saubere Pärchen, das sollte gucken, ob die Bahn frei ist – oder sie frei machen.“

„Für wen?“

„Na, für wen schon? Für ihn da, diesen Mafioso!“

Wieder blieb der vierte Mann am Tisch ganz gelassen: „Signori, per favore: Habe ich Pflicht, zu hören diese Sache? Bin ehrliche Imprenditore.“

„Warte nur, du; ich …“

Nun schaltete sich der Polizeimeister wieder in die Diskus­sion ein: „Gibt es irgendein Indiz für eine Verbindung zwi­schen jener Frau und Herrn Pellegrino?“

Wenn möglich, steigerte dies den Blutdruck des Diebstahl­opfers noch weiter: „Indiz!? Glaubst du, die gab mir ihre Visitenkarte? Wer sonst sollte derart dummdreist sein, dass er ein altes Mütterchen mit falschem Akzent vorschickt: Derart dummdreist und feige zugleich?“

Der Italiener seufzte darauf mitleidig, und die Kommissarin blickte gequält drein: „Tja, unsere Kollegen haben den Tatort natürlich gründlich untersucht, aber bei dem Wet­ter … Herr Thaer?“

Der Polizeimeister zückte nun eine ziemlich dünne Akte: „Na ja, wir konnten Spuren eines LKWs am Wiesenrand feststellen. Da es aber die ganze Nacht über geregnet hat … Die Spur verliert sich auf der Wittinger Straße. Fingerab­drücke fanden wir nur auf dem Schloss; die waren aber auch arg verwaschen. Zeugen konnten wir keine finden; nur einige Anwohner haben nachts Motorengeräusche gehört. Das war’s, fürchte ich.“

„Das war’s!? Das ist alles? Und für so was, da zahlen wir Steuern? Mann, macht euch gefälligst auf die Suche nach meinen Bäumen!“

Jetzt begann auch die Kommissarin die Geduld zu ver­lieren: „Was schlagen Sie vor, Herr Marlowsky? Sollen wir nach … nach Weihnachtsbäumen fahnden?“

Sein Kollege blätterte mit kaum verhohlener Ratlosigkeit im Ermittlungsakt: „Zudem ist das jetzt drei Tage her, über­morgen ist Heiliger Abend … die meisten von den Bäumen dürften längst verkauft sein.“

„Selbst wenn wir von Haus zu Haus gehen“, ergänzte dies seine Vorgesetzte. „Wie sollen wir ihre Bäume erkennen? Tanne bleibt Tanne, das muss Ihnen doch klar …“

Triumphierend streckte der Händler seinen rechten Zeige­finger in die Höhe: „Eben nicht!“

„Wie bitte?“

„Eben nicht! Da ich so was ahnte, habe ich vorgesorgt: Dieses Jahr, da haben wir nur Bäume aus spezieller Zucht verkauft: Bäume mit zwei Spitzen! Alle meine Nordmann-Tannen können sie daran erkennen, dass sie oben zwei Spitzen in V-Form haben: Alle, verflucht!“

Den Ermittlern fehlten vorerst die Worte; so setzte der Italiener seine Sonnenbrille auf, um seinen Ankläger mög­lichst cool mustern zu können: „Zwei Spitzen? Che bellezza; mi fa un baffo! Gibt oft bei Tanne.“

„Von wegen, du Schmalspur-Mafioso, so was, das gibt’s nur bei meinen Tannen: Seht euch um!“

„Können Sie das beweisen, Herr Marlowsky?“

Wieder musterte der Händler die Kommissarin arg ver­dattert: „Glaubt ihr, ich denk mir so was aus? Beweisen? Wie denn?“

„Es wäre hilfreich, wenn Sie Fotos hätten“, erklärte der Polizeimeister. „Noch besser: Gutachten, eidesstattliche Er­klä­rungen der Züchter oder ähnliches.“

„Eidesstattliche … verflucht, hier geht es um Christbäume, nicht um ein verdammtes AKW! Wisst ihr was: Vergesst es, vergesst es einfach. Frohes Fest noch!“

Und ehe die beiden Polizisten ihn stoppen konnten, eilte er hinaus.

 

„Ich dachte schon, ich würde meine erste Weihnachtsfeier hier verpassen. Was für eine Geschichte …“

Polizeimeister Thaer schüttelte schmunzelnd den Kopf, ehe er an seinem Glas nippte; gleichzeitig bediente sich auch seine Vorgesetzte aus der spülbeckengroßen Bowle-Schüs­sel. Während sie dann ihren ersten Durst löschte, inspi­zierte sie den Raum: In einer Ecke hatte man drei Tische zu­sammengeschoben, auf dem neben der Schüssel auch allerlei andere Getränke standen. In der zweiten Ecke wartete das Buffet; in der dritten probte die Polizei-Band, und in der vierten schmückten zwei Kolleginnen eine Nordmann-Tanne in Nowitzki-Größe. Gut zwei Dutzend Polizisten in Zivil und Uniform waren schon anwesend, und alle paar Minuten trudelten weitere Teilnehmer ein.

„Protokoll ist aufgenommen, der Rest hat Zeit“, meinte die Kommissarin schließlich. „Hoffe, die Kollegen haben un­ten jetzt eine ruhige Schicht. Letztes Jahr war ich dran, da gab’s nur das Übliche: Prügeleien; Ruhestörungen, bren­nen­de Bäume und so … Weihnachten halt.“

„Ist die Feier immer hier im Haupt-Besprechungsraum?“

„Bis vor drei Jahren waren wir im Sitzungszimmer vom Chef“, erklärte die Kommissarin nach einem weiteren Schluck, und nun schmunzelte auch sie. „Dann gab’s ein Malheur mit dem Rotwein und dem guten Perser vom Chef … Na, hier ist eh mehr Platz, und … he, Vorsicht! 30 Prozent aller Unfälle passieren bei so was, das wisst ihr doch!“

Damit eilte sie ihrer Kollegin zu Hilfe. Diese war beim Versuch, die obersten Äste des Baumes zu schmücken, fast mit der Leiter umgestürzt; mit Müh und Not konnten die Kommissarin und der Polizeimeister dies verhindern. Wäh­rend letzterer die Steighilfe fixierte, half seine Vorgesetzte der leicht zitternden Kollegin dabei, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen: „Lass mich das machen, Bärbel!“

Diese reichte folgsam zwei Weihnachtsengel an die fast einen Kopf größere Kommissarin weiter. Während dann ihr Kollege die Leiter von der anderen Seite her stützte, streckte sich seine Chefin von der obersten Stufe aus weit vor; so konnte sie die zwei Figuren auf ihren Posten sta­tionieren. Der eine ‚Engel‘ war in Grün-Beige gehalten, und die liebevoll gebastelte Mütze verriet, dass ihm die alte Polizei-Uniform auf den Holz-Leib geschneidert war; sein Kollege trug bereits die neue, blaue Gewandung. Letzterer wurde auf die rechte der beiden Tannenspitzen gesetzt, erstere auf die linke, die mit der anderen Spitze einen 45-Grad-Winkel bildete. „Passt! Also, einen so schönen Baum hatten wir noch nie! Wäre doch echt schade drum ge­wesen …“

 

Zur gleichen Zeit betrachteten auch Erich und Hans eine Tanne mit fast identischer Spitze. Noch immer schüttete es, somit schlitterten nur wenige Flaneure über das Kopfstein­pflaster des Großen Plans an den Ständen des Celler Weih­nachtsmarktes entlang. In den Buden war dafür umso mehr los, speziell dort, wo Gebläse, Grill und Glühwein für woh­lige Wärme sorgten. Die zwei Christbaum-Verkäufer konn­ten gerade noch einen Platz am Rand einer Bude ergattern. Während zwei randvolle Glühwein-Becher auf dem Tisch zwischen ihnen dampften, konnten sie durch den Regen-Vorgang das Angebot des Standes gegenüber in Augen­schein nehmen: Dort wurden Lichterketten verkauft, und eine jener bordellmäßig bunt blinkenden Ketten umschlang eine besonders prächtige Nordmanntanne; selbst ihre zwei Spitzen, die ein Victory-Zeichen zu bilden schienen, wur­den mit je einer grün-blau blinkenden Birne behübscht.

 

Hans entging nicht, dass seinem Chef dies nicht entging; dennoch blieben beide vorerst stumm. Schließlich brach der Angestellte das Schweigen: „Wirklich, Chef, ich muss mich wundern: Dass du das so gelassen nimmst … so wie du’s erzählt hast, reißen sich die Bullen nicht gerade ein Bein aus.“

Erich zuckte mit den Schultern: „Habe ich kaum anders erwartet, ganz wie im Vorjahr. Nun ja, weg ist weg …“

Diese Reaktion ermutigte Hans, weiter nachzufragen: „Die wollten Beweise für jenes Merkmal der Bäume? Hätten wir so was denn haben können? Ich glaube … aus unserer Zucht waren die Bäume ja nicht. Stimmt doch, oder? Das waren damals ja auch nicht die üblichen Fahrer aus Däne­mark, die die Bäume brachten; ich hab mich schon ge­wundert. Statt­dessen ein Dutzend Übersee-Container …“

Sein Chef leerte seinen Becher mit einem tiefen Zug und stellte ihn zu sechs anderen leeren Bechern auf den Tisch. Nach einem herzhaften Rülpser grinste er dann seinen Ange­stellten schief an: „Weißt was, Hans? Kann sein, dass mir dieser Mafioso sogar einen Gefallen tat. Fort mit Scha­den …“

„Einen Gefallen? Was meinst du?“

„Na, nach dem Desaster im letzten Jahr, da war unsere Kapitaldecke recht dünn – verflucht dünn! Da konnt’ ich mir die teuren, dänischen Bäume nicht mehr leisten. Statt­dessen nahm ich ein anderes Angebot an. Die Bäume da kommen alle aus den Abukuma-Bergen, die wollten sie dort unbedingt loswerden. Unbedingt, wenn du verstehst, was ich meine. Ob du’s glaubst oder nicht, Hans: Sie haben den ganzen Transport bezahlt und sogar noch was oben drauf­gelegt! Ich hab’ nicht mal Miese gemacht bei der ganzen Sache. Gewinn auch nicht, echt ein Jammer …“

„Abu- Was? Wo ist das denn?“

Sein Chef grinste böse: „Japan; Provinz Fukushima ...“
 

„Also dann: Licht aus!“

Auf das Kommando ihres Chefs hin knipste die Kommis­sarin das Deckenlicht im Besprechungsraum aus. Einen Augenblick war es stockfinster. Dann erstrahlten Dutzende Kerzen am Dienst-Weihnachtsbaum der Celler Polizei, be­grüßt vom „Ah!“ und „Oh!“ aus mehreren Dutzend Kehlen.

Wenig später standen Kommissarin Jäger und Polizei­meister Thaer spekulatiusknabbernd vor dem Baum. Einige Zeit betrachteten sie ihn fast andächtig; dann blickte die Frau zu ihrem Kollegen rüber: „Ist was? Stimmt was nicht?“

„Ach nein“, meinte der Mann mit einer wegwerfenden Ges­te. „Ich dachte nur …“

„Was?“

„Als es vorhin für einen Moment finster war … Ich stand genau hier, und ich dachte, ich sehe den Baum schon leuch­ten. Den ganzen Baum, meine ich, mit einem schwach grün­lichen Schimmer.

„Eine optische Täuschung“, erklärte dies die Kommissarin. „Hast vorher wohl zu lange auf den Baum gestarrt?“

„War wohl so.“

Der Polizist zuckte mit den Schultern, ehe er ein, zwei Schritt von dem Baum zurücktrat und einige Liedzeilen murmelte: „Du strahlst nicht nur zur Sommerszeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit …