Jeden Tag in der Vorweihnachtszeit (1. bis 24.12.2024)
veröffentlichen wir hier auf dieser Homepage und bei Facebook eine Weihnachtsgeschichte.
Die nachfolgende Geschichte wurde anlässlich eines Kurzgeschichten-Wettbewerbs des NOEL-Verlages im Jahr 2019 im Siegerbuch veröffentlicht.
Der kleine Strohengel
Tabea S. Olhorn und Bianca Röschl
Es war einmal ein kleiner Strohengel, der hing an einem frisch gefällten Tannenbaum. Der Strohengel trug ein weißes Glitzerkleidchen, hatte zarte, goldene Flügelchen und war somit der schönste Engel weit und breit.
Er hing zum ersten Mal an diesem grünen Baum, zusammen mit anderen Engeln, großen und kleinen bunten Glaskugeln, goldenen Sternen, hölzernen Nussknackerchen und vielen, vielen hellglänzenden Lichtern.
Aber aus welchem Grunde der Engel an diesem prächtig geschmückten Baume hing, das wusste er nicht.
Er wusste auch nicht, warum er so dicht an der Wand hing, sodass er die ganze Zeit über auf das braun geblümte Muster einer Stofftapete starren musste.
Wie langweilig das doch war!
Wie aufregend erschienen ihm hingegen die Geschichten der anderen Engelchen und Kugeln, die viel weiter oben hingen und den ganzen Raum im Blickfeld hatten. Die erzählten den neuesten Tratsch und Klatsch über die Hausbewohner, die eifrig dabei waren, den gesamten Raum ebenso festlich zu schmücken, wie den Tannenbaum.
Der kleine Strohengel wurde missmutig. Ihm gefiel sein Platz nicht. Er hatte es satt, nur dekorativ herumzuhängen, ohne sich bewegen zu können. Außerdem wollte er mehr sehen, als nur die braunen Blumenmuster an der Wand. Er versuchte sich zu strecken, sein Köpfchen zu drehen, mit den Flügelchen zu flattern. Doch nichts half. Er konnte seine Position nicht verändern.
Erst jetzt fiel ihm die rote, dicke Glaskugel auf, die neben ihm hing.
„Hallo, du da!“, sprach er die Kugel an, „findest du es nicht langweilig, immer nur so am gleichen Platz herumzuhängen?“
Die dicke, rote Kugel antwortete: „Nein, finde ich gar nicht. Ganz im Gegenteil. Es ist sogar eine ganz besondere Ehre, hier hängen zu dürfen.“
„Eine besondere Ehre?“, fragte der kleine Strohengel erstaunt. „Was soll an diesem eintönigen Herumgehänge eine Ehre sein?“
„Heute ist doch Weihnachten, das schönste Fest des ganzen Jahres“, rief die rote Glaskugel voller Freude aus.
„Weihnachten? Was soll das sein?“, fragte der kleine Strohengel erstaunt. Er hatte noch nie etwas von diesem Weihnachten gehört.
„Weihnachten ist das schönste Fest des Jahres“, antwortete die dicke, rote Glaskugel mit glänzenden Wangen. „Es wird auch das FEST DER LIEBE genannt, weil an diesem Tag ein jeder den anderen beschenkt zur Erinnerung an die Geburt des Christkindleins.“
„Wer ist das Christkindlein?“, wollte der kleine Strohengel neugierig wissen. Er hatte keine Ahnung, wer dieses Kind sein soll und warum man um dessen Geburt solch ein Aufhebens machte.
„Das Christkind ist Jesus Christus, Gottes Sohn, welches vor langer, langer Zeit in einem kleinen Stall zu Bethlehem das Licht der Welt erblickte. Heerscharen von Engeln verkündeten das freudige Ereignis in alle Welt und ein hellstrahlender Stern zeigte drei Weisen aus dem Morgenland den Weg dorthin, um dem göttlichen Kinde zu huldigen. Ebenso besuchten auch zahlreiche Hirten das neugeborene Kind. Das ist Weihnachten und wird jedes Jahr überall auf der ganzen Welt gefeiert.“
Verzückt hörte der kleine Strohengel den Worten der roten Glaskugel zu.
„Es gibt also noch mehr Engel? Solche wie mich?“ Der kleine Strohengel bekam ganz glänzende Augen bei dem Gedanken.
„Natürlich, aus diesem Grunde hängst du hier an diesem Weihnachtsbaum. Weil Engel einst die hohe Geburt verkündet hatten. Deshalb dürfen Engel auf keinem Weihnachtsfest fehlen“, erklärte die rote Glaskugel.
Ein plötzliches Rascheln unter dem Baum unterbrach das Gespräch zwischen den beiden.
Der kleine Strohengel zitterte auf einmal am ganzen Leib. Er bekam Angst und stotterte leise: „Was …, was … ist das?“
Die dicke, rote Kugel lächelte. „Du weißt aber auch gar nichts! Das Christkind ist da und legt die Geschenke unter den Baum.“
„Das Christkind ist da?“, rief der kleine Strohengel aufgeregt aus. „Es ist wirklich da? Verdammt, und ich kann es nicht sehen. Wenn ich weiter oben hängen würde, dann könnte ich den ganzen Raum überblicken. Ich muss weiter hinauf, ich muss nach oben kommen, zur Spitze hin.“
„Wie willst du das anstellen? Du kannst dich nicht bewegen. Keiner von uns kommt von seinem angestammten Platz weg“, bemerkte die dicke, rote Glaskugel.
Der kleine Strohengel überlegte. Stimmt, bewegen konnte er sich nicht. Von alleine käme er gewiss nicht weiter nach oben. Aber er hatte doch eine kräftige Stimme! Vielleicht ließe sich damit etwas bewerkstelligen!
Er nahm all seinen Mut zusammen und rief ganz laut: „Hallo! Hallo Christkind!“
Die dicke, rote Glaskugel wäre vor Schreck beinahe zu Boden gefallen und rief entsetzt zu dem kleinen Strohengel: „Bist du verrückt? Du kannst doch nicht so mir nichts, dir nichts das Christkind ansprechen! Was bildest du dir ein?“
Doch der Strohengel ignorierte die rote Glaskugel und rief abermals nach dem Christkind.
Auf einmal wurde der ganze Tannenbaum in ein hellstrahlendes Licht getaucht und vor dem kleinen Strohengel tauchte das wunderschöne Antlitz eines kleinen Kindes mit goldenen Locken auf, welches neugierig fragte: „Ja mein kleines Engelchen, was kann ich für dich tun?“
Der kleine Strohengel räusperte sich und piepste etwas schüchtern: „Kannst du mich freundlicherweise vielleicht ein Stück weiter nach oben hängen, damit ich mehr sehen kann, als nur diese langweilige Wand hier?“
Das Christkind lächelte. „Wenn es weiter nichts ist, gerne!“
Es nahm den kleinen Strohengel vorsichtig vom Tannenzweig ab und hängte ihn direkt unterhalb der silbernen Tannenspitze wieder auf. Nun konnte der kleine Strohengel den gesamten Raum überblicken.
War das eine Pracht!
Überall hingen bunt geschmückte Tannenzweige mit Lichtlein dran. Goldene Papiersterne zierten die Fenster, bunt bemalte Nussknacker standen stramm auf den Simsen verteilt und auf einem kleinen Tischchen neben dem Kamin thronte eine dreistöckige Holzpyramide mit vielen kleinen Engelchen.
Der kleine Strohengel konnte sich kaum sattsehen an all den wundersamen Dingen.
„Besser so?“, fragte das Christkind.
„Ja“, rief der kleine Strohengel freudestrahlend aus.
Das Christkind wollte dem kleinen Strohengel gerade den Rücken kehren, als diesem noch etwas siedend heiß einfiel.
„Halt“, rief er aus, „kannst du mir noch einen weiteren Gefallen tun, bevor du gehst?“
Das Christkind blickte den kleinen Strohengel überrascht an und fragte: „Was möchtest du denn noch?“
Der kleine Strohengel blickte zu der dicken, roten Kugel herunter und bat: „Kannst du die dicke, rote Glaskugel neben mich hängen, sodass ich hier oben nicht so alleine bin?“
„Das mache ich doch gerne für dich“, sagte das Christkind lachend und hängte die dicke, rote Glaskugel direkt neben den kleinen Strohengel.
„Vielen tausend Dank, liebes Christkind“, entgegnete der kleine Strohengel überglücklich.
Kaum hatte er sein Dankeschön ausgesprochen, war das Christkind auch schon wieder verschwunden. Und mit ihm das hellglänzende Licht.
„Du hättest mich nicht mit hochnehmen müssen“, sagte die dicke, rote Kugel beschämt.
„Doch“, erwiderte der kleine Strohengel beharrlich, „das musste ich. Schließlich ist doch heute Weihnachten und das ist mein Geschenk an dich!“