Weihnachten steht vor der Tür ...

Wir wollen die Zeit bis zum 24. Dezember etwas mit unseren Weihnachtsgeschichten versüßen.

Jeden Tag gibt es eine weitere Geschichte ...

 

Klein-Peter und sein Versprechen an St. Nikolaus

Christian Thomas Stefansen

 

 

Klein-Peter lebte mit seiner Mutter und seinem Vater in einem kleinen Haus, das im Isartal am Rande eines kleinen Dorfes stand. Der fünfjährige blonde Junge war oft böse zu seinen Eltern und sagte zu allem immer erst einmal: „Nein, ich mag nicht!“

Er ärgerte auch oft Minka, die Katze des Nachbarn, und dessen Schäferhund Rolf, vor dem er keine Angst hatte. Klein-Peter wollte morgens nie aufstehen, um in den Kindergarten zu gehen. Dort machte er sich auch bei den Kindern unbeliebt, zog beim Spielen den Mädchen an den Haaren und streckte den Buben die Zunge raus. Sie nannten ihn deswegen ‚den frechen Peter‘.

Klein-Peter war im Kindergarten, als es draußen anfing zu schneien. Er lief ans Fenster, lehnte sich auf das Fensterbrett, und sah den weißen Schneeflocken zu, wie sie im Wind umhertanzten und danach den Boden bedeckten. Nun wusste er, dass es bald Weihnachten war, und freute sich jetzt schon auf seine Weihnachts­geschenke. In Gedanken schrieb er nun dem Weihnachtsmann einen Wunschbrief. Darauf stand: ein Schlitten zum Rodeln, ein paar dicke Handschuhe und eine warme Mütze, damit er beim Schlittenfahren nicht frieren musste, eine elektrische Eisenbahn, damit er etwas zum Kaputtmachen hatte, wenn er sich über etwas ärgern musste, und er ärgerte sich oft, ein Feuerwehrauto mit Lichtsignal und Einsatzhorn, das viel Lärm machte, womit er seine Eltern nerven konnte. Er wünschte sich auch einen Teddybären, an dem er seine Wut auslassen konnte, wenn ihm danach war.

Die Erzieherin Danuta unterbrach Klein-Peter und holte ihn aus seinem Wunschdenken. Sie sagte: „Peter, komm bitte wieder zu den anderen Kindern an den Tisch, wir wollen zu Mittag essen, denn deine Mutter holt dich danach ab.“

Klein-Peter antwortete nur: „Nein, ich mag nicht!“, und verzog dabei grimmig sein Gesicht.

Kurze Zeit später kam seine Mutter und brachte ihn nach Hause.

Zu Hause angekommen baute Klein-Peter vor der Haustüre einen großen Schneemann. Er holte danach von seinem Vater noch einen schwarzen Hut für die Kopfbedeckung, eine gelbe Rübe für die Nase und zwei Kohlen als Augen für den Schneemann.

Nun war es Klein-Peter langweilig geworden, und da gerade die Katze des Nachbarn vorbeilief, machte er einige Schneebälle und warf nach Minka. Er traf sie auch, und die Katze lief vor Schreck davon. Jetzt kam der Hund, der angekettet in seiner Hütte ein Schläfchen hielt, vom Nachbarn an die Reihe. Klein-Peter nahm einen Stock, den er sich neben dem Wohnhaus zurechtgelegt hatte, und schlug dem Schäferhund auf die Nase. Rolf jaulte fürchterlich, sprang auf und wollte sogleich zubeißen. Doch das ging nicht, da die Kette zu kurz war, um Klein-Peter zu erreichen, der darüber lachte und nun zu seiner Mutter ins Haus hineinlief.

 

Die war gerade in der Küche mit dem Backen fertig geworden, und im ganzen Haus duftete es herrlich nach Weihnachtsplätzchen. Sie stellte einen Teller voll gleich auf den Tisch. Klein-Peter nahm sich ungefragt ein Plätzchen, biss hinein und spuckte den Bissen gleich wieder aus.

Dabei sagte er ganz frech zu seiner Mutter: „Mama, die Plätzchen schmecken nicht, die sind nicht süß genug.“ Die Mutter war über das, was ihr Sohn gesagt hatte, sehr traurig. Und als es Schlafenszeit war, wollte Klein-Peter nicht ins Bett gehen und sagte nur: „Nein, ich mag nicht!“

Doch er musste, ob er wollte oder nicht. Als seine Mutter ihn mit der Decke zudeckte, sagte er: „Mama, du musst noch meinen Wunschzettel schreiben, damit ich meine Geschenke an Heiligabend bekomme. Wann kommt den der Weihnachtsmann?“

„Zuerst einmal kommt morgen Abend der Nikolaus, der nimmt deinen Wunschzettel mit und übergibt ihn dem Weihnachtsmann. Der kommt dann an Heiligabend und bringt dir deine Geschenke“, erklärte die Mutter, wünschte ihm eine gute Nacht und ging aus dem Schlafzimmer. Doch Klein-Peter streckte seiner Mutter nur frech die Zunge heraus und drehte sich dann zur Seite. Und als der Vater von der Arbeit nach

Hause kam und sah, dass seine Frau in der Küche auf dem Stuhl saß und weinte, musste er nicht fragen warum, er wusste gleich, wer der Grund dafür war.

 

Draußen schneite es dicke Flocken und alle warteten abends im warmen Wohnzimmer, im Kachelofen das Holz im Feuer romantisch knisterte, auf den Nikolaus. Klein-Peter saß ungeduldig auf einem Stuhl und hatte seinen Wunschzettel in der Hand. Plötzlich klopfte jemand dreimal an die Haustür, die der Vater sogleich öffnete. Draußen stand St. Nikolaus im roten Gewand und einer rot-weißen Bischofsmütze. In der linken Hand hielt er einen Bischofsstab und in der rechten Hand einen Sack gefüllt mit Süßigkeiten. Hinter ihm aber stand mit einem leeren Sack ein schwarz gekleideter Mann mit finsterem Blick, das war Krampus, der Helfer des Nikolaus. Der Vater bat beide herein ins Haus. St. Nikolaus ging langsam auf Klein-Peter zu

und fragte ihn: „Bist du der kleine Peter?“

Klein – Peter stellte sich jetzt mit seinem Wunschzettel mutig vor den Nikolaus hin und antwortete: „Ja.“

„Warst du auch immer artig und lieb zu Mensch und Tier?“, fragte St. Nikolaus weiter und sah ihm dabei tief in die Augen.

„Ja“, antwortete Klein-Peter und grinste frech.

St. Nikolaus hatte aber gemerkt, dass der kleine Peter gelogen hatte und holte aus seiner Manteltasche ein dickes Buch hervor. Er schlug das rot-weiße Buch auf, suchte darin nach Klein-Peter und als er ihn darin fand, sagte St. Nikolaus mit ernster Miene: „So so! In meinem Buch steht aber, dass du das ganze Jahr über böse zu deinen Eltern warst, auch zu den Kindern im Kindergarten, und die Katze und den Hund vom Nachbarn quälst.“

St. Nikolaus klappte sein Buch wieder zu und meinte: „Nun, ich will noch einmal darüber hinwegsehen, wenn du mir jetzt versprichst, dass du von nun an immer artig sein willst. Versprichst du mir das?“ fragte er.

Klein-Peter wunderte sich darüber, woher der Nikolaus dies alles wusste, ärgerte sich darüber und ant­wortete: „Nein, ich mag nicht!“

Daraufhin gab St. Nikolaus dem Krampus ein Zeichen, der packte Klein-Peter, steckte ihn sogleich Kopf voran in seinen Sack und lud ihn auf seine Schultern. Klein-Peter konnte schreien und strampeln so viel

er wollte, es half ihm alles nichts. Auch seine Eltern konnten ihm nicht helfen und mussten zusehen, wie St. Nikolaus und Krampus mit ihrem Sohn im Sack zur Tür hinausliefen und in Richtung Forstenrieder Wald verschwanden.

Es war bitter kalt, und Klein-Peter fror im Sack ganz fürchterlich, denn er hatte seine warmen Stiefelchen und seine Winterjacke nicht an. Dazu kam noch, dass er große Angst hatte und weinte nun bittere Tränen. Er weinte so sehr, dass die Rehe und Hasen im Wald mit ihm Mitleid bekamen und auch zu weinen anfingen. Klein-Peter erinnerte sich an ein Gedicht, das er im Kindergarten gelernt hatte und sagte es schluchzend auf:

 

„Oh, du lieber Nikolaus,

lass mich aus dem Sack heraus.

Bin doch noch so klein,

werde nun immer artig sein.

„Papa und Mama werde ich lieben,

mit Minka und Rolf immer lieb spielen.

Oh, du lieber Nikolaus,

lass mich aus dem Sack heraus.“

 

Dies hatte St. Nikolaus gehört und bekam Mitleid mit Klein-Peter und befahl Krampus, ihn aus dem Sack herauszulassen. Sie ließen den Jungen alleine und liefen weiter zu den Kindern ins nächste Dorf.

Klein-Peter stand nun im Wald und überlegte, wie er nach Hause finden konnte, lief einfach los und hoffte auf dem richtigen Weg zu sein.

Die Katze Minka hatte mitangesehen, wie Klein-Peter schreiend mit dem Nikolaus und Krampus das Dorf verließ. Sie hatte dem kleinen Jungen seine bösen Streiche längst verziehen und wollte ihm nun helfen. Sie sauste ganz schnell zu Rolf und machte den Hund von der Kette los.

Da die Tiere untereinander reden können und sich auch verstehen, erzählte sie dem Hund von dem Schicksal des kleinen Jungen und überredete Rolf, mit ihr auf die Suche nach Klein-Peter zu gehen, um ihn aus dem Sack zu befreien.

Nach anfänglichem Murren, willigte Rolf ein. Beide stapften nun durch den tiefen Schnee hinein in den Wald und riefen darin immerzu nach Klein-Peter, jedes, wie es konnte. Minka miaute laut, und Rolf bellte mit seiner tiefen und kräftigen Stimme, dass es nur so zwischen den Bäumen hallte. Doch sie bekamen keine Antwort. Beide befragten die Rehe und Hasen des Waldes, die ihnen im tiefen Wald begegneten, ob sie St.

Nikolaus und Krampus, der einen kleinen Jungen in seinem Sack mit sich trug, gesehen hätten.

Doch die konnten ihnen auch nicht helfen.

Da kam plötzlich ein Rabe dahergeflogen, der in der Luft vernommen hatte, dass die beiden auf der Such nach Klein-Peter waren, setzte sich auf den Rücken von Rolf und erzählte ganz aufgeregt: „Ich habe einen kleinen Jungen durch den Wald laufen gesehen, nicht weit von hier entfernt, der fror und weinte ganz fürchterlich.“

„Das muss Klein-Peter sein“, glaubte Minka und sah Rolf dabei an, der zustimmend nickte. Beide schickten den Raben voraus, denn der musste ihnen den Weg zeigen.

Nach einer Weile fanden sie im tiefen Schnee kleine Fußspuren, die durch den Wald führten.

„Das sind die Spuren von Klein-Peter!“, rief Rolf aufgeregt, der nun mit seiner feinen Nase den Geruch des kleinen Jungen aufgenommen hatte. Die Suche ging sogleich weiter, bis sie vor dem Eingang einer Höhle standen, dort die Fußspuren auch aufhörten. Es war aber die Höhle eines Bären, was Rolf sogleich witterte und teilte dies Minka mit. Der Rabe setzte sich sogleich sicherheitshalber auf den Ast eines Baumes und besah sich alles von oben an. Keines der beiden Tiere aber traute sich als erster in die Höhle hinein. Sie setzten sich vor den Eingang und überlegten, wie sie herausfinden könnten, ob Klein-Peter sich wirklich darin befand. Ohne dabei in Gefahr zu geraten.

Plötzlich wackelte der Bär hinaus. Er brummte böse und fragte mit tiefer Stimme: „Wer stört mich beim Fressen?“ Der Rabe flog sogleich vor Angst davon. Minka und Rolf aber machten ein entsetztes Gesicht und riefen gleichzeitig: „Der Bär hat Klein-Peter gefressen!“

Der Bär musste daraufhin laut lachen und machte jetzt ein freundliches Gesicht, denn er hatte gemerkt, dass der Hund und die Katze nur nach dem Kind gesucht hatten.

„Nein“, so sprach der Bär, „ich habe Klein-Peter nicht gefressen. Der liegt bei mir in der Höhle und schläft. Ich habe ihn nur ein wenig gewärmt, weil er so fürchterlich fror. Geht nur zu ihm hinein, ich tu euch nichts zu Leide!“

Wie waren Minka und Rolf froh, als sie das hörten, und gingen auch ohne Furcht gleich hinein. Sie weckten Klein-Peter auf, und schleckten ihn aus Freude darüber, dass sie ihn gesund gefunden hatten, mit ihrer Zunge übers ganze Gesicht.

Klein- Peter musste vor Glück weinen. Er entschuldigte sich auch gleich bei Rolf und Minka, weil er immer so böse zu ihnen gewesen war, und sprach: „Von nun an sind wir drei für immer Freunde.“

 

Es war Morgen und Nikolaustag, als Klein-Peter ganz verschwitzt in seinem Bettchen aus dem Schlaf erwachte. Er sah sich im Zimmer um und dachte: „Zum Glück war es nur ein Traum.“

Aber er nahm sich vor, von nun an immer brav zu seinen Eltern und zu den Tieren zu sein, auch zu den Kindern im Kindergarten. Er lief gleich die Treppe hinunter zu seiner Mutter, die gerade den Früh­stücks­tisch deckte. Klein-Peter drückte sie fest an sich und sprach: „Mama, ich hab dich ganz fest lieb. Und von heute ab werde ich dich nicht mehr ärgern.“

Die Mutter wunderte sich über die Worte, die ihr Sohn zu ihr gesagt hatte. Aber sie sah ihm an, dass er es ernst meinte, und freute sich über sein Versprechen.

Der Vater war schon zur Arbeit gegangen. Nach dem Frühstück lief Klein-Peter zur Haustüre hinaus, denn er wollte sehen, ob der Schneemann, den er gebaut hatte, draußen stand. Oder ob dies auch nur ein Traum gewesen war. Doch der Schneemann stand da, und es sah so aus, als ob er lächelte und sich darüber freute, dass Klein-Peter von nun an immer brav sein wollte. Jetzt kam Minka vorbei. Vorsichtig wollte sie an ihm

vorbeischleichen. Doch Klein-Peter lächelte ihr zu, nahm sie behutsam in den Arm und streichelte die Katze. Dann ging er mit Minka zu Rolf, streichelte auch den Hund, und sagte zu beiden: „Wir sind doch nun drei Freunde.“ Später ging er in die Küche, darin die Mutter gerade Weihnachtsplätzchen gebacken hatte und einen Teller voll auf den Tisch stellte. Klein-Peter fragte die Mutter, ob er sich ein Plätzchen nehmen darf. Sie nickte ihrem Sohn zu. Klein-Peter biss hinein und sagte zu ihr: „Mama, das sind die besten Plätzchen, die ich je gegessen habe.“

Diese freundlichen Worte freuten die Mutter so sehr, dass sie gleich noch mehr Weihnachtsplätzchen backen wollte.

Abends kam der Vater nach Hause. Klein-Peter fiel auch ihm um den Hals und sagte: „Papa, schön, dass du wieder zu Hause bist. Ich hab dich lieb.“ Der Vater wunderte sich darüber und wusste gar nicht, was er dazu sagen soll.

 

Kurz darauf klopfte es dreimal an die Haustüre, die der Vater sogleich öffnete. Draußen im tiefen Schnee stand St. Nikolaus mit dem Krampus, beide er sogleich ins Haus herein bat. St. Nikolaus ging nun auf Klein-Peter zu und fragte: „Bist du der kleine Peter?“

„Ja“, antwortete Klein-Peter schüchtern.

„Und warst du auch immer brav zu deinen Eltern und den Tieren?“, fragte der Nikolaus weiter.

„Nein, lieber Nikolaus“, antwortete er und schämte sich dabei. „Aber ab heute werde ich immer zu alle brav sein“, versprach Klein-Peter.

Überzeugt davon, lächelte St. Nikolaus nur, kramte in seinem Sack herum und überreichte nun Klein-Peter einige Süßigkeiten und auch Nüsse, wofür sich der kleine Peter höflich bedankte.

Danach verließ der Nikolaus mit Krampus das Haus.

Die Eltern waren stolz auf ihren Sohn. Der Mutter fiel nun ein, dass sie vergessen hatte, dem Nikolaus den Wunschzettel mitzugeben. Sie wollte ihm hinterherlaufen. Doch Klein-Peter hielt seine Mutter zurück und sagte: „Mama, ich brauche keine Weihnachtsgeschenke. Ich hab ja dich und Papa, die ich lieb haben darf.“ Diese wunderbaren Worte trafen die Eltern so tief ins Herz, dass sie ihren Sohn sogleich umarmten und weinten. Und als Schlafenszeit war, ging Klein-Peter auch gleich ins Bett, gab seinen Eltern einen dicken Kuss und wünschte beiden eine gute Nacht. Aber bevor er einschlief, überlegte er noch, ob sein Abenteuer mit St. Nikolaus und Krampus wirklich nur ein Traum war. Doch er kam zu der Überzeugung, dass dies nicht mehr wichtig war. Denn er wusste nun, dass die braven Kinder glücklicher sind als die Bösen.


Hilfe, wir haben den Weihnachtsbaum vergessen

Christa Friedrich

 

 

Wir schreiben das Jahr 2010.

Schon im November überraschte uns der Winter mit so viel Schnee, sodass im Garten die liegengebliebene Arbeit von einer dicken Schneedecke zugedeckt wurde.

Auch gut! Uns war das vollkommen egal.

So hatte man wenigstens die unerledigte Arbeit nicht jeden Tag vor den Augen. Es gab trotzdem noch genug zu tun.

Man war ja weitsichtig und dachte schon Ende November an die kommenden Festtage.

Es wurde gewerkelt, gebastelt und geputzt. Viele überflüssige Dinge wurden erledigt.

Als wir am 23. Dezember erleichtert aufatmeten und dachten, wir hätten alles geschafft, gab unser Ehebett den Geist auf und brach, als meine Frau Marina in unser Bett kletterte, um eine Kiste vom Kleiderschrank zu holen, unter ihr zusammen.

 

Trotz handwerklicher Geschicklichkeit schaffte ich es nicht, unser modernes Bett zu reparieren.

Aber wir sind ja Glückskinder und so erinnerten wir uns, dass auf unserem Dachboden ein uraltes Bett von unserer Urgroßmutter stand.

Wir kletterten auf den Dachboden und kramten das alte Bett hervor, polierten es auf Hochglanz und stellten es in unserem Schlafzimmer auf. Erstaunt schauten wir auf die bunte Malerei, die das Bett verzierte. Elfen, Engel, Kobolde, Wichtelmänner und unzählige andere Märchenfiguren waren mit bunter Farbe auf die Innen- und Außenwände des Bettes gemalt.

„Ganz schön hässlich, dieses alte Ding!“, murmelte meine Frau Marina und bezog die Kissen mit ihrer schönsten Bettwäsche, um wenigstens ein wenig Wohlbehagen zu empfinden. Eigenartig …

Ich fand diese Malerei wunderschön und so sagte ich zu meiner Frau: „Schatz, das ist doch sehr lustig. Stell dir einfach vor, wie fallen mitten in ein Märchen, wenn wir uns in dieses Bett legen.“

„Wäre ja nicht schlecht, so etwas Außergewöhnliches einmal zu erleben“, ließ sich Marina auf meine Spinnerei ein und schubste mich auf das Bett. Mitten in unserer Rangelei schrie sie dann plötzlich: „Liebling, wir haben den Weihnachtsbaum vergessen!“

„Oh je, und das einen Tag vor Heiligabend. Wo gibt es denn jetzt noch Weihnachtsbäume zu kaufen?“, stöhnte ich und dachte nach.

Unseren Nachbarn anrufen?

Und schon griff ich zum Telefonhörer. „Hallo, Uwe, kannst du mir sagen, wo ich morgen noch einen Weihnachtsbaum kaufen kann?“

Verwundert fragte Uwe: „Wie bitte? Nein, Jens, da kann ich dir nicht helfen. Am Heiligabend noch einen vernünftigen Baum zu bekommen, das wird schwierig werden.“

„Ja, doch, aber es muss ja kein super schöner Weihnachtsbaum sein“, schrie ich genervt in den Telefonhörer und unterbrach das Gespräch, um Nachbar Jörg um Rat zu fragen.

Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich Jörg sagen hörte: „Na klar, Jens, ich kann dir helfen. Hol dir einen Baum aus meinem kleinen Wäldchen.“ Erstaunt über die Neuigkeit nahm ich dankbar und freudig sein Angebot an.

Inzwischen war es draußen dunkel geworden und es schneite ununterbrochen dicke Schneeflocken vom Himmel. Wir beschlossen am nächsten Tag, gleich früh am Morgen, in den Wald zu fahren, um unsere Tanne zu fällen.

Menschenfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft wird in unserem Dorf großgeschrieben.

So wunderten wir uns nicht, als Nachbar Uwe bei uns anrief, sich besorgt nach dem Stand der Dinge erkundigte und spontan seine Hilfe anbot. „Jens, du kannst deine Tanne in meinem Ar­beitsraum auf die Fliesen legen. Dort befindet sich eine Fußbodenheizung und dein Baum ist bis morgen aufgetaut.“

Erst jetzt dachten wir daran, dass schon tagelang das Barometer Minusgrade anzeigte und mit Sicherheit draußen in der Natur alles gefroren war. Es half nichts, wir mussten uns sofort auf die Socken machen, wenn wir morgen einen trockenen Tannenbaum schmücken wollten.

Schnell in die warmen Stiefel, Jacke, Mütze und den Schal umgebunden und schon waren wir bereit, in den Wald zu gehen, um unseren Weihnachtsbaum zu holen.

 

„Moment, Schatz, wir brauchen noch eine Taschenlampe“, rief Marina mir nach.

Und wie es in einem ordentlichen Haushalt sein soll, Schublade auf und da lagen tatsächlich, in Reih und Glied, 3 Taschenlampen.

Aber wer weiß, wie lange sie dort schon herumlagen? Keine einzige Lampe spendete uns Licht. Gott sei Dank hat man ja auch seine Schwächen und man kauft manchmal Dinge, die man nicht wirklich braucht. Meine Frau erinnerte sich an so einen Einkauf und kramte, ich weiß nicht aus welcher Ecke, eine neue, auf alt getrimmte Grubenlampe hervor.

Mit der Grubenlampe, sie spendete nur wenig Licht und einer Fuchsschwanzsäge verließen wir das Haus.

Zuverlässig wie unser Auto nun mal ist, brachte es uns, trotz pitschnasser Straße und Schneege­stöber zum Wald. Ein kleines Stück Landstraße mussten wir zu Fuß zurücklegen.

Die wenigen Leute, die uns an diesem Abend, meine Frau mit der Grubenlampe und ich mit einer Fuchsschwanzsäge über die Schulter, begegnet sind, haben uns nur ungläubig angeschaut.

Wir erreichten den Wald, versanken im tiefen Schnee, stolperten über Wurzeln und Gestrüpp, und jedes Mal, wenn wir dachten, den perfekten Baum gefunden zu haben, hatte irgendeiner von uns etwas an dem Baum herumzunörgeln. In Wirklichkeit sahen wir beide so gut wie gar nichts in der Dunkelheit. Nach langem Suchen und Herumirren im Wald waren wir uns endlich einig.

Ich kann nur von Glück sprechen, dass meine Frau so bescheiden war und eine Tanne aussuchte, die einen verhältnismäßig dünnen Stamm hatte. Ich hatte Mühe, die Säge durch den vereisten Stamm zu schieben, denn meine Finger waren, trotz Handschuhen, eiskalt.

Schließlich hatten wir es doch noch geschafft. Ich zerrte die Tanne durch das Unterholz, fluchte laufend unanständige Worte, weil mir die Äste den Schnee ins Gesicht peitschten und folgte den Spuren meiner Frau.

Mein Schatz gab sich alle Mühe, mir den Weg zu bahnen. Aber ihr Hin- und Herschwenken mit der modernen Grubenlampe erleuchtete keineswegs unseren Pfad. Ich empfand die Situation lang­sam sehr lustig.

Mein Frauchen vor mir, als Laternen- und Fuchsschwanzträgerin, und ich schlich mit der Tanne auf dem Buckel hinterher. So konnte ich mir nicht verkneifen, grinsend zu rufen: „Hie, hie ... wir haben einen Weihnachtsbaum!“

Zu Hause angekommen legten wir unseren Tannenbaum auf die Fußboden beheizten Fliesen un­serer Nachbarn.

Inzwischen war es kurz vor Mitternacht. Uns war kalt, unsere Klamotten waren pitschnass und wir waren müde.

Schmunzelnd krochen wir mit einer Wärmflasche in das uralte Bett unserer Uroma, und bevor ich einschlief, hörte ich noch das leise Kichern meiner Frau.

Und seltsam, wie durch einen Schleier sah ich nur noch Schnee, Schnee, ein rotes Herz aus Glas …


Das Weihnachtskind

Cornelia Geisler

 

 

Es war vor einigen Jahren außerhalb eines kleinen Dorfes. Das Ehepaar Sina und Bert lebte auf einem schönen, gepflegten Grund­stück, was sie liebevoll hergerichtet hatten. An den Sonn­tagen traf man sie immer zum Gottesdienst in der Dorf­kirche. Ganz gleich welches Wetter herrschte, Sina und Bert kamen jeden Sonntag.

Sina war gelernte Floristin und hatte in der Stadt einen eignen Blumenladen. Die Menschen kauften gern bei ihr ein, denn sie hatte immer ein Lächeln auf ihren Lippen und war zu allen Kunden nett und zuvorkommend. An den vielen neuen Krea­tionen ihrer Blumengebinde konnte man ihre Liebe für die Blumen und Pflan­zen erkennen und spüren.

Ihr Mann Bert arbeitete als Bäcker im Dorf. Auch er war bei den Mitmenschen der Gegend angesehen und hatte viele Freunde unter ihnen. Seit über zehn Jahren waren Sina und Bert schon verheiratet und führten eine glückliche Ehe. Leider waren beide sehr traurig und verzweifelt, denn es fehlte ihnen etwas zum vollkommenen Glück. Wie sehr wünschten sie sich ein Kind, aber es sollte nicht sein.

Nun stand das Weihnachtsfest vor der Tür. Auch in jenem Jahr hatten sich Sina und Bert beim Förster einen hübschen Baum zum Fest ausgesucht. Gemeinsam schmückten sie ihn am Heiligen Abend. Große und kleine, rote, goldene und silberne Kugeln, Zapfen und Schleifen zierten ihn. Auch Kerzen kamen an ihren Baum. Es gab nur echte Wachskerzen bei Sina und Bert und es waren aus Tradition immer vierundzwanzig. Ebenso viele rote, goldene und silberne Glocken, die wie mit Puderzucker verziert aussahen. Auch das Haus und das Grundstück wurden in ein fest­liches Gewand verpackt.

In der Küche bereiteten beide gemeinsam das Festessen, Hirsch­filet mit Preiselbeeren, Rotkohl und echten, handgemach­ten Klößen vor. Kurz vor achtzehn Uhr, sie befanden sich gerade auf dem Weg zur Kirche, klingelte bei ihnen das Telefon.

„Meine Eltern können in diesem Jahr leider nicht mit uns das Fest feiern. Bei ihnen liegt so viel Schnee, sie kommen einfach nicht weg“, sagte Bert etwas enttäuscht von der Nachricht, denn am Heiligen Abend trafen sich alle immer bei Sina und Bert zum gemeinsamen Festessen.

„Ach, das ist aber schade. Und sie kommen wirklich nicht weg? Sollen wir sie eventuell abholen? Vielleicht trauen sie sich nur nicht, bei diesem Wetter zu fahren?“, fragte Sina zurück und griff schon zum Telefonhörer.

Doch bevor sie wählen konnte, klingelte es erneut. „Guten Abend, wir warten schon auf euch. Die Kirche be­ginnt bald“, sagte sie freundlich in den Hörer und erst jetzt wartete sie auf die Stimme am anderen Ende.

„Hallo Sina, du sei uns nicht böse, aber wir kommen nicht weiter. Wir stehen hier mitten auf der Landstraße. Vor uns ist ein schrecklicher Unfall geschehen. Papa ist zur Unfallstelle gerannt, will sehen, ob er helfen kann. Na ihr kennt ihn ja. Er ist ja mit Leib und Seele Arzt. Ist ja auch richtig so. Geht ihr schon mal in die Kirche, wir kommen dann nach“, sagte die andere Stimme, die Sina als die ihrer Mutter erkannte. Reglos stand sie da, den Hörer immer noch in der Hand.

„Ein Unglücksfall … mein Papa muss helfen … sie wollen nach­kommen … es muss ein schrecklicher Unfall sein … und das am Heiligen Abend …“, stotterte Sina vor sich hin.

„Komm, meine Liebe. Nimm deinen Schal und deine Mütze, vergiss auch die Handschuhe nicht, lass uns zur Kirche gehen“, sagte Bert und reichte ihr ihre Handtasche.

„Meinst du … wir, können in die Kirche gehen? … Sollten wir nicht helfen? … Vielleicht brauchen sie uns?“, stammelte Sina immer noch, nahm aber die Handtasche und trat mit ihm vor die Haustür. Hier wurden sie von einem heftigen Schneetreiben emp­fan­gen. Im Haus hatten sie dies vor lauter Aufregung gar nicht bemerkt. Nun schritten sie Arm in Arm langsam vorwärts. Sie schob ihren Schal bis zur Nasenspitze, denn der eisige Wind brannte mächtig im Gesicht.

Bis zur Dorfkirche waren es gut vierzig Minuten, bei diesem Wetter etwas mehr. Als sie die Hauptstraße erreichten, trafen sie noch auf einige Bekannte, die ebenfalls zum Gottesdienst wollten und nun gingen sie zusammen den Weg. Ein Gespräch auf dem Weg blieb an diesem Abend aus, das Wetter war schuld, oder waren es Sinas Gedanken, die sich immer wieder um den Unfall drehten?

Als sie die Kirche erreichten, war diese schon bis zum letzten Platz gefüllt. Zusätzliche Stühle und Hocker wurden hinein­getragen. Allen wollte man eine Möglichkeit zum Besuch des Gottes­dienstes geben. Wie immer verlief der Weihnachts­gottes­dienst besonders feierlich. Sie sangen die altvertrauten Lieder, hör­ten die Weihnachtsgeschichte und beteten für allen Menschen auf der Erde. Über eine Stunde dauerte der Gottesdienst. Sina kam er an diesem Abend unendlich lange vor. Als sie sich dann vor der Kirche vom Pfarrer, von Freunden und Bekannten verab­schiede­ten und allen eine frohe Weihnacht wünschten, traten sie ihren Heimweg an. Das Schneetreiben hatte nachge­lassen und auch Wind war nicht mehr ganz so eisig.

Zu Hause vor der Tür erblickten sie das Auto von Sinas Eltern, die soeben vorgefahren waren. Nach einer ungewöhnlich knappen Begrüßung sprach Sina sogleich ihren Vater nach dem Unfall an. Dieser wollte und durfte jedoch nichts erzählen.

„Lass uns erst einmal essen, dann sehen wir weiter, mein Kind“, sagte er ruhig und begann, die vorbereiteten Getränke auf den Tisch zu stellen. Unterdessen gingen Sina und ihre Mutter in die Küche, um das Essen fertig zuzubereiten, anzurichten und schließlich nach einiger Zeit auf den Tisch zu bringen.

„Na, das sieht ja fantastisch aus!“, rief Sinas Vater und stürzte sich sogleich auf den Hirsch­braten.

„Möchtest du auch etwas Soße? Vielleicht auch Rotkohl und Klöße?“, fragte Sinas Mutter, die das Verhalten ihres Mannes nicht gerade gut fand.

„Ja, ja. Ich nehme von allem. Kann ja sein, dass es ab morgen nichts mehr gibt. Man weiß ja nie, wie das Leben so spielt“, ant­wortete er und klang dabei sehr gereizt.

Während des ganzen Essens wurde nicht ein Ton gespro­chen. Von einer CD hörten sie leise und zur Unterhaltung Weih­nachtsmusik, und im offenen Kamin begannen die Holz­scheite zu knistern.

Kaum war der Tisch nach dem Essen abgeräumt und alle saßen gemütlich am Kaminfeuer bei einem weiteren Gläschen Wein, als das Handy von Sinas Vater klingelte.

„Ja? … alles in Ordnung? … Nein! Das nicht auch noch! Warten Sie, ich komme sofort! Ja, ja, bereiten sie alles vor!“

Mehr konnten sie nicht verstehen. Sinas Vater sagte, als er das Gespräch beendet hatte und in die Runde schaute: „Ich muss ganz dringend noch einmal in die Klinik! Es gibt Komplika­tionen.“

„Aber Papa, du hast etwas getrunken, du kannst jetzt nicht mehr selber fahren! Mutti und ich werden dich in die Klinik bringen“, antwortete Sina sehr energisch und ihr Mann willigte ein, mitzukommen. Schnell zogen sie sich an, nahmen die wichtigsten Sachen in die Hand und schon saßen sie im Auto. Vorsichtig und sicher, aber dennoch nicht langsam steuerte Sinas Mutter den Wagen über die schneeverschneiten Straßen. Vor dem Kran­kenhaus standen inzwischen schon mehrere Rettungswagen, die weitere Verletzte brachten. Doch Sinas Vater lief nicht wie erwar­tet zur Rettungsstelle. Er steuerte sofort auf das Schwestern­zimmer der Intensivstation zu. Von außen konn­ten sie nur noch erkennen, wie er seinen weißen Kittel anzog und schnellen Schrittes auf die große Tür mit der Aufschrift Inten­sivstation zulief. Leider mussten Sina, ihr Mann Bert und ihre Mutter im Warte­bereich ausharren. Es vergingen viele lange Minuten, die ihnen unendlich vor­kamen. Dann endlich stand Sinas Vater vor ihnen, Tränen in den Augen und mächtig aufgewühlt. Seine Frau nahm ihn in den Arm und versuchte ihn zu trösten.

„Lass nur, vielleicht sollte es so sein! Sie waren so schwer verletzt, aber das Kind, das konnten wir retten“, sagte er schluch­zend und sah dabei nur auf den Boden.

„Was ist geschehen, Papa, erzähl doch“, bat Sina ihren Vater, der sich nun nicht mehr zu­rückhalten konnte.

„Sina, mein Kind, du kennst doch unsere Patentochter Hella und ihren Mann Jörg. Sie waren heute Abend auf dem Weg zu einer sehr wichtigen Untersuchung. Dabei kam ihnen ein anderes Fahrzeug in die Quere. Keiner konnte auf der eisglatten Straße ausweichen und nun sind beide tot. Alle, bis auf das Baby, was sie erwartet hatten, das konnten wir eben gerade noch retten. Nun ist es mutterseelenallein auf dieser Welt und das am Heiligen Abend“, erklärte er, während er sich die Tränen aus dem Gesicht wischte und die Nase kräftig schnäuzen musste.

„Nein! Das ist ja schrecklich! Das darf doch nicht sein! Wer hat denn den Unfall verursacht? Ist der Fahrer auch verletzt? Nein!“, schrie Sina immer wieder und konnte sich nicht mehr zu­rückhalten. Erst nach einer ganzen Weile, ihr Mann Bert hatte sie in die Arme genommen, schluchzte sie noch einmal kräftig, sah ihre Eltern an und nickte ihrem Mann kurz zu und sagte: „Nein Mama, nein Papa. Das Baby ist nicht allein. Es hat Bert und mich!“

Erstaunt sahen die Eltern ihre Tochter an. Sie verstanden nicht sofort, was sie ihnen mitteilen wollte, doch Sina wischte sich rasch noch einmal ihre Tränen ab und fuhr schluchzend mit ihrer Er­klärung fort. „Als ich mich im letzten Herbst hier zu einer Routineunter­suchung aufhielt, trafen wir uns zufällig. Hella und ich redeten über dieses und jenes und … und dann haben wir …“, Sina stockte, sah wieder ihren Mann und anschließend ihre Eltern an, bevor sie weitererzählte, „kurz und gut. Wir gingen noch am selben Nach­mittag zu einem Notar und haben ein wichtiges Schrei­ben aufset­zen lassen. In diesem steht sinngemäß, wenn ein Kind von mir oder ihr ganz allein zurückbleiben sollte, durch Unfall, Tod oder so, dann soll die andere von uns das Sorgerecht für das Mädchen oder den Jungen übernehmen. Jede wollte verhindern, dass die Kinder in ein Heim oder zu fremden Menschen kommen. Wir sicherten unsere Kinder gegenseitig ab. Sie sollten auf keinen Fall allein auf der Welt zurückbleiben. Nur mit diesem Unglück hat damals niemand gerechnet. Aber das Baby ist nicht allein! Es hat uns! Versteht ihr das? Bert, wir haben nun ein Baby!“, rief Sina etwas lauter und sah ihren Mann tief in die Augen.

Bert und auch ihre Eltern konnten es gar nicht glauben, was sie da hörten, denn niemand wusste etwas von dieser Verein­barung. Sinas Vater ging zurück ins Schwesternzimmer und ver­langte die Patientenakte von seiner Patentochter, denn wenn solch eine Absprache geschlossen war, dann befand sie sich nicht nur beim Notar, beim Jugendamt, sondern auch in der Patienten­akte; und so war es dann auch.

Nach umfangreichen Untersuchungen und der intensiven Be­ob­achtung über Nacht konnten Sina und Bert ihr Baby, ein kleines Mädchen, am ersten Weihnachtsfeiertag nach Hause holen.

Das Baby bekam den Namen seiner Mutter.

 

Natürlich gab es nach den Feiertagen noch viele Formalitäten zu erledigen, doch diese waren schnell getan. Nun fühlten sie sich wie eine richtig kleine Familie. Sina und Bert lebten mit ihrem süßen Töchterchen Hella zwei Jahre lang glücklich und zufrieden. Und dann, es war wieder Heiliger Abend, die Familie kam ge­mein­sam aus der Kirche nach Hause, da teilte Sina allen Familien­mitgliedern stolz mit, dass sie zum Sommer ein Kind bekommen würde. Wie glücklich strahlten da alle. Ein lang ersehnter Wunsch ging nun für Sina und Bert in Erfüllung. Und als es Sommer wurde, da bekam ihr Töchterchen Hella noch ein Brüderchen, dem sie den Namen Jörg gaben.

„Nun ist unser Glück vollkommen. Wir sind gesund, haben zwei tolle Kinder und viele Menschen, die uns mögen und uns zur Seite stehen“, sagte Sina beim darauffolgenden Weihnachts­fest. Und so lebten sie noch viele Jahre glücklich und zufrieden zusammen.


Der verschwundene Schutzengel

Christa Friedrich

 

 

Mitten in den Bergen liegt im tiefen Tal ein kleiner Ort, in dem es nicht mehr als 10 Häuser, eine kleine Kapelle, einen Friedhof und einen Hubschrauberlandeplatz gibt.

Vor vielen Wochen landete dort ein großer, roter Hubschrauber. Dieser Hubschrauber brachte den Vater von Hannes, in ein weitentfernt gelegenes Krankenhaus in der Stadt.

Damals, als das Unglück passierte, war noch Sommerzeit und Hannes stieg mit seinem Vater fast jeden Tag in die Berge.

Als Hannes einmal sehr unvorsichtig war und bald den großen Hügel heruntergestürzt wäre, sagte der Vater zu Hannes. „Hannes, soeben hast du aber einen sehr aufmerksamen Schutzengel gehabt.”

“Was für einen Schutzengel?”, fragte Hannes ganz erstaunt.

Und der Vater antwortete damals: „Ich spreche von deinem Schutzengel, Hannes. Jeder Mensch hat einen Schutzengel. Der Engel verweilt ständig in deiner Nähe. Er behütet und beschützt dich am Tag und in der Nacht.”

Inzwischen ist es Winter geworden. Die Häuser unten im Tal haben sich mit einem weißen Mantel aus Schnee geschmückt, und die vielen tausend Schneeflocken, die vom Himmel fallen, glitzern im Licht der Straßenlaternen wie kleine Diamanten.

Aus der Ferne hört man leise die Kirchenglocken.

Weihnachtliche Stimmung legt sich über den dunklen Wald, über die Berge und über das kleine Tal, und wenn man unten im Ort in die vielen Fenster der Häuser schaut, sieht man überall zufriedene und glückliche Gesichter.

Nur in dem Häuschen, das eingebettet zwischen sanft ansteigenden Bergen liegt, herrscht Traurigkeit.

 

Der kleine Hannes steht, wie fast jeden Tag, am Fenster und schaut mit seinem Fernglas zum Himmel empor. Er erinnert sich an ein Gespräch, das er damals, oben auf den Berg, mit seinem Vater hatte.

Voller Groll murmelt er vor sich hin: „Auf Schutzengel kann man sich sowieso nicht ver­lassen. Das hat man ja gemerkt, als mein Papa vom Berg stürzte.”

„Hannes, warum schaust du dir jeden Tag stundenlang den Himmel an?”, fragt seine Mutter. Sie tritt neben ihren Sohn und nimmt ihn liebevoll in ihre Arme.

„Ich suche Vatis Schutzengel”, antwortet der kleine Hannes und ein paar dicke Tränen kullern über seine Wangen.

„Wo war eigentlich Papa sein Schutzengel, als er vom Berg fiel?”, will Hannes wissen. Dann wirft er zornig sein Fernglas auf das Sofa, legt sich auf den Teppichboden und weint bitterlich.

Die Mutti kniet sich neben ihren Sohn, streichelt über Hannes Kopf und sagt leise: „Höre mir einmal zu, Hannes. Du weißt doch, dass dein Vater im Krankenhaus liegt. Dort gibt es sehr viele Ärzte, die deinen Vater beschützen und wieder gesundpflegen. Ich glaube, im Krankenhaus braucht dein Vater keinen Schutzengel.”

„Nein, das ist nicht wahr. Dann wäre ja mein Papa schon längst wieder gesund und bei uns zu Hause. Mir dauert das alles viel zu lange. Mein Vati braucht sofort seinen Schutzengel”, schreit der kleine Hannes und stampft trotzig mit seinen Füßen auf den Fußboden. 

 

Die Mutter schweigt.    

Hannes denkt nach und erinnert sich an den Moment, als die Sanitäter seinen Vater in den Hubschrauber legten und mit ihm davonflogen.

„Mutti, warum ist der Schutzengel eigentlich damals, als man Vati mit dem Hubschrauber in das Krankenhaus brachte, nicht gleich mitgeflogen?“, fragend schaut Hannes seine Mut­ter an.

Dann sagt Hannes plötzlich: „Du Mutti, der Papa hat mir einmal erzählt, dass alle Men­schen ihren eigenen Schutzengel haben. Stimmt das?“

„Ja, Hannes, das wird wohl stimmen”, antwortet die Mutter.

„Klasse, dann schicke ich morgen meinen persönlichen Schutzengel zu Papa ins Kranken­haus.

Aber plötzlich hat Hannes noch eine andere Idee.

Er schaut seine Mutter an und fragt: „Mutti, darf ich mir etwas vom Weihnachtsmann wün­schen?”

„Ja, Hannes, das darfst du“, antwortet die Mutter.

„Dann werde ich den Weihnachtsmann bitten, dass er die weißen, schnellen Pferde vor seinen Schlitten spannt und wir gemeinsam auf die Suche nach Papas Schutzengel gehen.“

„Ach Hannes, wenn das alles so einfach wäre”, sagt traurig die Mutter und schaut hoch zum Berg, wo sich der Hubschrauberlandeplatz befindet. Dann schaut sie lächelnd ihren Sohn an und sagt: „Das ist eine gute Idee, Hannes. Dann frage doch einfach den Weih­nachtsmann, ob er dir bei der Suche behilflich ist.”

Die Mutter ist froh, dass ihr Hannes nicht mehr weint und sagt: „Komm Hannes, nun holen wir erst einmal unseren Weihnachtsbaum.”

 

Draußen ist es bitterkalt. Die dicken Wolken oben am Himmel schicken ununterbrochen ihre Schneeflocken zur Erde.

Es sieht aus, als hätte man das kleine Tal in Zuckerwatte getaucht. Schneeflocken hatten auf die Zaunpfosten kleine Schneemützen gezaubert und von den Dachrinnen der Häuser hingen dicke Eiszapfen. Einige bis auf die Erde.

Hannes schaut zum Berg hoch und sagt ganz traurig, “Mutti, wir brauchen eigentlich keinen Weihnachtsbaum denn ohne Vati macht Weihnachten sowieso keinen Spaß.”

Plötzlich fällt eine große Schneeflocke auf Hannes seine Nasenspitze.

Er schaut zum Himmel empor, direkt in das Wattegesicht einer dicken Wolke und als ob die große dicke Wolke dem kleinen Hannes damit etwas sagen will, rückt sie ein wenig zur Seite und Hannes sieht einen hellen glitzernden Stern hinter der Wolke hervor strahlen.

„Oh, du bist aber ein schöner Glitzerstern”, ruft Hannes erstaunt und wischt sich die Schneeflocke von seiner Nasenspitze.

„Hallo Hannes”, ruft der Glitzerstern zurück. „Die Wolke hat mir erzählt, dass du einen Schutzengel suchst, stimmt das?“

„Nicht irgendeinen Schutzengel, ich suche den Schutzengel von meinem Vater”, antwortet Hannes.

„Soll ich mich hier oben einmal umsehen, denn hier im Himmel fliegen viele solcher Engel herum.”

„O ja Glitzerstern, das wäre wirklich nett von dir, wenn du das tätest“, freut sich Hannes.

„Geht in Ordnung, wenn ich den Engel gefunden habe, kommen wir dich besuchen. Bis bald Hannes“, ruft er noch und verschwindet hinter der Wolke.

Dann seufzte der glitzernde Stern und denkt nach.

Er möchte gern einmal am Weihnachtsabend bei Hannes in der Stube sitzen und unter dem glitzernden Weihnachtsbaum träumen.

Denn, das ist schon lange sein innigster Traum.

„Komm mit”, ruft plötzlich eine kleine Sternschnuppe, die gerade vom Himmel fällt.

„Nein, ich kann dich noch nicht begleiten. Ich muss erst noch einen Schutzengel suchen, und du fliegst mir auch viel zu schnell. Außerdem möchte ich zuerst auf die verschneiten Wipfel der Bäume fliegen und mich auf den Zweigen im Wind wiegen”, ruft der glitzernde Stern der Sternschnuppe nach.

„Ha, ha, Glitzerstern, das kannst du vergessen”, ruft die Sternschnuppe zurück.

„Du träumst wohl. Der Flug ist viel zu lang und mir wird jetzt schon ganz bang. Lebe wohl, träume weiter, aber ohne mich. Ich warte lieber unten auf dich.“

Und zisch –, der Stern fällt zur Erde und erlischt.

 

„Schau Mami, eine Sternschnuppe”, ruft unten im Tal der kleine Hannes.

Die Mutter schaut empor und wünscht sich von Herzen die Genesung ihres Mannes.

Oben am Himmel macht sich der Glitzerstern sofort auf die Suche nach dem Schutzengel.

Er sucht ihn vergebens in jede Himmelsecke. Dann gibt er auf und ruft verzweifelt: „Hier gibt es einfach zu viele Verstecke.”

„Warum bist du so verzweifelt, kleiner Stern, kann ich dir bei deiner Suche helfen?“, fragt der Weihnachtsmann, der im selben Moment mit seinem Schlitten vorbeifährt.

„O ja, sehr gern, ich suche den Schutzengel von Hannes Vater”, antwortet der Stern.

„O je, o je, das kannst du vergessen. Der kleine Engel ist krank und weigert sich, seine Arbeit auf der Erde fortzusetzen”, berichtet der Weihnachtsmann.

„Warum tut er das? Der Vater von Hannes muss unbedingt ganz schnell gesund werden. Sonst wird sein kleiner Junge vor Sehnsucht auch noch krank“, spricht ganz aufgeregt der Stern.

Der Weihnachtsmann krault seinen langen, weißen Bart und antwortet: „Das ist nicht so einfach. Du musst wissen, dass der Vater von Hannes ein sehr wagemutiger Mensch ist. Er macht viele schlimme Sachen. Immer mit der Bemerkung: ES WIRD SCHON GUT­GEHEN. Unser kleiner Schutzengel fühlt sich mit seiner Beschützerrolle einfach überfor­dert. Er hat nie Zeit für sich und dadurch ist er krank geworden.”

Noch einmal krault sich der Weihnachtsmann an seinem Bart, räusperte sich und sagt: „Na gut, komm, ich bringe dich zu dem kleinen Engel. Vielleicht kannst du ihn ja überreden, dass er seine Arbeit auf der Erde wieder aufnimmt.”

Der Glitzerstern muss seine ganze Überredungskunst anwenden, bis der Engel endlich sagt: „Gut, ich versuche es noch einmal und fliege mit dir zur Erde und in das Kranken­haus, wo Hannes Vater liegt.

 

Es kommt der Tag, an dem die Nacht im hellen Licht erstrahlt. Wo der Duft von Apfel und Zimt den Weg bis hin zu den Sternen nimmt.

„Jetzt wage ich den Sprung”, ruft der glitzernde Stern, denn die Zeit ist reif, und er springt mit dem Schutzengel vom Himmel mit leuchtendem Schweif.

Und tatsächlich, der Weg ist sehr lang und dem Glitzerstern wird es ganz bang.

Er kommt der Erde sehr nah, sieht schon Klein Hannes sein Haus und ist entzückt. Er ruft mit letzter Kraft: „Engel flieg schneller, bald hast du es geschafft.”

Dann schaut er noch einmal zum Himmelszelt, und zisch – erreicht er die Welt.

 

Die Leute im Ort schauen zum Himmel empor und wünschen sich Glück.

Auch der kleine Hannes schaut empor und ruft entzückt: „Mama, schau hin, Papas Schutz­engel kommt zurück.”

Glücklich gehen Mutter und Sohn mit ihrem Weihnachtsbaum nach Hause.

Als sie am Abend den goldenen Papierstern auf die Spitze am Weihnachtsbaum stecken, hören sie plötzlich den Hubschrauber auf dem Berg landen.

Still steht Hannes voller Sehnsucht unter dem Weihnachtsbaum, drückt ganz fest seinen Daumen und schaut hoffnungsvoll zur Tür.

Die Minuten vergehen wie im Traum.

Dann öffnet sich die Tür und Hannes ruft voller Freude: „Papa, Papa, endlich bist du zu­rück” und zur Mutter sagt er lachend: „Siehst du Mami, die Sternschnuppe brachte uns Glück.”

Auf dem Hügel, direkt vor dem dunklen Wald, hört man, wie der Weihnachtsmann mit seiner Peitsche knallt und mit mahnender Stimme ruft: „He, Stern da oben am Him­melszelt, bleib in Zukunft wo du bist. Als Stern bist du beständig. Aber als Sternschnuppe nicht.” Dann rast er in Windeseile, trotz Schnee und Regen, mit seinem Schlitten, dem Tal ent­gegen.

Die ganze Nacht fährt er von Haus zu Haus und teilt seine Geschenke aus. Viele Pakete, große, kleine, alle gefüllt mit Honigkuchen und Dominosteinen.

Einen Schlitten für Paul, eine Puppe für Britt und ein Fahrrad für Klaus, all diese Dinge holt er aus seinem Schlitten heraus.

Erst spät in der Nacht fährt er mit leerem Schlitten zurück.

Er wagt aber schnell noch einen Blick durch das Fenster in Hannes Elternhaus und hört, wie Hannes seinen Vater fragt: „Papa, steigen wir wieder auf den Berg?“

Und der Vater antwortet: „Ja, Hannes, aber vorläufig nicht. Ich muss in Zukunft etwas vorsichtiger werden.“

 

Der kleine Schutzengel, der hinter Hannes Vater stand, fliegt vor Freude bis zur Weih­nachtsbaumspitze und setzt sich auf den Papierstern.

Schmunzelnd winkt der Weihnachtsmann dem Schutzengel zu. Dann krault er sich zufrie­den seinen langen, weißen Bart und sieht, wie es sich die Familie unter dem leuchtenden Weihnachtsbaum gemütlich gemacht hat.

Hannes ist glücklich. Voller Freude öffnet er die vielen großen und kleinen Pakete, die der Weihnachtsmann unter den Weihnachtsbaum gelegt hat.

Zufrieden schaut der Weihnachtsmann noch einmal durch das Fenster und er merkt, wie sich weihnachtliche Ruhe im ganzen Haus ausbreitet.

Die Wärme und die gebenden Hände der Familie ließen den Kummer und manchen Schmerz vergessen.

Alles erstrahlt in schimmernder Pracht und der Weihnachtsmann sieht mit Freude in die strahlenden Augen von Hannes.

In dieser heiligen Nacht.


Der geduldige Nussknacker

Ina Klose

 

Das ist die Geschichte vom Nussknacker Rudi, der in einer alten, wurm­stichigen Holz­truhe im staubigen Dachgeschoss mit vielen schö­nen Träu­men vor sich hinschlummerte.

 

Er trug eine sehr schicke Offiziersuniform aus Holz, hatte einen sehr großen Mund und lag umgeben von schönen Dingen, die man nur Weihnachten benutzt: Strohsternen, silbernen Girlanden und goldenen Perlenketten, künst­lichen, mit Kunstschnee weiß ge­färbten Tannenzweigen, mit dicken roten Schlei­fen verziert.

Rudi lag auf einem großen weißen Karton – nicht sehr bequem.

Im Januar hatte er beobachtet, wie die Mutter zehn bunte, hauchdünne Glas­kugeln in diesem großen weißen Karton vorsichtig verstaut und in die Holztruhe gelegt hatte. Die lagen alle in Watte ein­gewickelt. Und er? Er musste selbst auf seine hölzerne Uniform achten, da sie nächstes Jahr Weihnach­ten noch genauso fesch sein sollte wie im letzten Dezember.

Das ganze Jahr über wartete Rudi geduldig auf seinen Auftritt. Er wusste: Im Advent wurde er schon ins Wohnzimmer geholt, und nach Weihnachten war er erschöpft und für viele Monate arbeitslos; eben reif für die Truhe.

Während des Sommers hätte er wegen der großen Hitze im Dachge­schoss zu gerne seine enge Offiziersjacke ausgezogen. Doch sein Verlies war dunkel und eng, und so wartete er auf den Herbst. Da wurde es täg­lich ungemütlich kühler, sodass er sich wärmesuchend runter vom Kar­ton in eine Ecke der Truhe rollte, um gleich wieder einzuschlafen. Was sollte er sonst tun? Er fühlte oft so viel Lange­weile, und was macht ein Nusskna­cker am besten: die Zeit verschla­fen.

Außerdem tröstete ihn der Gedanke: Wenn es kalt wird, sind Advent und Weihnachten nicht mehr weit. Dann würde es schneien, und Rudi könnte vom Kaminsims die Schnee­flocken im Garten beobachten. Alles würde wieder interessant und spannend sein.

Oh, wie freute er sich auf den so schön geschmückten Tannenbaum voller leuchten­der Kugeln und duftender Kerzen, auf den reichlich gedeckten Tisch mit einem Korb voller Nüsse, die er dann alle mit einem krachenden Geräusch knacken würde.

Und erst die frohgelaunten Kinder, die mit ihrer Mutter brav Weih­nachts­lieder sin­gen würden, vom Vater auf dem Klavier begleitet. Danach könn­ten sie die vielen bunten Päckchen öffnen und jubeln, dass einem die Ohren schmerzten.

Ach ja, und vorher käme der Nikolaus mit einem großen Sack. Und der würde für Rudi Arbeit bringen: viele dicke Nüsse.

Voller Freude schlief Rudi jedes Jahr mit diesen vielen schönen Gedanken ein …

Eines Abends – es war schon Winter auf der Welt, im Garten lag Schnee und die Kinder hatten schon einen Schneemann gebaut – wurde der Rudi durch Schritte und Kinderlachen aus seinen schönen Träumen gerissen.

Zunächst erschrak er: „Hm – was is’n los? Habe ich geträumt?“

Doch er wollte rasch weiterschlafen, als sich knarrend die Speichertür öff­nete. Zwei Kinderstimmen waren zu hören und das Licht ging an. Rudi blinzelte durch den Truhenspalt. Im Nu war er hellwach! Eiligst zupfte er seine Jacke zurecht, knöpfte sie zu, setzte den verrutschten Helm auf und kraulte sich den zerzausten Bart. Sein Herz klopfte und zersprang fast vor Freude:

„Jetzt ist Weihnachten – ich werde gebraucht!“, dachte er – und so war es wirklich!

Die beiden Kinder, Kati und Peter, hoben stöhnend den schweren Deckel der Truhe hoch, und, während das Mädchen zu den Perlen und Kugeln griff, sahen ihn zwei lustige Augen an. „Ach, da ist ja auch der alte Nuss­knacker! Den nehmen wir auch gleich mit!“

Jetzt war Rudi aber ärgerlich: „Ich und alt! Ja, und? Was denn sonst? Ist es denn möglich? Die hätten mich fast vergessen!“

Aber wer, bitteschön, hätte dann die vielen Nüsse geknackt? Also: geholt hätten sie ihn darum garantiert noch.

Zufrieden und glücklich und in der Hoffnung, dass alles genauso wie in jedem Jahr wird, ließ er sich von Peter, dem kleinen Bruder von Kati, die Treppe ins Wohnzimmer hinunter­tragen. Die ermahnte ihn: „Vorsich­tig, lass ihn ja nicht fallen, sonst geht er kaputt, und wir können sehen, wie wir die Nüsse geknackt kriegen!“

Genau! Rudi war stolz, dass Kati sei­nen Wert erkannt hatte und er das endlich mal hören konnte …

Unten heil angekommen, wurde Rudi auf den oberen Rand vom Kamin gestellt.

Prima! Da war es kuschelig warm, denn Rudi hatte lange genug in der alten Truhe ge­froren.

Und schon am Abend durfte er trotz – zugegebenermaßen – bereits hohen Alters beweisen, wie gut seine Zähne immer noch waren: Er knackte weltmeisterlich Nüsse: Erst für Peter Hasel­nüsse, dann für Kati dicke Walnüsse und später für Vati Paranüsse. Da musste er ganz schön zubeißen, denn die waren besonders hart. Aber, er schaffte es.

Nachdem er zurück auf den Kaminsims gestellt wurde, konnte sich Rudi ausruhen, um dann doch mit Herzklop­fen auf die nächste Auf­gabe und vor allem auf den Heiligen Abend zu warten.

Und der ließ nicht lange auf sich warten:

Es war jedes Jahr dasselbe, aber immer wieder neu und wunderschön: die vielen Päckchen, die bren­nenden Kerzen, das Lachen der Kinder, die mit roten Bäckchen nicht schnell genug ihre Geschenke auspacken konnten. Vater und Mutter freuten sich, küssten sich und gaben sich auch gegenseitig kleine Päckchen. Und für diese einmaligen Momente in seinem Nuss­knackerleben wollte Rudi gern wieder monatelang in der Truhe auf dem Speicher schwit­zen oder frieren.

Hauptsache, man ersetzte ihn nicht mal durch einen jüngeren, schöneren, moderneren Nuss­kna­cker. Aber das war sicher nicht zu befürchten; denn gerade gestern hatte der Vater ihm über den Holzhut gestreichelt und anerkennend gesagt: „Dieser Nussknacker ist einfach der beste! Was der alles zerbeißen kann.“

Nach dem Weihnachtsfest, Anfang Januar, polierte die Mutter Rudis Uni­form, reinigte seine Zähne – und schon wusste Rudi, was dann mit ihm geschah: Wie in jedem Jahr wurde er ins Dachgeschoss getragen und auf den weißen Karton mit den zehn Kugeln gelegt. Er war vom vielen Nüssezerbeißen doch recht erschöpft. Er dachte: „Das Alter spürt man doch – ich bin dankbar für eine große Pause.“

Als die Mutter alle Weihnachtsartikel – wie in jedem Jahr – verstaut hatte und den alten wurmstichigen Deckel der Truhe zuschlug, dachte Rudi sehr, sehr müde: „Jetzt erst einmal schlafen! Auf eine schöne Sache lohnt es sich immer zu warten…“, und schon begannen seine spannenden Träume vom nächsten Weih­nachtsfest.


Das Englein mit dem goldenen Näschen

Autor: unbekannt

 

Auf einer großen Wolke sind viele Englein damit beschäftigt, sich auf das Weihnachtsfest vorzu­bereiten. Überall werden Nüsse vergoldet, Äpfel blank gerieben und Päckchen mit roten Bändern verschnürt.

Wenn die Engel aus der Weihnachtsbäckerei Zuckerwerk und frisches Gebäck bringen, werden sie jedes Mal von den herrlichsten Düften begleitet. Allen läuft das Wasser im Munde zusammen. Aber naschen dürfen die Englein noch nichts, denn all die leckeren Sachen sind für die Kinder auf der Erde bestimmt. Fröhliches Engelslachen erfüllt den Himmel und die schönsten Lieder werden gesungen.

Plötzlich wird es ganz still. Der heilige Nikolaus steht auf einmal da und niemand hat ihn kommen hören. Aber sein liebes Gesicht strahlt vor Vergnügen. "Das habt ihr wirklich nett gemacht", sagt er. "Aber wenn ihr fertig seid, müssen wir noch einmal unsere Lieder proben."

Da fällt sein Blick auf das allerkleinste Englein. Es ist über und über mit Gold beschmiert. Sogar auf dem Näschen sitzt ein kleiner goldener Fleck. Aber das kleine Englein weint bitterlich. Das Kleidchen ist mit Kuchenkrümeln bedeckt und überall liegen Nussschalen herum. Der kleine Tunichtgut hat die Nüsse nicht vergoldet, sondern sie aufgefuttert. Und hat nun schrecklich Bauch­schmerzen bekommen. Mitleidig nimmt der Nikolaus den kleinen Sünder bei der Hand und führt ihn zur Hausapotheke. Dort muss das kleine Englein einen großen Löffel bitterer Magentropfen schlucken.

Später findet die Generalprobe für die kleinen Sänger statt. So gut auch gespielt und gesungen wird – ein musikalischer Störenfried ist dabei. Natürlich ist es das naschhafte Englein.

Beschämt will es sich verstecken, aber der Nikolaus hat es doch entdeckt.

"Du bist wohl noch zu klein, um mitzuspielen", sagt er und nimmt dem kleinen Englein die Flöte weg. Schmollend setzt sich unser kleines Engelchen auf den Wolkenrand und lässt die Beine herun­ter­baumeln. Eine Weile lauscht es noch der Musik, dann sieht es den Schneeflocken zu, die der Wind zu einem lustigen Tanz antreibt.

Unser Engelchen auf der Wolke schaut den Flocken nach. Und als es sich vorbeugt, um einer besonders dicken Schneeflocke nachzuschauen, purzelt es kopfüber hinunter.

War das ein Schreck. Zum Glück hat unser Engelchen Flügel und so landet es wohlbehalten auf der Erde – in der Nähe eines kleinen Dorfes. Ein warmer, goldener Schein strahlt aus allen Fenstern, und geschwind fliegt das Englein darauf zu.

Als es an das erste Haus kommt, schaut es neugierig durch ein Fenster. In der Stube hat gerade ein kleiner Junge seine Weihnachtsgeschenke bekommen. Die Kerzen an dem Tannenbäumchen strah­len so hell, dass unser Engelchen sein vergoldetes Stupsnäschen an die Fensterscheiben presst.

Auf einmal wird es von dem kleinen Jungen entdeckt. Er schaut mit großen Augen auf das Fenster. "Mutti!", ruft er, "gerade war am Fenster ein Englein. Sieh nur den goldenen Fleck!" Die Mutter schaut zu dem Fenster, sie kann das Englein nicht sehen und lächelt ihren Buben an.

Die Christenacht ist herangekommen, und die Menschen streben dem kleinen Kirchlein im Dorf zu. Auch der kleine Junge mit seiner Mutter ist dabei. Plötzlich bleibt er stehen und zeigt auf einige Stellen, an denen das reinste Gold schimmert. Die Spur führt bis zur Kirche.

"Hier ist das Englein gewesen!", sagt der kleine Junge aufgeregt. Die Mutter lächelt nur.

In der Kirche sieht der Junge mit glänzenden Augen zur Decke hoch. Prächtige Gemälde sind dort zu sehen. Von vielen Englein umgeben. Aber eines von ihnen bewegt sich ja!

Der Junge hält den Atem an. Sein Englein sitzt dort oben und sieht mit schelmischem Lächeln

zu ihm herab. Jetzt fällt es mit seinem glockenhellen Stimmchen in den Gesang mit ein:

"Stille Nacht, heilige Nacht ..."

Im Himmel wurde das kleine Englein schon arg vermisst.

Und als es nach dem Weihnachtsgottesdienst wieder in den Himmel kommt, hat es viel von den Menschen auf der Erde zu erzählen. Ja, da staunen die anderen Englein.


 

Schneeflöckchen

oder

‚Vom Salz und vom Wasser der Erde‘

Marion H. Johannknecht

 

 

 

Es war einmal eine kleine Schneeflocke, die wollte sich, als es Weihnachten wurde und alle Schneeflocken vom Himmel fielen, einfach nicht herabschütteln lassen. Immer, wenn der heilige Pe­trus viele ihrer Schneeflockenschwestern zur Erde hinabschicken wollte, versteckte sie sich zwischen den Falten seines wallenden Gewandes. So gelang es ihr einige Male von Petrus unbemerkt zu bleiben. Schließlich aber entdeckte er sie doch und wollte nun zu gerne wissen, warum sie nicht, wie alle Schneeflocken zur Weih­nachtszeit, zur Erde schneien wollte.

Vorsichtig hob der alte Petrus das kleine Schneeflöckchen von seinem Gewand empor und setzte es auf die Spitze seines langen Bartes. Ganz ängstlich schaute es in sein gütiges Gesicht – vor lauter Aufregung schimmerten seine Schneeflockenbäckchen sil­bern und rosa!

Klimper, klimper machten die langen silbrigen Wimpern, als es so ganz voller Ehrfurcht wagte, dem Petrus richtig in die Augen zu schauen. ,,Ich, ich habe solche Angst zur Erde zu schneien“, be­gann es stotternd zu erzählen, ,,weil, weil … weil ich doch genau weiß, dass ich dann sterben werde!“

„Aber warum glaubst du, dass du sterben wirst?“, unterbrach Petrus sie völlig erschrocken.

Schneeflöckchen war nun noch mehr aufgeregt, hüpfte ganz un­ruhig hin und her, während es fortfuhr zu erzählen: „Ja, weißt du, lieber Petrus, viele Schwestern und Freundinnen von mir sind schon gestorben! Weil … das passiert ganz einfach, wenn sie auf Straßen und Wege fallen! Denn nur wenige von uns haben das Glück, sich auf Bäumen und Zweigen niederzulassen und diese dann sanft zu umschließen.“ Und die kleine Schneeflocke fing an, bitterlich zu weinen …

„Ich bin doch so eine schöne Schneeflocke“, schluchzte es, ,,und ich hab’ solche Angst, vom Salz aufgefressen zu werden!“

„Vom Salz aufgefressen zu werden?“, wiederholte der alte Petrus kopfschüttelnd und völlig ungläubig.

„Ja, die Menschen streuen Salz auf ihre Straßen – ich weiß auch nicht warum, aber ich weiß, dass es uns auffrisst und dann bleibt nur noch Wasser von uns übrig, schmutziges Wasser am Straßen­rand“, und die Tränchen flossen durch die langen Wimpern über die rosig silbrigen Bäckchen.

Petrus war ganz gerührt über das, was Schneeflöckchen da sagte. Verstohlen wischte auch er sich eine Träne von der Wange. Dann begann er vorsichtig und sehr lieb zu antworten. „Sieh mal, kleine Schneeflocke, sieh mal hinunter auf die Erde! Dort in einem der vielen Krankenhäuser liegt der kleine David. David war immer sehr stolz, dass er mit seinem neuen Fahrrad jeden Tag zur Schule fahren durfte. Gestern Morgen war es sehr kalt. Es hatte geschneit, und alles war gefroren, so wie das im Winter eben ist. Doch so früh am Morgen, als David zur Schule musste, war noch kein Schnee­pflug gefahren, der die Straßen geräumt hätte. Somit waren sie noch nicht gestreut und gefährlich glatt! David wusste das. Die Mutter hatte ihm immer gesagt, ,,gib’ gut acht David, sei stets vor­sichtig, denn es ist sehr gefährlich, bei diesem Wetter mit dem Fahrrad unterwegs zu sein!“

Und doch geschah das Unglück.

Als David gerade mit seinem Rad in die Schulstraße einbiegen wollte, rutschte es weg und er landete mit einem heftigen Aufprall – fast unter einem Auto! Dem lieben Gott sei Dank hatte der Auto­fahrer gut aufgepasst, sodass nicht noch Schlimmeres geschah!

Ja, liebes Schneeflöckchen, nun liegt der David mit einem gebro­che­nen Bein und etlichen Prellungen im Krankenhaus und kann am Heiligen Abend, wenn das Christkindlein kommt, nicht bei seinen Eltern und Geschwistern zu Hause sein. David ist darüber sehr, sehr traurig und weint sogar, weil er doch viel lieber bei seiner Familie daheim sein würde.“

Mit großen Äuglein hatte Schneeflöckchen fast andächtig zuge­hört. Petrus blickte es noch liebevoller an und sprach weiter: ,,Siehst du nun, kleine Schneeflocke, wie wichtig es ist, dass die Menschen Salz auf ihre Straßen streuen! Denn außer dem David würden sonst noch viel mehr Kinder oder auch Erwachsene aus­rutschen und möglicherweise verunglücken. Und das wollen wir doch nicht, oder?“

„Nein, das will ich nicht“, schluchzte Schneeflöckchen, mit nieder­geschlagenen Äuglein. ,,Ich wusste ja gar nicht, wie wichtig dieses Salz für die Menschen ist!“

„Aber“, sprach Petrus weiter, ,,ich will ein Einsehen mit Dir haben. Du weißt, dass Du eine Schneeflocke bist, wenn auch nur eine sehr kleine, und alle Schneeflocken schneien zur Weihnachtszeit auf die Erde herab! Auch dich darf ich da nicht ausschließen! Doch ich will versuchen, dich so hinabzuschütteln, dass du nicht auf eine Straße fällst. Wenn du dir ein wenig Mühe gibst, kannst du dich auf einem Baum niederlassen und vielleicht einen Menschen sehr glücklich machen.“

O ja, das wollte die kleine Schneeflocke und hatte nun keine Angst mehr, als der heilige Petrus sie mit vielen anderen Schneeflocken zur Erde schüttelte. Kalt war es Schneeflöckchen, sehr kalt, aber es freute sich mit seinen vielen Schwestern und Freundinnen, die lange Himmelsallee hinunterzuschneien.

Auf einer großen Tanne, die starke Zweige hatte, ließ es sich nieder und hielt sich gut fest.

Von der Tanne aus sah es in ein großes Haus mit vielen Fenstern und hellem Licht. In eines dieser Fenster konnte es direkt hinein­schauen. Dort lag ein Junge mit einem verbundenen Bein in einem Bett!

Ja, das war das Krankenhaus, in dem der kleine David lag.

Schneeflöckchen staunte und ihre rosig silbrigen, glühenden Schnee­flockenbäckchen fingen vor lauter Freude an zu leuchten.

„Mama, schau doch mal, es schneit schon wieder“, hörte sie David rufen. „Mama, sieh doch nur, auf der großen Tanne, da funkelt eine Schneeflocke wie ein richtiger Stern!“

In seiner Begeisterung hatte er sich im Bett aufgesetzt und sah nur noch aus dem Fenster hinaus. Die Mutter lächelte, strich David übers Haar und freute sich, dass er nun nicht mehr so traurig war.

David konnte gar nicht genug bekommen! Immer wieder wollte er Schneeflöckchen sehen, die sich alle Mühe gab, um noch schöner zu glitzern und zu strahlen.

„Siehst du David“, liebkoste ihn die Mutter ganz gerührt, ,,nun hast du heute, am Heiligen Abend, deinen eigenen Weihnachtsstern!“

David vergaß all seine Traurigkeit darüber, dass er nun nicht zu Hause sein würde, wenn das Christkind kam. Er hatte seine Schnee­­flocke, die für ihn schimmerte als sei sie der Stern von Bethlehem.

Und Schneeflöckchen?

Auch das schien überglücklich zu sein, dass es nicht als Schnee auf eine Straße gefallen war. Es saß auf dem Zweig dieser starken Tanne und hatte David! Einen Freund auf der Erde, vor der sie sich im Himmel, mit all ihren Schneeflocken-Freundinnen, so sehr gefürchtet hatte.

David hatte bald einen Gips bekommen, mit dem sein gebro­che­nes Bein belastbar wurde. Nun stand er mit seinen beiden Geh­stützen am Fenster, hielt die eine ganz hoch, um sie Schnee­flöckchen zu zeigen. Fast wäre David dabei umgekippt, so viel erzählte und erzählte er. Was er sich zu Weihnachten alles ge­wünscht hatte, von seiner Schule und seinen Freunden, von Lis­beth, seiner kleinen Schwester! Auch davon, dass sie ihm manch­mal auf die Nerven ging, weil sie einfach immer mit seinem großen Feuerwehrauto spielen wollte.

Schneeflöckchen hörte ihm ganz gespannt zu und leuchtete vor lauter Begeisterung. Je mehr Geschichten sie von David erfuhr, desto mehr glitzerten ihre Äuglein und ihre Wangen. Eine ver­zauberte kleine Schneeflocke im Wintersonnenlicht, das nun im­mer öfter durch die Tannen fiel.

Dann kam der Tag, an dem David entlassen wurde.

Der Doktor hatte ihm gesagt, er sei nun wieder so gesund, sodass er nach Hause zu seiner Familie dürfe! David freute sich riesig, gleich würde die Mutter kommen, um ihn abzuholen.

So schnell er konnte, wollte er es Schneeflöckchen erzählen!

Könnte man eine Schneeflocke umarmen? David hätte es am liebsten getan! Schneeflöckchen wusste gar nicht, was da gerade alles passierte, sie strahlte einfach vor lauter Aufregung und freute sich mit David!

Da war aber auf einmal noch ein Gefühl. Eines, das traurig macht und im Bauch und im Herzen so komisch wehtut. Abschied neh­men, bedeutete das wohl … Aber Schneeflöckchen wollte nicht traurig sein, es funkelte in all seinen Farben so gut es nur konnte.

Doch auf einmal liefen Tränchen über seine rosig silbrigen Bäck­chen, als nämlich David am Fenster noch einmal winkte und ihm mit den Fingern ein Herz, auf die beschlagene Scheibe malte.

Das hieß wohl, auf Wiedersehen, kleine Schneeflocke!

Auf Wiedersehen, lieber David!

Es blieb in diesem Winter noch eine ganze Weile kalt und frostig, bis die Sonnenstrahlen schließlich wärmer und es auf einmal so seltsam nass auf den Tannenzweigen wurde.

Plitsch, platsch – plitsch … plitsch, platsch. Was tropfte da?

Was sind das nur für Geräusche, dachte Schneeflöckchen.

Es fragte eine große, dicke Schneeflocke, die immer neben ihm gesessen hatte und auf einmal immer kleiner wurde.

„Wir tauen, kleine Schneeflocke, die Sonne erwärmt uns und wir werden zu Wasser!“

„Aber warum denn? Was ist denn das … tauen? Müssen wir jetzt etwa doch sterben?“, fragte Schneeflöckchen völlig entsetzt. Es spürte wieder diese komische Angst, die es im Himmel hatte, als es so gar nicht auf die Erde schneien wollte.

„Hab’ keine Angst“, beruhigte ihn seine Schneeflocken Freundin besonders lieb. „Träume etwas Schönes und halte dich einfach ganz gut an mir fest! Wir Schneeflocken sind aus vielen Eiskris­tallen, und wenn es im Frühling warm wird, wird es auch uns warm und so verwandeln wir uns von Schnee in Wasser. Dieses Wasser braucht die große Tanne, der Boden darunter, das Moos und all die Blumen, Bäume und Pflanzen, die ohne Wasser nicht leben könnten.“

Und so kuschelten sich zwei Schneeflocken aneinander, schlossen die Äuglein, träumten ihren schönsten Traum und ließen sich von der Sonne erwärmen. Ganz langsam, fast liebevoll behutsam, tropf­ten sie als Tauwasser von der großen Tanne herab.

Überall hörte man die Vöglein zwitschern, als nur wenige Tage später die ersten Frühlingsblumen ihre Köpfchen aus der Erde streckten. Weiße und gelbe Krokusse schauten fröhlich aus ihren grünen Blättern hervor. Buschwindröschen wuchsen auf dem wei­chen Moos und breiteten sich aus, wie ein großer, weißer Teppich. Mittendrin jedoch schien eine Blume die allerschönste sein zu wollen! Mit leuchtenden, silbrig, rosafarben schimmernden und schneeweißen Blütenblättchen wuchs sie genau an der Stelle, an der unser Schneeflöckchen hinabgetropft war.

… und war es ein Wunder, das sie den ganzen Frühling lang blühte?!


Der anonyme Weihnachtsbrief

Elke Link

 

 

Draußen schneite es schon den ganzen Tag.

Und es war fast dunkel, als Amelie ihren Hund Alysha vor die Türe schickte.

Viel zu kalt war es, als dass Amelie es fertiggebracht hätte, mit nach draußen zu gehen. Viel lieber öffnete sie nur einen Spalt weit die schwere Haustüre, damit Alysha durchschlüpfen konnte.

"Komm schnell wieder", rief sie ihm zu.

Aber schon tat es ihr leid, ihn alleine hinausgeschickt zu haben, wo er sich doch immer so freute, gemeinsam mit ihr im Neuschnee ein paar Kurven zu drehen. Sie beob­achtete ihn, wie er noch mit anfänglicher Kraft und seiner Spürnase voraus den Schnee aufwirbelte. Er lief ein paar Mal um den alten Apfelbaum herum, dessen Äste sich von der schweren Last des Schnees fast zum Boden neigten.

Dann sah sie ihn nicht mehr.

Amelie ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen.

Die alte Kaffeekanne stand schon seit dem Morgen auf dem Kamin, sodass der Kaffee noch immer warm war.

Mit der Tasse in der Hand stand Amelie vor der riesengroßen Terrassentür, die sie im Winter nicht mehr öffnen wollte. Amelie stellte dort alle großen Pflanzen hin, damit sie dort überwintern konnten.

Da war der große wuchtige Oleander, dessen Äste Amelie etwas gestutzt hatte.

Die Engelstrompete sah etwas bescheiden aus, weil im Winter nur der Stamm übrig­blieb. Von zwei, drei Blumenkästen mit üppigen Geranien-Überresten konnte sie sich nicht trennen, sodass diese mit der Hoffnung auf Doch-Noch-Überleben auch hier ein Plätzchen gefunden hatten.

Wenn am Nachmittag die Spätsonne Licht auf das kleine Orangenbäumchen und die beiden Aloe-Pflanzen warf, konnte man glauben, irgendwo im Süden zu sein.

Dies war Amelies liebster Ort.

Hier stand – zwischen alle dem Grün – ihr alter gemütlicher Sessel. Sie hatte ihn von ihrer Großmutter geerbt und konnte sich von ihm, obwohl er an den Armlehnen schon etwas verschlissen war, einfach nicht trennen.

Aber nicht nur Amelie hatte ihn zu ihrem Lieblingsplatz erkoren, auch Alysha lag tagsüber, wenn Amelie im Haus zu tun hatte, zusammengerollt dort in der Sonne und genoss zufrieden die Ruhe.

„Alysha“, rief Amelie in die Dunkelheit hinein. 

Zu lange schon war Alysha draußen und sicherlich würde sie gleich wieder voll­kommen durchnässt, jedoch mit frischer kalter Nase und klaren Augen vor ihr stehen.

„Alysha“, rief Amelie ein zweites Mal.

Aber auch diesmal kam der Hund nicht erwartungsgemäß müde herangetrottet, mit dem einzigen Wunsch, endlich rein in die kuschelige Wärme zu kommen.

Diesmal nahm er sich Zeit.

“Zeit für was?“, dachte Amelie, als sie Alysha so gottverloren dasitzen sah, mit dem Blick hinüber zum Nachbargrundstück.

„Ihm wird wohl der riesige Weihnachtsbaum mit den vielen Lichtern gefallen“, auch Amelie fühlte sich bei dem Anblick des Baumes zurückversetzt in ihre Kindheit, als Weihnachten noch das Fest der Liebe für sie war.

Als er das leise Knirschen im Schnee hörte, welches Amelies Herannahen ankündigte, drehte er seinen Kopf zu ihr hin.

In seiner Schnauze hielt er einen großen Briefumschlag.

Amelie versuchte eine Erklärung zu finden, wie denn Alysha an den Brief kommen konnte. Heute Morgen noch hatte sie, wie immer vergeblich, in den Briefkasten ge­schaut.

Immer noch saß Alysha da und seine Augen fragten: „Und …was machen wir jetzt hiermit?“ Er rührte sich nicht vom Fleck.

Amelie stand stocksteif da. Eine gewisse Angst hielt sie davon ab, den Brief Alysha einfach abzunehmen und aufzureißen.

Er war ihr irgend unheimlich.

„Komm Alysha, wir müssen rein“, forderte Amelie ihren Hund auf. Doch der Hund sah sie nur verständnislos an und blickte in die Ferne.

Es war ein trauriger Blick, als wenn er an etwas festhalten wollte, was sich wieder entfernte.

Amelie schielte auf den Brief in Alyshas Schnauze.

„Welch eine schöne Schrift“, durchfuhr es sie, als sie die beiden einzigen Worte las, die auf der Vorderseite des Briefes standen: „Für Amelie“.

Als sie den Brief endlich in den Händen hielt, und ihn umdrehte, bemerkte sie, dass auf der Rückseite kein Absender war.

„Für Amelie“ … las die junge Frau, die schon lange keine Post mehr bekommen hatte. Wer sollte ihr auch schreiben? Sie lebte erst seit 2 Jahren hier, nachdem ihre Großmutter gestorben war und ihr dieses kleine Haus vermacht hatte.

Sie war damals froh darüber und es schien ihr der einzige Ausweg.

Einfach weg aus der Stadt, hierhin, in die Ruhe, weil sie allein sein wollte, allein mit sich und ihrem Hund.Ihre Firma hatte Konkurs angemeldet und Amelie musste, genau wie alle ihre Kollegen, gehen.

Das Schlimmste in dieser Zeit war jedoch die Tatsache, dass Jo ihr keine Hilfe geben konnte. Jo, der ihr sein Leben versprochen hatte und dieses nun mit einer anderen teilte.

Ihren Entschluss, der gewohnten Welt Adieu zu sagen, und sich hier in der Stille auf Wichtigeres zu besinnen, konnten viele ihrer Freunde und Verwandten nicht verstehen und so riss – erst kaum merklich – dann immer mehr – der Faden ab.

Und nun hielt sie diesen Brief in der Hand und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer ihr denn – nach so langer Zeit – einen Brief schicken wollte.

Jo konnte es nicht sein!

Er würde nicht verstohlen hinter einem Baum stehen, und irgendwelche anonymen Briefe vorbeibringen. Er würde … wenn überhaupt … und das wäre sehr fraglich … an der Türglocke klingeln, … mit einem Strauß Rosen in der Hand ... und sie beim Öffnen der Türe … einfach küssen.

Der Brief war nicht frankiert, was darauf schließen ließ, dass er nicht von dem Post­boten gebracht worden war. Der Brief stammte von jemanden, der extra – so kurz vor Weihnachten – persönlich vorbeikam, um ihr – Amelie – diesen Brief zu bringen.

„Alysha hat den Überbringer gesehen“, war Amelies nächster Gedanke.

Sicherlich hätte Alysha gebellt, sollte es ein Fremder gewesen sein.

Das musste bedeuten, dass Alysha den Überbringer kannte.

Und Amelie sah die Spuren im Schnee.

Sie sah sich die Spuren genau an, die jedoch nach kürzester Zeit nicht mehr zu sehen waren, weil es so stark schneite.

„Komm Alysha, kommt rein in die warme Stube“, rief sie dem Hund zu, der gelangweilt neben ihr ins Haus trottete.

Amelie schloss die Haustüre hinter sich und schaltete das Licht über dem Eingang aus, damit es nicht unnütz brannte.

Sie packte Alysha in ein großes Badetuch, und rubbelte ihn trocken.

Dann folgte sie ihm ins Wohnzimmer und ihr Blick fiel auf den Brief, den sie vorhin, wie einen Schatz, auf den runden Wohnzimmertisch, an eine Blumenvase gelehnt, gestellt hatte.

Sie hatte ihn noch nicht geöffnet.

Nur zwei Worte hatten bisher versucht, eine Botschaft zu überbringen:

 „Für Amelie“.

Wer konnte ihr wohl einen Brief schreiben?

In der einen Hand, mit einer neuen warmen Tasse Kaffee bewappnet, in der anderen den Brief haltend, setzte sie sich in ihren gemütlichen Sessel, und während sie noch­mals und immer wieder diese zwei Worte „Für Amelie“ las, ging sie in Gedanken alle Menschen durch, die infrage kamen, ihr einen Brief zu schreiben.

Zu ungewöhnlich war es wohl, sonst hätte sie, einem sonst doch wohl alltäglichen Geschehen – einen Brief zu erhalten – nicht eine solche Beachtung geschenkt.

Nun war es endlich soweit, Amelie hatte den Briefumschlag geöffnet und hielt einen großen zusammengefalteten Bogen Papier in der Hand. Sie drehte ihn hin und drehte ihn her, konnte jedoch wieder nur zwei Worte darauf finden.

Allerdings war das Papier ein ganz besonderes. Es war kein einfaches Schreibpapier, sondern es war aus einem besonderen Material, ganz weich und angenehm anzu­fühlen, und es hatte eine solch wunderschöne Farbe, weder grün, noch blau, noch rot, noch gelb, einfach so, dass es Amelie guttat, auf dieses Blatt Papier zu schauen.

Außerdem duftete es geheimnisvoll, ohne dass sich Amelie darüber klar werden konnte, wonach es roch. „Einfach fein“, und Amelie roch nochmals ganz vorsichtig daran, als wenn sie Angst hätte, dass der gute Geruch sich verflüchtigen würde.

„Frohe Weihnachten“, stand darauf, ganz kurz nur, diese 2 Worte.

Aber diese beiden Worte bedeuteten ihr sehr viel.

Amelie ließ sich in ihren Sessel fallen, den Brief – immer noch in der Hand haltend.

„Wer hat mir diesen Brief geschrieben.

Wer hat sich die Mühe gemacht, dieses schöne Papier auszusuchen.

Wer hat sich die Zeit genommen, um mit dieser schönen Schrift diese zwei Worte zu schreiben.

Irgendjemand – aber wer – hat in diese zwei Worte so viel Liebe gesteckt.“

FROHE WEIHNACHTEN.

Schon wieder hatte Amelie den Brief an ihrer Nase, um ihn danach mit ihren Lippen zu berühren.

Amelie konnte die ganze Nacht nicht schlafen.

Alysha lag – wie jede Nacht – neben ihr in dem großen Metallbett mit der warmen Bettwäsche. Hier oben in dem kleinen Dachstübchen mit der schrägen Zimmerdecke, hatten die beiden eigentlich den „Himmel auf Erden“, denn durch das Dachfenster, welches direkt über Amelies Bett angebracht war, hatte man direkten Blick auf Mond, Sterne, vorbeiziehende Wolken und am Morgen dann, wurde man oftmals von der lieben Sonne geweckt, die einen schönen Tag versprach.

Amelie hatte den ganzen Abend überlegt, wer wohl der Verfasser des Briefes sei. Erst dachte sie stundenlang nach, dann schrieb sie alle ihr einfallenden Namen auf.

Alle ihre Freunde, Bekannte und Verwandte waren auf dem Zettel aufgeführt und ein zweites Blatt reichte auch nicht aus, um alle Namen aufzunehmen.

Diese beiden Blätter nahm Amelie mit nach oben in ihr Dachstübchen und legte diese auf ihr Nachttischchen. Immer wieder knipste sie die Nachttischlampe an, um einen weiteren Namen hinzuzufügen. Und es wurden mehr und mehr.

Aber sie war sich nicht sicher, wer von den vielen, derjenige sei, der ihr diesen lieben Weihnachtsgruß geschickt hatte.

Wer machte sich diese große Mühe, hierhin, viele Kilometer von der Stadt entfernt, zu fahren, um dann unerkannt, ihr diesen Brief zu bringen.

 

Der Morgen kam, und sie war genauso schlau, wie am Vorabend.

Sie wusste es immer noch nicht. Und das ganze Grübeln brachte sie auch in den nächsten Tagen nicht weiter.

Aber sie war so dankbar für diesen Brief.

Er war das schönste Weihnachtsgeschenk. Allerdings auch das einzige.

Und es schneite und schneite und Amelie saß in ihrem gemütlichen Sessel und hielt wie gebannt ihre Zettel in der Hand und las einen Namen nach dem anderen.

Bei dem einen oder anderen Namen musste sie lächeln, bei einigen hielt sie inne, lehnte sich in ihrem Sessel zurück, schloss die Augen, und dachte zurück an ver­gangene Zeiten. Bei manchen verdüsterte sich ihr Blick und sorgenvoll überlegte sie, wie es dem einen oder anderen wohl gehen möge.

Sie erinnerte sich an Krankheiten, wovon sie wusste und sie machte sich Sorgen, Sorgen um ihre Lieben.

Noch unruhiger verbrachte sie die nächste Nacht und sie fasste den Entschluss, Weihnachten zum Anlass zu nehmen, sich wieder zu melden, und allen, die sie kannte, auch einen Weihnachtsbrief zu schreiben.

 

Es war noch dunkel draußen, als Amelie frühmorgens an die Arbeit ging.

Eine Tasse warmen Kaffee neben sich stehend, setzte sie sich, noch im Schlafanzug, an ihren runden Wohnzimmertisch.

Gott sei Dank hatte sie noch das schöne Briefpapier, welches Großmutter jahrzehnte­lang nicht angerührt hatte, und welches immer noch still und fast vergessen in der untersten Schublade des Schrankes ruhte.

Bald waren alle Briefe geschrieben:

Amelie schrieb jedoch 1 Wort mehr: Frohe Weihnachten – Amelie.

 

Der Tag verging wie im Fluge.

Alysha war sicherlich von der Wichtigkeit Amelies Tuns überzeugt, denn sie war mucks­mäuschenstill und rührte sich nur wenige Male, um schnell nach draußen zu eilen, um ihr „Geschäft“ zu machen.

Nachdem Amelie den ganzen Tag wie eine lauernde Katze um ihre zahlreiche Weih­nachtspost herumgeschlichen war, entschied sie sich, die Briefe – nicht – wie einen verkümmerten Versuch, der Welt nochmals ihre Hand zu reichen, zurückzustellen, sondern die Briefe wirklich wegzuschicken.

Am Abend zog sich Amelie ihren dicken Wintermantel und die warmen Stiefel an, um mit Alysha zum Briefkasten zu gehen. Sie hatte die vielen Briefe in einer Tasche verstaut, damit die Schneeflocken die Schrift nicht verwischen konnten.

Einen Brief nach dem anderen warf Amelie in den Briefkastenschlitz, jeder reinfallende Brief war mit lieben Gedanken verbunden, mit einem stillen Gruß.

 

Der Weg nach Hause, die leere Tasche über dem Arm, bereitete den beiden Freude, denn irgendwie lag HOFFNUNG in der Luft, HOFFNUNG in die Zukunft, HOFFNUNG in die Liebe.

 

Die nächsten Tage wollte der Schnee überhaupt kein Ende nehmen.

Man sah keinen Himmel mehr, nicht einmal bis zum Nachbarn konnte man blicken.

Nur der Weihnachtsbaum mit seinen vielen Lichtern blitzte schüchtern durch den dichten Schnee-Nebel, und versprach „Weihnachten“.

Für Amelie und Alysha war wieder EIN Tag, wie der andere.

Doch Amelies Gedanken kreisten um ihre Vergangenheit.

In Gedanken war sie nicht mehr NUR hier.

Heute war Heiliger Abend.

Amelie lag noch im Bett, blickte durch ihr Dachfenster in Richtung Himmel und hörte unten die Türglocke läuten.

„Wer mag das sein“, durchzuckte es sie.

Sie sprang in ihren Morgenmantel, schlüpfte in ihre Hausschuhe und lief die Treppe hinunter. Vor ihr stand der Briefträger mit verwundertem Blick.

„Fräulein Amelie, so was hab’ ich noch nicht erlebt. Bis jetzt hatte ich Ihnen in den zwei Jahren, wo Sie hier wohnen, erst dreimal Post gebracht, und jetzt … hab’ ich eine gan­ze Kiste davon.“

Der Postbote war regelrecht sprachlos. Er öffnete seine große Tasche und überreichte Amelie einen großen Packen Briefe.

Große und kleine, dicke und dünne.

Und in der Kiste, die neben ihm stand, lagen einige kleine Päckchen.

Amelie schaute auf Alysha – Alysha schaute auf Amelie.

Das hatten die beiden noch nicht erlebt.

„Fräulein Amelie, nun werden Sie mal wach, das hier ist kein Traum, das ist Wirklich­keit, und nun nehmen Sie mal die viele Post mit rein, damit sie gelesen werden kann.

Ich muss weiter, denn heute ist Weihnachten und zuhause warten meine Frau und meine Kinder!

Amelie schloss die Türe hinter sich.

Amelie stapelte immer mehr Päckchen und Briefe auf ihren Wohnzimmertisch, sodass plötzlich der ganze Stapel umfiel und alle Briefe und Päckchen auf den Boden purzel­ten, direkt unter den Weihnachtsbaum.

Da war es Amelie klar: Hier in der Einsamkeit würde niemals ihr Leben enden.

Denn – es gab noch so viele Menschen, die sie liebten.


Der Weihnachtstraum

Renate Irina Eidenhardt-Ach

 

 

Das Feuer im Kamin brennt lichterloh. Paul sitzt mit heißen, roten Backen im Wohnzimmersessel und starrt in die lodernden Flammen. Das trockene Holz knackt und kracht. Ein wohliges Gefühl breitet sich in ihm aus. Es ist so ge­mütlich hier in der warmen Stube. Er lugt zu seiner Mutter hinüber, die ganz vertieft an einem kleinen Söck­chen strickt. Der zehnjährige Junge kuschelt sich in seine Decke. Bald ist Weihnachten. Nur noch zwei Türchen seines Adventskalen­ders sind verschlossen.

So richtig freuen kann sich Paul noch nicht auf das Fest. Seine Oma ist vor vier Wochen gestorben und das macht ihn immer noch sehr traurig. So traurig, dass er keine Lust mehr auf Schule hat, keine Lust in seinem Fußballverein zu spielen oder ein paar Takte auf seinem sonst so geliebten Schlag­zeug. Er hört einmal die Mama sagen: „Bert, das wird schon wieder. Lass ihn mal. Die Zeit geht vorüber.“ Und sein Vater meint: „Aber vier Wochen? Wie lange sollen wir denn noch zusehen, wie seine Leistungen abfallen?“

Aber so sehr ihn auch Mama und Papa auffordern, wieder aktiver zu werden, umso mehr fällt er in das große Loch. Paul vermisst seine Oma sehr.

Immer wieder kommen Momente, wo er ganz besonders an Oma denken muss. Sie hatten so viel Spaß miteinander. Oma hat ihn immer zum Lachen gebracht, aber jetzt hat er das Gefühl, er hätte gar nichts mehr zu lachen. Er fühlt sich so allein, zurückgelassen, einfach einsam.

Bei Oma gab es immer Schokolade und Bonbons. Sie hatte ein tolles Versteck in ihrem alten Küchenschrank und Oma hatte nie vergessen, die Vorräte zu füllen, wenn Paul sie be­suchen kam. Oma hatte ihm sogar manchmal in Mathe ge­holfen und ihm die richtigen Zahlen eingeflüstert. Und jeden Mittwoch holte ihn Oma von der Schule ab und sie haben zusammen Pfannkuchen gebacken, mindestens drei­ßig.

Paul schnappt sich seinen Notizblock vom Hocker und be­ginnt gedankenverloren mit dem Bleistift zu kritzeln. Wild kurvt er mit seinem Stift auf dem Zettel herum. Kreise, Ecken, Spitzen, Türme, Dächer und Häuser. Alles Mögliche entsteht auf diesem Blatt. Kritzel Kritzel Kritzel. Er ist so in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkt, als seine Mutter ein Stück Holz im Kamin nachlegt. Die Zeit scheint für ihn stillzustehen. Kritzel Kritzel Kritzel. Auf einmal stellt Paul fest, dass er so ganz nebenbei einen kleinen Engel gemalt hat. Einen wunderschönen, kleinen Engel mit richtig großen, weiten Flügeln und einem bezau­bernden wallenden Kleidchen. Toll sieht der aus! Und noch bevor Paul es über­haupt realisieren kann, springt plötzlich der kleine Engel aus dem Papierblock heraus und stellt sich vor Paul auf die Decke.

„Na endlich“, mault der kleine Engel. „Ich dachte schon, ich komme nie aus dem Blatt heraus!“

Verdutzt starrt Paul auf das kleine Etwas.

„Was ist? Was glotzt du so? Du kennst mich doch!“, sagt der Engel selbstbewusst.

„Ich? Dich kennen? Woher denn?“, fragt Paul zögernd. „Wer bist du?“

„Oh Entschuldigung. Darf ich mich kurz vorstellen? Ich bin Jamin, dein Schutzengel. Du bist aber vergesslich. Ich habe dich beim Sturz von der Rutsche festgehalten, dein Wasser­glas aufgefangen und deine Schuhe aus dem Weg gestoßen, um nur mal ein paar Kleinigkeiten aufzuzählen. Aber das hast du wohl schon wieder verdrängt.“

„Mein Schutzengel?“ Paul verzieht ungläubig sein Gesicht.

„Ja. Ich bin schon dein ganzes Leben bei dir. Du hast mich bloß noch nie gesehen. Ich fliege immer neben dir und pass auf dich auf. Wobei man bei dir schon ziemlich viel Arbeit hat.“

Der Schutzengel gähnt herzhaft und verschränkt erwar­tungs­voll seine Arme.

„Du bist immer bei mir? Überall? Am Spielplatz? In der Schule? Zu Hause? Auf dem Klo?“

„Genau so ist es. Und jetzt bin ich froh, dass du mich end­lich gemalt hast. Wurde ja auch Zeit. Ich habe ein ernstes Wört­chen mit dir zu reden.“

Erstaunt sieht Paul den kleinen Kerl an, der gerade wild mit den Flügeln schlägt.

„Ein ernstes Wörtchen?“

„Ja. So ist es. Seit deine Oma gestorben ist, bist du nur noch traurig. Du spielst keinen Fußball mehr, du bringst deine Matheaufgaben durcheinander und du besuchst nicht mal mehr deinen besten Freund Manuel. Glaubst du, deiner Oma wird das gefallen?“

„Ich weiß nicht, aber ich vermisse sie einfach so sehr. Ich würde sie so gerne besuchen und sehen, ob es ihr gutgeht im Himmel.“

„Kein Problem. Kannst du haben.“

„Wie? Wie meinst du das?“

„Na, wir fliegen in den Himmel hinauf und besuchen deine Oma.“

„Im Ernst? Wie soll denn das gehen? Mit dem Flugzeug?“

„Quatsch. Du hast ja wirklich überhaupt keine Ahnung. Mit Flügeln natürlich.“

„Das ist doch ein Scherz?“

„Schutzengel scherzen nicht, Paul. Ich werde dir diesen Wunsch erfüllen. Schließlich ist in zwei Tagen Weihnach­ten. Ich will, dass du wieder auf andere Gedanken kommst.“

Und noch ehe sich Paul anders entscheiden könnte, packt Jamin den Jungen an der Hand und zieht ihn zu sich.

Paul merkt plötzlich, wie er leichter und immer leichter wird, wie schwerelos er sich auf einmal fühlt. Er spürt, wie er in die Luft gehoben wird und schließlich fliegt.

Rechts und links hat er plötzlich kleine Flügel auf dem Rücken, die er ganz sanft auf- und abbewegen kann. Jamin zieht ihn immer weiter und weiter zu sich hin. Paul hat komischerweise überhaupt keine Angst. Jamin fliegt mit Paul an der Hand Richtung Kamin. Aber zu aller Über­raschung, Paul merkt gar nichts von der glühenden Hitze. Er fliegt mit seinem Schutzengel kurzerhand durch die lodernden Flam­men, durch den verrußten Kamin höher und immer höher. Es kommt ihm wie Sekunden vor, so schnell sind die beiden unterwegs. Jetzt kann er den blauen Himmel sehen und draußen angekommen, auf dem ver­schnei­ten Hausdach, kann Paul sogar im Garten seinen Schneemann und seine Schneeburg entdecken. Da hinten steht sogar noch sein brauner Schlitten.

Paul wundert sich, dass er gar nicht friert. Es ist ja De­zember. Mama würde schimpfen, wenn er ohne Jacke und Mütze draußen spielen wollte. Aber er hat keine Zeit nach­zu­denken. Er fliegt schließlich in den Himmel.

Jamin zieht ihn immer weiter und weiter den weißen Schnee­wolken entgegen. Paul fühlt sich sicher und gebor­gen an der Hand seines Schutzengels. Er vertraut ihm und er freut sich so sehr, endlich seine Oma zu treffen.

Er kann gar nicht abschätzen, wie lange dieser Flug dauert, aber plötzlich schweben die beiden durch ein helles, fast grelles Licht. Ein langer Schlauch, der nur aus strahlendem Licht besteht. Alles fühlt sich plötzlich so herrlich warm an, ganz komisch, es ist doch Winter. Es ist so ruhig und fried­lich hier. Helle Strahlen weisen den beiden den Weg. Sie werden magisch angezogen von der wohligen Wärme.

Als er endlich wieder Boden unter den Füßen spürt, steht er auf einer weichen, weißen Wolke. Paul sieht sich um, und bemerkt erst jetzt, dass er nicht alleine ist. Überall schweben weiße Engel mit strahlenden, glitzernden Klei­dern umher. Einige spielen Fangen, andere hüpfen herum oder schlagen Purzelbäume in der Luft. Ein Engel strahlt fröhlicher als der andere. Sie sehen richtig glücklich aus. Da kommt plötzlich ein riesengroßer, gigantischer Engel auf die beiden zuge­flogen. Paul merkt, dass der Engel nicht sprechen kann und deshalb flüstert er zu Jamin: „Was hat er gesagt? Ich verstehe kein einziges Wort.“

„Das kannst du auch nicht, du Dummkopf. Hier oben im Himmel brauchen wir keine Worte. Wir können uns rein mit unseren Gedanken unterhalten. Sprechen kostet viel zu viel Kraft. Hier gibt es nur Gedanken und Gefühle."

„Aha. Und was hat er gefühlt?“

„Ach, du meinst Engel Fabius? Er wusste schon, dass wir deine Oma besuchen wollen. Er hat gesagt, sie ist auf Wolke fünfzehn.“

Paul kann sich fast ein Lachen nicht verkneifen. Seine Oma sitzt auf Wolke fünfzehn?

„Wenn wir wollen, dann zeigt uns Engel Fabius ein biss­chen den Himmel! Hast du Lust?“

„Und ob, natürlich!“

Paul nickt den beiden Engeln zu, in der Hoffnung, Engel Fabius versteht ihn.

Die drei machen sich auf den Weg und fliegen jetzt zu­sammen noch ein Stückchen weiter hinauf in die weiße Wol­kenpracht. Seine Hand ist irgendwie klatschnass vor Auf­regung, als er sich an Engel Jamin festhält. Paul traut seinen Augen nicht. Da kommen unglaublich viele Kinder auf ihn zu. Alle tragen wunderschöne, weiße Kleider. Sie sehen fast alle gleich aus. Paul spürt, wie glücklich diese Kinder sind. Sie lachen und scherzen und springen fröhlich herum.

„Wo sind wir hier, Jamin?“

Engel Fabius kann Pauls Gedanken lesen und gibt Jamin ein Zeichen.

„Das sind kleine Kinderseelen. Sie warten jeden Tag darauf, dass Gott sie auserwählt und auf die Erde schickt, um ge­boren zu werden.“

Paul sieht ihn erstaunt an.

„Sie suchen mit Gott ihre Eltern aus und werden dann ge­boren?“

„Genau so. Das hast du ja schließlich auch gemacht. Du kannst dich nur nicht mehr daran erinnern.“

Paul bekommt seinen Mund nicht mehr zu.

Schutzengel Jamin und er merken plötzlich, dass Engel Fabius schon ziemlich vorausgeeilt ist. Schnell schnappt sich Jamin Pauls Hand und sie fliegen geschwind hinterher. Sie schweben weiter und weiter durch die weiße Wolken­pracht. Von weitem kann Paul eine wunderschöne Musik hören. Er fühlt sich so richtig friedlich und ruhig. Paul hat überhaupt keine Angst. Er vertraut seinem kleinen Freund.

 

Endlich kommen die drei bei Wolke fünfzehn an. Und da entdeckt er auch schon seine geliebte Oma. Paul kann nicht mehr atmen, er ist so aufgeregt. Er reibt sich erst mal die Augen. Aber als er wieder vorsichtig blinzelt, sieht er erneut seine Oma. Er kann es nicht glauben, aber sie sitzt mit vielen anderen alten Menschen auf der Wolke und spielt Karten. Nein, wirklich. Das wird ihm niemand abkaufen. Die Leute wirken untereinander total vertraut. Sie kom­muni­zieren nur in Gedanken miteinander und lächeln.

Seine Oma liebte auf der Erde das Kartenspielen über alles. Jeder musste mit Oma zocken. Und niemand konnte die Oma jemals besiegen. Aber dass sie hier im Himmel …

Auf einmal treffen sich ihre Blicke. Paul gibt es einen unangenehmen Stich. Er ist gerade wie gelähmt. Da lächelt Oma ihn an und wirft ihm einen Handkuss entgegen.

„Was sagt sie?“

Jamin flüstert leise zu Paul.

„Deine Oma freut sich dich zu sehen. Sie sagt, es geht ihr sehr gut hier und sie ist in Gedanken immer bei dir. Du brauchst dir keine Sorgen machen und vor nichts Angst haben. Du sollst dein Leben genießen, es geht viel zu schnell vorbei. Sie ist jetzt glücklich, wieder bei ihren Freunden zu sein. Und jetzt sollst du aber wieder zurück auf die Erde, sie ist gerade am gewinnen.“

Paul nickt verständnisvoll und muss grinsen. Er greift die Hand von Engel Jamin, winkt kurz seiner Oma und gibt einen Handkuss zurück. Sie sieht wirklich glücklich aus. Mit diesem Bild vor seinen Augen und dem warmen Gefühl in seinem Bauch kehrt Paul seiner Oma den Rücken zu und sie fliegen den langen Weg zurück bis in den grellen Licht­strahl. Paul schwebt schwerelos im hellen Strom. Er dreht sich wirbelnd mit seinen Flügeln und lächelt selig.

Auf einmal bemerkt er eine Stimme. Wo kommt denn nur diese Stimme her?

„Paul? Paul? Wach auf.“

Mama kniet neben Paul vor dem Sessel und streichelt seinen schweißnassen Kopf.

„Paul? Aufwachen. Hast du Fieber?“

Sie sieht ihn sehr besorgt an. Der Junge gähnt herzhaft und streckt sich unter der Decke.

„Fieber? Nein bestimmt nicht. Ich hab voll Lust, Manuel anzurufen. Muss ihn mal fragen, ob er heute noch Zeit hat für eine Schneeballschlacht. Das Leben ist viel zu kurz, Mama.“

Seine Mutter sieht ihn mit offenem Mund überrascht an und schüttelt ungläubig den Kopf. „Was ist denn mit dir los?“

„Nichts. Mama. Mir geht es gut. Ich freue mich jetzt schon richtig auf Weihnachten!“

Bevor Paul aus dem Wohnzimmer rennt, wirft er noch ganz schnell seiner Mutter einen Handkuss zu.


Die himmlische Bescherung

Katharina Hoffmann

 

 

Langsam bewegte ich meinen Fuß über die Hausschwelle und senkte ihn in Zeitlupe auf den frisch gefallenen Schnee nieder. Das schönste knirschende Geräusch der Welt er­tönte und ich bekam Gänsehaut. Ich richtete meinen Blick ge­mäch­lich nach oben und blickte in einen grauen Him­mel, aus dem tausende Schneeflocken herunter­rieselten.

Voller Freude neigte ich meinen Kopf in den Nacken und fing eine Schneeflocke mit meiner Zungen­spitze auf. Viele weite­re kalte Schneeflocken fielen auf meine warmen, roten Wangen und fühlten sich wie kleine Nadelstiche auf meiner Haut an.      

Wie viele Schneeflocken gerade in diesem Augenblick vom Himmel fielen? So eine große Zahl konnte ich mir wahr­scheinlich gar nicht vorstellen.       

Was wäre, wenn alle Schneeflocken Sterne wären, die ich während ihres Falls fangen könnte? Ich würde meine Arme verschränken und mit so viel goldenen Sternen füllen, wie ich tragen könnte. Dann würde ich meiner Mutter all die Sterne schenken. So viel wertvolles Gold würde uns be­stimmt viel Geld beschaffen. Mama müsste weniger in der Fabrik arbeiten, sie hätte viel mehr Zeit, um mit mir zu spie­len und vielleicht könnten wir uns auch mal andere Mahl­zeiten leisten als Haferbrei, Bohnen oder Reis. Meine Freun­de in der Schule haben mir neulich von einer süßen Frucht, in der Farbe der Sonne bei ihrem Aufgang erzählt, welche in riesigen Schiffen von einem anderen Kontinent angeliefert wird. Das wäre das perfekte Weihnachts­ge­schenk.                                                                                        

 

Ich wurde abrupt aus meiner Träumerei gerissen. Eine ver­traute Stimme schallte durch den Flur durch die offene Haus­tür, vor der ich stand. „Komm, mein Lieber, nun ma­chen wir uns auf den Weg zur Kirche! Das Krippenspiel beginnt schon bald.“ Meine Mutter trat aus der Tür und zog einen hölzernen Schlitten, dessen Kufen auf dem stei­ner­nen Flurboden quietschten, hinter sich her. Den Schlit­ten hatte ich ein paar Jahre zuvor von meinem Vater zu Weihnachten geschenkt bekommen. Er hatte damals stun­den­lang an dem groben Holz geschnitzt, bis der ele­gante Schlitten fertig war. Es war eins meiner wertvollsten Erin­ner­ungsstücke an ihn, denn er kam nie aus dem Krieg zurück.

Meine Mutter zog mich auf dem Schlitten bis zur Kirche. Auf dem Weg dorthin bestaunten wir all die kleinen Häus­chen mit den schönen Weihnachtsbeleuchtungen in den Fenstern. Das Licht der Kerzen und der Lichterketten be­leuchtete uns den Weg. Das letzte Stück rannte meine Mutter durch den Schnee und ich streckte meine Hand in den fri­schen Schnee, sodass der pulvrige Schnee durch die Ge­schwindigkeit wie eine Fontäne in die Luft stob. Glück­lich und aus der Puste vom Lachen und Rennen erreichten wir die Kirche.

Das helle Läuten goldener Glocken, glückliche Stimmen und viel Lachen erfüllten die Luft im Inneren der vollen Kirche. Es waren so viele Gäste dort wie an sonst keinem anderen Tag des Jahres. Meine Mutter beugte sich im Ge­dränge zu mir herunter und flüsterte in mein Ohr, dass ich mich zu den anderen Kindern in der ersten Reihe stellen solle, um das Krippenspiel besser zu sehen.

Nach dem Krippenspiel kam der Pastor zu uns Kindern in die erste Reihe. Er trug einen großen roten und scheinbar sehr schweren Sack bei sich und ließ jedes Kind nach­ein­ander hineingreifen. Ich sah, wie alle die Kinder vor mir eine gelbliche Kugel in der Hand hielten, aber ich konnte nicht ausmachen, was es genau war. Vorsichtig griff ich in das dunkle Innere des Beutels und zog auch eine große Kugel heraus.

Unter uns Kindern brach große Freude aus, ich hörte wie die anderen erzählten, dass dies die exotische Frucht, namens ‚Orange‘, sei. Ein paar wohlhabendere Kinder, deren Väter ihnen schon mal Orangen mitgebracht hatten, schwärmten von dem unvergleichlichen Geschmack der Frucht, aber ich konnte nur daran denken, das Gesicht meiner Mutter zu sehen, wenn ich ihr die Frucht zeigte. Sie liebte süße Lebens­mittel und leider hatten wir selten welche zu Hause. Über­glücklich umklammerte ich die Orange und rannte Richtung Ausgang, um zu meiner Mutter zu kom­men.

Rund um die prachtvolle Tür der Kirche herrschte ein bun­tes Chaos aus Familienmitgliedern, die sich suchten oder ge­rade wiedergefunden hatten, und sich in alle Him­mels­rich­tungen auf den Heimatweg machten.

Ich lehnte mich an die dicke Mauer der Kirche und beob­achtete die Menge, um meine Mutter zu finden.

Es wurde immer kälter. Mein Atem verwandelte sich zu klei­nen Wölkchen, die wie meine Träume Richtung Him­mel flo­gen.     

Die Menschenmenge wurde immer lichter und mir wurde immer kälter. Doch meine Mutter war nirgends zu sehen. Mittlerweile zitterte ich wie der Christbaumschmuck im Wind und entschied, alleine nach Hause zu gehen. Ich war den Weg schon tausend Mal gegangen und war mir sicher, mich selbst im komplett Dunklen zurechtzufinden. Trotz der Kälte und der Stille fühlte ich mich sehr wohl, die Wärme des Weihnachtsfests erwärmte mich.

Als ich eine kleine Straße, in der Nähe meines Hauses, er­reicht hatte, sah ich eine dunkle Silhouette unter einer Later­ne kauern. Als ich näherkam, erkannte ich, dass es ein kleiner Junge in meinem Alter war, der zusammen­ge­krümmt im kalten Schnee saß. Er hatte blonde, wuschelige Haare, die ihm teilweise über die Augen hingen, und war in eine braune Decke gehüllt. Seine blaugrauen Augen trafen meine, und ohne nachzudenken ging ich zu ihm hin.

„Hallo, wo ist deine Familie?”, flüsterte ich vorsichtig aus Angst, ihn zu verschrecken.

Er blieb stumm und schaute mir weiter in die Augen.

„Wie heißt du?”, fragte ich weiter. Stille.

„Geht es dir gut?”

Er blieb stumm, doch seine traurigen Augen beantworteten mir die letzte Frage. Ich wusste nicht wie ich ihm helfen konnte, ich war selbst allein und hatte kein Geld oder Nah­rung dabei. Doch dann fiel mir die Orange ein, die ich in meinen durch die Kälte ertaubten Händen hielt. Ich ging zu ihm hin und legte sie in seine geöffneten Hände.

Zum ersten Mal regte sich etwas in seinem unschuldigen Ge­sicht. Er lächelte.

 

Auf dem restlichen Weg nach Hause holte mich die Trau­rigkeit ein. Jetzt hatte ich doch kein Geschenk mehr für meine Mutter. Ich versuchte mich durch das Zählen der fal­len­den Schneeflocken abzulenken, doch gab schnell auf. Dann sah ich unser kleines Häuschen. Die Fenster leuch­teten in einem warmen Licht. Meine Mutter war zu Hause. Ich rannte das letzte Stück zu meinem Haus und Mutter kam aus der Haustür auf mich zugelaufen. „Ich habe schon so lange auf dich gewartet! Ich saß schon eine Zeit lang am Fens­ter! Wo warst du, mein Junge?“, fuhr sie mich aufge­regt an.

Ich fiel ihr in die offenen Arme.

In diesem Moment erkannte ich, dass ich nichts anderes brauchte als sie an meiner Seite. Wir verbrachten einen schö­nen Heiligen Abend vor unserem Kamin und sie er­zählte mir tausend Weihnachtsgeschichten. Ich hätte mir nichts Schö­ne­res für den Abend vorstellen können.

Als es schon kurz vor Mitternacht war, meinte sie, dass es nun Zeit für mich sei, ins Bett zu gehen.

 

Auf dem Weg in mein Zimmer kam ich an der Haustür vor­bei und warf einen Blick durch das danebenliegende Fenster. Ich blieb wie geschockt stehen. Draußen sah ich den kleinen blonden Jungen. Ohne nachzudenken öffnete ich die Haus­tür und ging besorgt zu ihm hin. Doch sobald ich einen Schritt aus der Haustür in den kalten Schnee setzte, ver­schwand die gebückte Gestalt und an ihrer Stelle er­schien ein so helles Licht, wie ich es noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Geblendet schirmte ich meine Augen mit meinen Hän­den ab.

Aus diesem Licht entwickelte sich allmählich eine mensch­liche Form. Sie war größer und heller, als ich sie mir je in meinen Träumen ausmalen könnte. Dennoch fühlte ich mich so geborgen wie schon lange nicht mehr. Ich traute mich nach einer Zeit, dem Wesen in die Augen zu blicken, und war erstaunt wie vertraut mir diese waren. Sie waren dieselben des kleinen Jungens. Er lächelte mich voller Freu­de an.

Nach einem Moment der Stille, in dem wir nur Blick­kontakt hielten, flog der Junge plötzlich senkrecht Richtung Himmel auf. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf seine Flügel, die aus so feinen und doch so starken Federn zu bestehen schienen. Ich blickte ihm wie verzaubert nach.

Erst als die Kälte mich aus meinen Gedanken riss, sah ich, dass an der Stelle, an der sich die Fußstapfen des Engels befinden sollten, ein brauner Korb stand. Er war gefüllt mit Orangen, an denen meine Mutter und ich sicherlich wochen­lang essen könnten. Auf der Spitze des Berges aus Orangen sah ich im Licht der Sterne eine besonders große Orange. Als ich den schweren Korb ins Haus trug, er­kannte ich im Licht, dass die oberste Orange aus glän­zendem Gold war. Ich rief nach meiner Mutter und in Sekundenschnelle war sie an meiner Seite und strahlte vor Freude.

 

Sie fragte mich mit leuchtenden Augen: „Was ist das?“

Ich schaute in den dunklen Nachthimmel und flüsterte ehr­furchtsvoll: „Eine himmlische Bescherung!“


Ein Date mit dem Weihnachtsmann?

Melanie Gräfen

 

 

Kathie war an diesem Morgen schon früh wach. Sie schlen­derte, sich die kleinen Äuglein reibend, in die Küche. Bereits im Flur konnte man einen Hauch von Zimt und den Geruch von Orangen wahrnehmen.

„Guten Morgen, mein kleiner Schatz. Na, hast du gut ge­schlafen?“, fragte Susanne ihre kleine Tochter liebevoll.

Kathie gähnte und setzte sich an den Küchentisch. „Ja.“ Sie lächelte und fragte: „Was riecht hier so lecker?“

„Na was glaubst du wohl?“, lautete Susannes Antwort mit einem spitzbübischen Grinsen.

Kathies Augen wurden groß. „Backst du etwa meine Lieb­lingsweihnachtsplätzen?“

„Da liegst du goldrichtig, mein Spätzchen.“ Susanne strich ihrer Tochter liebevoll über den Kopf. „Wenn du magst, kannst du mir bei dem zweiten Blech helfen und den Teig ausstechen.“

„Oh ja!“ Kathie strahlte.

 Im nächsten Moment trat Becky in den Türrahmen der Küche. Sie war Kathies ältere Schwester und sah müde aus. Träge ging sie weiter in die Küche und ließ sich auf einem der filigran verzierten Stühle nieder. Mit einer Hand stützte sie ihren Kopf und gähnte.

Susanne stellte ihr eine Tasse Tee auf den Tisch.

Becky murmelte nur leise: „Danke.“

Kathie war bereits mit einem Nudelholz bewaffnet und verkündete stolz: „Becky, wir backen meine Lieblings­plätz­chen!“

Becky zog eine Augenbraue hoch und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich sehe es.“

„Hast du nicht gut geschlafen, mein Mäuschen?“, fragte Susanne Becky.

„Och Mama, nerv mich nicht. Ich bin halt noch müde.“ Susanne erwiderte: „Ja, das merkt man. Und deine gute Laune liegt vermutlich auch noch im Bett.“

Kathie wurde ungeduldig: „Mama, los, lass uns anfangen!“

Susanne lächelte und ging zu der Arbeitsplatte, an der Kathie bereits voller Energie stand. Sie zeigte ihr, wie man das Nudelholz richtig hält und ansetzt.

Becky beobachtete die beiden kurz. Dann zückte sie ihr Smartphone und tippte einige Nachrichten.

„Susanne?“, fragte Becky in einem Ton, der schon aussagte, dass sie etwas wollte.

„Ja, Becky?“, kam es gespannt zurück.

„Darf ich später mit Martina und den anderen in die Stadt und ins Kino?“

Kathie war empört: „Aber wir wollten auf den Weihnachts­markt und nach einem Weihnachtsbaum gucken.“

Becky entgegnete genervt: „Das können wir doch auch wann anders tun.“

Susanne: „Kathie, wir können das auch zu zweit machen. Also Becky, ich finde es zwar schade, aber natürlich kannst du etwas mit deinen Freunden unternehmen.“

Becky lächelte ihre Mutter zufrieden an. „Super, danke.“ Sie wollte grade nach ihrem Handy greifen, um ihren Freunden zu schreiben, als Kathie trotzig die Ausstechform eines Tannenbaums auf die Arbeitsfläche der Küche schlug.

„Das ist richtig doof. Wir haben das immer zusammen gemacht.“

„Woah Kathie, ganz ehrlich, langsam nervst du.“

„Gar nicht! Du bist voll egoistisch.“ Mit diesen Worten stapfte sie an ihrer Schwester geradewegs vorbei aus der Küche heraus.

Susanne und Becky sahen sich an. Jetzt hörte man oben eine Tür ins Schloss knallen.

„Was war das denn?“, fragte Becky ihre Mutter verdutzt. Susanne schüttelte grinsend den Kopf und antwortete: „Na, bei wem sie sich dieses Verhalten wohl abgeguckt hat?!“ „Ha ha“, entgegnete Becky trocken.

„Ach Schatz, es ist ihr eben wichtig. Sie sieht zu dir auf und hat dich gerne dabei. Außerdem liebt sie die Weihnachtszeit eben.“

„Na klar, solange man noch an den Weihnachtsmann glaubt, ist das auch etwas anderes.“

„Wieso bist du denn so negativ?“, fragte Susanne, während sie sich ihrer Tochter gegenübersetzte.

„Das Ganze ist doch nichts weiter als ein Konsumevent, das sich über Wochen hinzieht mit dem großen Ziel, dass alle gezwungen einen auf ‚liebevolle Familie‘ tun und am Ende jeder unzufrieden über das ach so falsche Geschenk ist.“

Susanne wirkte entsetzt. „Becky, woher rührt das denn?“

„Ist doch so.“

Susanne griff nach der Hand ihrer Tochter. „Siehst du das bei uns denn wirklich so? Wir hatten doch früher auch immer viel Spaß beim Plätzchen backen. Oder als wir früher noch gemeinsam etwas für die Verwandten als Ge­schenk von dir gebastelt haben. Und den Weihnachts­spaziergang am ersten Weihnachttag und …“

Becky unterbrach sie: „Ja, das stimmt schon. Aber erstens ist das sowieso bei den wenigstens Familien noch so und außerdem endet der Weihnachtsabend selbst doch trotz­dem meist im Streit. Wenn ich allein letztes Jahr an Tante Alice denke. Die muss gar nicht denken, dass ich für die irgendwas besorge. Die braucht den Abend doch richtig, um sich beschweren zu können. Und Opa Gustav ist doch auch immer schlecht gelaunt.“

„Aber Becky, nur weil manche Menschen …“

Becky unterbrach ihre Mutter erneut: „Lass uns nicht mehr diskutierten. Ich finde das auf jeden Fall alles ein riesen Fake.“ Sie stand auf.

Susanne sah sie traurig an. „Und was machst du jetzt?“ Becky verdrehte die Augen. „Na was wohl? Kathie sagen, dass ich mit euch komme.“ Becky verließ die Küche.

Susanne lächelte ihr nach. Dann stand sie auf und küm­merte sich um das Blech, das bereits im Ofen war.

Ein kühler Wind zog umher. Die Straßenbahn war sehr voll. Susanne hatte Kathie an der Hand. Becky warf immer mal wieder einen Blick auf ihr Handy. Endlich kamen sie an der Station an, an der sie aussteigen wollte. Da diese nahe dem Stadtzentrum lag, wollten dies die meisten Reisenden. Von außen sah es aus, als würde eine regelrechte Men­schenmasse aus der Bahn strömen. Becky war sichtlich genervt von dem Gedränge.

Nach einigen Minuten Fußweg waren sie endlich auf dem großen Marktplatz angekommen, auf dem der Weihnachts­markt stattfand. Die ganze Stadt war wahrlich schön ge­schmückt. Mehrere Lichterketten beleuchteten die Szenerie und vermittelten eine sinnlich beruhigende Atmosphäre.

Kathie zog am Arm ihrer Mutter und zeigte auf einen Glüh­weinstand: „Mama, krieg ich einen Kinderpunsch?“ Susanne nickte. Die drei stellten sich an einen Stehtisch, der nahe an einem Heizpilz stand.

„Becky, was möchtest du trinken?“

„Glühwein.“

„Becky, du bist aber erst 16. Wir können uns einen teilen, wenn du magst.“

„Ganz ehrlich, als ob ein Glühwein so schädlich wäre. Das ist doch voll das schwachsinnige Gesetz.“

Susanne gab nach. „Na gut, dann hole ich zwei Glühwein und einen Kinderpunsch. Passt du bitte auf Kathie auf?“ Becky witzelte zufrieden: „Ja ich versuche sie ausnahms­weise nicht umzubringen.“

Susanne stellte sich in der Schlange an.

Kathie sah sich um. Ihre Augen leuchteten.

Becky beobachtete den Ausdruck in dem Blick ihrer kleinen Schwester. Dann folgte sie ihrer Blickrichtung, um zu ver­stehen, was sie eigentlich so faszinierte. Sie sah in die Ge­sichter der Leute, die um sie herum hetzten, sich mit Ta­schen abschleppten, genervt dreinschauten oder sich eng an Men­schen vorbeischoben.

„Woah, sieh mal, der Weihnachtsmann!“

Becky sah ihn ebenfalls. Sie überlegte kurz im Stillen. Dann neigte sie sich zu Kathie und legte ihr beide Hände auf die Schulter. Sie sahen sich in die Augen. „Kathie, das ist nicht der echte Weihnachtsmann.“

Kathie wirkte verunsichert.

„Also, der Weihnachtsmann hat ja unfassbar viel zu tun.“ Becky machte eine kurze Pause. „Und deshalb hat er einige Helfer überall in den größeren Städten.“ Bei diesem Satz gestikulierte sie groß. Dann deutete sie auf den jungen Mann. „Der da ist einer von ihnen. Sie haben Weihnachts­mann­kostüme an, um zu zeigen, dass sie alle dem richtigen Weih­nachtsmann dienen. Und wenn sie Wünsche von den Kin­dern bekommen, geben sie diese natürlich im Bestfall auch direkt weiter.“

Der verkleidete Weihnachtsmann wurde auf die beiden auf­merksam, als Becky auf ihn deutete und beobachtete sie. Kathie war etwas traurig, dass sie doch nicht den richtigen Weihnachtsmann entdeckt hatte, nickte aber verständnis­voll.

Mittlerweile stand der junge verkleidete Mann in unmittel­barer Nähe der beiden und fügte hinzu: „Ja, das stimmt. Kann ich denn hier schon mal einige Wünsche sammeln?“ Sein Blick wechselte von Becky zu Kathie.

Kathie war überwältigt. „Oh wow, und die kommen dann direkt zum richtigen Weihnachtsmann?“

„Ja genau“, antworteten der junge Mann und Becky fast zeitgleich. Daraufhin sahen und lächelten sie sich an.

Kathie zog einen zusammengefalteten Zettel aus ihrer Jackentasche und streckte ihn dem verkleideten Weih­nachts­mann entgegen. „Hier“, sagte sie strahlend.

„Danke, ich werde dafür sorgen, dass der Weihnachtsmann ihn bekommt.“

Nach einer kurzen Pause ermahnte Becky Kathie: „Kathie, wie sagt man?“

„Danke.“

Der junge Mann, der nicht viel älter als Becky zu sein schien, erwiderte: „Keine Ursache, dafür sind wir doch da.“ Dann verabschiedete er sich und verschwand wieder in den Grup­pen von Menschen.

Becky sah ihm noch eine Weile nach, bis ihre Mutter die Getränke auf den Tisch stellte. „Es ist echt mehr los, als ich dachte.“

Kathie konnte nicht innehalten. Stolz erzählte sie ihrer Mutter, was sie gerade für eine Begegnung hatten.

Nachdem sie ausgetrunken hatten und sogar Becky langsam fast in eine Art fröhliche Weihnachtsstimmung gekommen war, suchten sie einen Weihnachtsbaum aus. Er war gerade so groß, ausgiebig geschmückt, aber dennoch ohne Pro­bleme in der Bahn transportiert werden zu können.

Susanne konnte den in einem Netz verpackten Baum ohne Probleme alleine tragen.

Kurz vor der Straßenbahn erspähte Becky den verkleideten Weihnachtsmann von vorher. „Würde es euch was aus­machen, wenn ich etwas später nach Hause komme? Ich will noch was erledigen.“

Susanne war etwas verwundert, nickte aber. „Kein Pro­blem. Sollen wir mit dem Schmücken auf dich warten?“

Zu Susannes Überraschung antwortete Becky: „Ja, das wäre schön.“

Susanne und Kathie stiegen in die Bahn und Becky ging auf den jungen Mann zu. Dieser erkannte sie direkt wieder und sagte keck: „Na, noch nicht genug von dem Weihnachts­trubel hier?“

„Oh doch, aber ich wollte noch mal danke, für das Mit­spielen, sagen.“

„Gern. Ist selten, dass man Leute noch glücklich machen kann.“

Becky nickte. „Ich verstehe den ganzen Weihnachtshype ohnehin nicht.“

Er lachte und sagte: „Ich auch nicht. Ich bin übrigens Jan und habe gleich Pause. Also, falls du Lust hast, das Ge­spräch fortzuführen.“ Er zwinkerte ihr zu.

Kurze Zeit später befanden sich die beiden auf dem Dach eines Parkhauses. Jan setzte sich auf den Boden. Becky war überwältigt. „Das ist ja mal eine Aussicht.“

Jan antwortete: „Ja, das habe ich letztes Jahr in einer meiner Pausen entdeckt. Seitdem bin ich oft hier.“

Becky ließ sich neben ihm nieder. „Und erzähl mal, wieso wird man Weihnachtsmann, wenn man keine Weihnachts­stimmung teilt?“

Er musste schmunzeln. „Wenn ich jetzt sage, ich brauchte Geld, klingt das für einen Weihnachtsmann vermutlich sehr unauthentisch.“

Becky entgegnete lächelnd: „Aber ehrlich. Ich sehe Weih­nachten mittlerweile eher als Event, das einen unter Druck setzt und ohnehin nur Missmut verbreitet. Außerdem steht doch sowieso nur noch der Konsum im Vordergrund.“

Jan sah sie kurze Zeit an.

Das verunsicherte Becky. „Kannst du denn Gegenargu­mente bringen?“

Jan musste lachen. „Wieso fühlst du dich denn direkt in deiner Meinung verunsichert. Ich teile deine Ansicht schon so halb.“

„So halb?“

Jan sammelte sich kurz. „Na ja, das mit dem Konsum, ist ja das, was die Leute daraus machen. Man muss sich ja der Gesellschaft nicht beugen und das teuerste Geschenk be­sorgen. Ich denke, es kommt auf das Miteinander an und was man sich bei einem noch so günstigen Geschenk überlegt hat. Vermutlich hoffen wir doch alle insgeheim, diese kind­liche Naivität wieder zu spüren. Diese wirkliche Liebe für einen besinnlichen Moment und Freude, die man anderen bereitet, einfach dieses glückliche Miteinander spüren.“

„Das sieht man ja auf der Straße, wenn sich alle abhetzen und grimmig schauen, während sie sich fast um das letzte Geschenk prügeln.“

Jan musste nicht lange überlegen und sagte: „Nun ja, da sind wir wieder dabei, dass dieses Wirkliche bei vielen Men­schen verloren gegangen ist, aber wir das bei uns selbst ja nicht zulassen müssen. Und wäre dieser Impuls nicht auch noch in dir, hättest du deiner Schwester vorhin nicht so einen schönen Schein beibehalten wollen.“

„Das ist doch etwas völlig anderes. Sie ist noch so …“

„Fasziniert und glücklich über all dieses Weihnachts­ge­plän­kel?“, unterbrach Jan sie.

Es begann allmählich zu schneien. Dicke, nasse Flocken fielen vom Himmel. Es wirkte in diesem Moment fast ma­gisch.

Nun musste Becky lächeln. „Vielleicht hast du recht.“

Als Becky abends durch die Haustür kam, rannte Kathie ihr bereits mit Lametta in den Händen entgegen und umarmte sie. „Endlich! Los, lass uns den Baum schmücken.“

Becky war von einer unerklärlichen Zufriedenheit einge­nom­men und hatte richtig Spaß am gemeinschaftlichen Schmücken. Sie war unfassbar glücklich über ihre Liebsten, zufrieden mit sich und ihrem Leben.

Der Schnee nahm weiter zu und in dem Licht des ge­schmückten Baums sah es durch das Fenster unfassbar idyllisch aus.


Der Weihnachtswolf

Kerstin Brichzin

 

 

Luftig leicht türmt sich frischer Pulverschnee auf Tannen, Kiefern und auf den Ästen knorriger Eichen. Die Strahlen der Wintersonne blitzen zwischen den Bäumen hindurch und lassen den Waldboden glitzern.

Helen kneift die Augen zusammen und bleibt stehen. Ihre Atemwolken ziehen ein Stück in Richtung Blau des Him­mels, bevor sie sich auflösen. Ihr Blick fällt auf die Kiste mit den Kastanien, das Bündel Heu und den Sack Vogel­futter auf dem Schlitten. Sie schlägt ihre Handschuh­hände an­einan­der und haucht in den plüschumrandeten Stoff.

Schöner kann Weihnachten nicht sein, denkt sie und freut sich auf die kommenden Tage.

Lange schon hat sie nichts gefressen, sie hat die Zeit gebraucht, um die Wunde am Vorderlauf zu lecken. Nun kann sie nicht mehr warten. Langsam kriecht sie unter den tief hängenden Tannenzweigen hervor. Schnee fällt auf ihr dichtes Winterfell, das sie dicker und größer erscheinen lässt. Die Wölfin hebt ihre Nase in den eisigen Wind.

Der Wald schweigt, alles Leben scheint eingefroren zu sein. Doch ab und zu knackt ein Zweig in den Gipfeln der Bäume oder Schnee rieselt herab, wenn ein Eichhörnchen zu einem seiner Herbstverstecke springt oder sich ein Vo­gel von ei­nem Zweig in die Luft erhebt.

Helen zieht am Lederriemen des Schlittens. Gleich wird sie die Lichtung sehen, nur noch der Hügel.

Die Wölfin weiß, wo sie finden kann, was ihr Bedürfnis stillt, in­zwischen kennt sie sich aus. Alle haben das gleiche Ziel. Wenn sie satt sind, werden sie unvorsichtig sein. Dann wird sie etwas reißen können, nur dann. Sie riecht ihre Angst, ihren Schweiß.

Sie rümpft die Nase, fletscht die Zähne. Ein Zittern befällt ihren Körper, lässt sie kurz wanken. Da ist ein Geruch, den sie kennt. Sie muss auf der Hut sein.

Geräuschlos setzt die Wölfin ihre Spuren.

Endlich! Helen schiebt den Schlitten neben die Futterstelle. Schneewolken stieben auf, als sie mit dem Handfeger Fut­ter­reste aus den hölzernen Trögen fegt. Mit dem Taschen­messer schneidet sie den Heuballen auf und verteilt ihn in der Krippe. Ihre Augen suchen im Wald. Wie gerne möchte sie die Rehe sehen, wenn sie das duftende Heu aus der Raufe ziehen. Doch nicht heute.

Mach nicht zu viele Spuren, hat Thomas zu ihr gesagt.

Da knackt es im Unterholz. Helen zuckt zusammen. Lang­sam dreht sie sich um.

Mit gesenktem Kopf tänzelt die Wölfin über die gelben Spritzflecke im Schnee, nimmt deren Geruch in sich auf. Speichel sammelt sich im Maul. Doch das Wild, das sie erkennt, ist zu kräftig, zu gesund für sie allein. Die Unruhe treibt sie weiter, sie kann ihr Ziel bereits sehen.

Der Hirsch mit dem abgebrochenen Geweih! Thomas hat ihr von diesem Prachtexemplar erzählt. Sie zerrt den leeren Schlitten zurück in die alte Spur und zieht an. Nach weni­gen Metern schon dreht sie sich um.

Der Hirsch steht jetzt am Waldrand. Unablässig äugt er zu ihr herüber, sein Atem dampft.

Helen lächelt. Nur Mut, du Schöner. Ihre Blicke huschen umher. Kommen noch mehr? Zwischen den Bäumen ent­deckt sie einen Holzstoß, gestapelt vor langer Zeit. Sie schaut an die Uhr. Ein wenig Zeit bleibt ihr noch. Helen lässt den Riemen des Schlittens fallen und stapft durch den knietiefen Schnee.

Neben einem Busch bleibt die Wölfin stehen und beobachtet den Hirsch, der den Kopf hebt und wittert. Da entdeckt sie den Menschen, der diesen Geruch verströmt, der sie zittern lässt. Doch er ist anders, feiner und süßlicher, als der, den sie kennt. Ihre Schultern spannen sich, ihre Sinne sind gerichtet. Sie darf nicht fliehen. Sie muss fressen.

Helen schaut zwischen den Baumstämmen hindurch, sucht den Hirsch, als ein metallenes Schnappen und ein Klirren die Stille zerbricht. Mit ihrem Schrei stürmt der Schmerz im Bein hinauf, lähmt ihr Gehirn. Weiße Blitze zucken hinter ihren Lidern. Etwas hat sich in ihren rechten Fuß gebohrt. Ohn­mächtig kippt Helen zur Seite.

Meter um Meter nähert sich die Wölfin dem gestapelten Holz. Ihre Läufe zittern. Der süße Duft von Eisen und Blut zieht sie an. Vertraute Bilder platzen auf, drängen ans Licht mit voller Wucht: Sie sieht den Gefährten, der mit ihr durch den Schnee tobt, riecht seinen Atem dicht neben ihrem Gesicht. Wieder dieses metallische Klicken, das Krachen, seinen spitzen Schrei. Sie sieht die Ver­zweiflung, als er versucht, zu entkommen.

Noch einmal hört sie die Männer auf ihren Maschinen, und dann den Knall …

Fiepend beginnt die Wölfin über die Wunde am Fuß des Menschen zu lecken, wie sie es bei ihrem Gefährten getan hat.

Helen spürt etwas Nasses, Raues über ihr Gesicht gleiten. Jeder Versuch, ihre Lage zu verändern, versinkt im Schmerz. Stöhnend lehnt sie schließlich am Stamm einer Kiefer.

Die Wölfin ist zurückgewichen, fletscht lautlos die Zähne.

Helen zittert, jeder Atemzug sticht. Da sieht sie im Däm­merlicht des Tages einen Schatten. „Hey, Hund, wo ist dein Herrchen?“ Ihre Stimme klingt gequält. „Hallo? Ist hier jemand? Bitte helfen Sie mir!“ Helen lauscht.

Die Wölfin weicht weiter zurück, senkt den Kopf und knurrt. Ihre Muskeln sind gespannt.

Helen zieht ihre Handschuhe aus. Sie hält die Luft an und tastet über ihren Schuh. Ihre Finger finden Zähne aus Metall. Sie schluckt den Schrei, Übelkeit nimmt ihr die Luft. Stöh­nend sinkt sie zurück an den Stamm.

Ihre Gedanken rasen. Thomas! Sie klopft ihre Jacken­taschen ab. Irgendwann hält sie inne, als sie es begreift; das Handy liegt im Rucksack, ausgerechnet jetzt.

Sie presst die Lippen zusammen, dreht sich langsam auf die Seite und schiebt sich über den zerwühlten Schnee. Glied für Glied lässt sie die Kette durch ihre Hände gleiten.

Versteckt unter abgeschnittenen Tannenzweigen findet sie den Anker im gefrorenen Boden. Sie schaut hinüber zu dem Schatten, der regungslos steht. Mit bloßen Fingern fängt sie an zu graben.

Bald schüttelt sie ihre Hände, hält sich die Fingerkuppen an die Wangen, wiegt sich vor und zurück. Die Kette klirrt leise. Helen zieht den Ärmel ihrer Jacke ein Stück nach oben und drückt auf den Beleuchtungsknopf ihrer Uhr, halb fünf. Sie werden sie vermissen, doch erst gegen 18.00 Uhr.

Sie legt ihre Hände über den verletzten Fuß, fühlt die klebrige Nässe zwischen den Fingern. Stöhnend streckt sie das andere Bein.

Die Wölfin zuckt mit den Ohren, neigt den Kopf leicht zur Seite. Sie hört die Laute des Menschen, die sie nicht bedrohen.

Helen lehnt den Kopf nach hinten an den Stamm. Sie werden sie suchen, doch morgen erst. Ein Frösteln rollt über ihren Rücken, sie weiß, dass sie nicht einschlafen darf.

„Du, Hund, hörst du? Diese Nacht ist eine besondere Nacht.“ Sie schluckt. „Heilig Abend. Ich wollte mit Tho­mas feiern, bei seinen Eltern. Geht leider nicht. Die Arbeit, ich müsste bald anfangen. Helen lacht auf, doch ihre Augen werden feucht. Bald ziehen Tränen kalte Spuren in ihr Ge­sicht. „Ich feiere einfach mit dir. Frohe Weihnachten, Hund! Du bist doch ein Hund?“

Die Wölfin rückt näher an den Menschen heran. Sie lässt sich in den Schnee sinken und legt ihre Schnauze auf die Pfoten.

„Du könntest auch ein Wolf sein. Quatsch, nicht wahr?“ Helen verändert ihre Haltung, stöhnt kurz auf.

„Thomas, er ist hier Revierförster, hat mir viel von Wölfen erzählt. Er wartet auf sie, möchte sie beobachten, wenn sie hier sind.“ Sie haucht in ihre Hände. „Du frierst bestimmt nicht. In meinem Rucksack drüben auf dem Schlitten hätte ich noch einen dicken Pullover. Den kann ich jetzt brau­chen.“

Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Ich werde dir von Heilig Abend erzählen.“ Sie hält kurz inne.

„Zum Kaffee gibt‘s Stollen, richtig guten. Omas Familien­rezept. Jedes Jahr trifft sich die ganze Familie am ersten Advent zum Backen. Stollen darf man bis Ostern essen, wusstest du das?“

Sie schweigt und lauscht dem Wind, der wieder durch die Baumwipfel rauscht. „Heilig Abend liegen unter dem Tan­nen­baum gefühlt hundert Geschenke. Stell dir die kleine Tanne neben dir vor, geschmückt mit roten Kugeln, Kerzen und Schleifen. Oma hat früher Süßigkeiten und kleine Äpfel drangehängt. Kinderbaum hat sie dazu gesagt.“

Da zerreißt eine Melodie das Rauschen der Nacht.

Die Wölfin hebt den Kopf, ihre Augen suchen eine Bewegung, ihre Nase einen Geruch. Doch sie kann nichts entdecken. Geduckt huscht sie durch den Schnee in die Richtung, aus der das fremde Geräusch kommt.

Helen schlägt die Hände vors Gesicht. Sie rutscht seitlich in den Schnee, rollt sich zusammen, bis das Handy schweigt.

Die Wölfin hört ein Jammern, es klingt verletzt. Unruhe prickelt durch ihre Adern. Sie muss helfen. Ihr scharfer Blick sucht den Menschen am Baum, vergeblich. Sie hebt ihre Nase und heult.

„Du bist kein Hund“, flüstert Helen. Sie schließt die Augen und hört ihm zu, bis er verstummt. Da fühlt sie wieder die raue Zunge in ihrem Gesicht. Schützend hebt sie die Hände, berührt das warme Fell.

Die Wölfin springt zurück und verharrt.

Zögernd legt sie sich nieder.

Helen setzt sich auf und wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht. „Wir machen die Geschenke nacheinander auf. Das macht Spaß und dauert länger, beinahe den ganzen Abend.“ Ihre Gedanken fliegen ins Wohnzimmer ihrer El­tern und finden fröhliche Gesichter.

Der Mond schaut kurz durch die Wolken und gönnt Helen einen Blick. Sie sucht den Schatten am Boden, doch sie kann ihn nur erahnen.

Die Wölfin steht auf. Sie spitzt ihre Ohren und lauscht. Ihre Augen suchen den Wald nach einer Bewegung ab. Da! Ihr Rücken strafft sich. Erst langsam, dann schneller drückt sie ihre Läufe in den Schnee.

Helen atmet aus, als sie das Quieken und das Brechen der Knochen hört. Ein Schauer läuft über ihren Rücken.

Die Wölfin schmeckt das frische Blut. Sie fühlt, wie das kleine Herz aufhört zu schlagen und der Körper in ihrem Maul sich entspannt. Lautlos trägt sie den Fang zu dem Menschen.

Helen harrt auf das, was da kommt.

Als die Wölfin etwas neben sie legt, schaut sie ihr kurz in die Augen. Himmelblaues Eis.

Ihre Finger ertasten lange Ohren, fühlen nasse Wärme im Fell. „Ein Häschen“, flüstert sie, „ein Geschenk?“ Hastig atmet sie ein und aus. Die kalte Luft beißt in ihre Nasen­flügel. „Ich habe wirklich Hunger, aber roher Hase? Nor­malerweise würde ich jetzt Linsensuppe, Bratwurst und Sauerkraut essen.“

Helen zieht den Kadaver auf ihren Schoß und streicht mit den Fingerkuppen das zerzauste Fell in eine Richtung. „Als ich klein war, sind wir am Nachmittag zum Krippenspiel in die Kirche gegangen. Einmal habe ich mitgespielt.“ Sie lacht kurz auf und beugt sich vor, in die Richtung der liegenden Wölfin: „Ich war ein Schäfchen.“

Die Wölfin hebt den Kopf, ihr Blick zielt an Helen vorbei in die Nacht. Langsam streckt sie ihren Körper nach vorn, spannt die Muskeln an und setzt sich in Bewegung.

 

Helen schließt die Augen, als sie das Quieken hört. Ihre Finger bohren sich tief in das Fell des noch warmen Hasen. Da hört sie das gierige Schmatzen.

Wie gut ihr das tut, das warme Fleisch und der Geschmack von Blut. Sie fühlt, wie sich die Spannung in ihrem Körper löst.

Die Wölfin frisst schnell, sie will zurück zu dem Menschen. Sie weiß von der Gefahr, die bald kommen wird. Sie liegt in der Luft, in den Wolken, die sich über ihnen auftürmen. Nur sie kann sie sehen und riechen.

Helen drückt den Beleuchtungsknopf der Uhr. „Elf, die Nacht wird lang, Heilig Abend immer. Als ich klein war, haben wir nach der Bescherung gemeinsam gesungen. Das war schön. Meine Schwester spielte Klavier, ich etwas Gitarre. Manchmal las Mama eine Geschichte vor. Paps mochte das sehr, weil Oma das so gemacht hatte.“

Sie schaut nach oben, fühlt die Kälte der Schneeflocken in ihrem Gesicht, wenn sie tauen. „Du musst mich wecken, wenn ich einschlafe, bitte.“ Sie lehnt sich zurück an den Stamm und schließt die Augen.

Die Wölfin richtet ihre Ohren aus, Richtung Mensch. Er atmet, sie kann es hören. Sein Körper liegt jetzt neben ihr im Schnee. Er zittert nicht mehr. Der Geruch, der von ihm ausgeht, verändert sich, lang­sam.

Fiepend rutscht die Wölfin an den Menschen heran, ihre Nase berührt das Gesicht, es ist kälter als vorhin. Sacht leckt sie es ab.

Der Wind rauscht in den Bäumen, lässt nackte Äste knir­schend aneinanderreiben.

Langsam öffnet Helen die Augen, ihre Gedanken irren um­her. Sie fühlt die Schwere eines Körpers, er ist warm und weich. „Die Christmette“, flüstert sie. Der Körper über ihr strafft sich. „Bleib ... bitte!“

Die Wölfin hebt den Kopf und knurrt leicht. Bald entspannt sie ihre Muskeln und legt sich zurück.

 

„Um Mitternacht sind wir in die Christmette gegangen ... das ganze Dorf, jedes Jahr ... Jesuskind in die Krippe gelegt. Maria ... es geboren ... überall in der Kirche ... Kerzen ... wunderschön ... singen ... mit dem Chor.“ Helen fühlt noch die Hitze, die in ihr aufsteigt und ihre Sinne vernebelt.

Bis in den Morgen hinein wacht die Wölfin über den Menschen, immer wieder leckt sie über das erstarrte Gesicht. Sie spürt den Schnee, der sich leise auf sie türmt.

Da hört sie ein Brummen. Mit steifen Läufen steht sie auf, schüttelt den Schneeberg vom Fell. Ihre Schultern versteifen sich. Sie rümpft die Nase, bleckt die Zähne und knurrt.

Ein Schneemobil quält sich durch den Schnee.

Fiepend stupst die Wölfin in das Gesicht des Menschen. Dann straffen sich ihre Muskeln. Lautlos bahnt sie sich ihren Weg.

Das Erste, was sie spürt, ist wohlige Wärme. Zögernd öff­net sie die Augen.

Ein junger Mann streicht ihr eine Locke aus der Stirn.

„Helen, endlich!“ Seine Augen werden feucht.

„Thomas.“ Helens Stimme klingt rau. „Wo?“

„Du bist im Krankenhaus, mein Schatz, seit einer Wo­che.“ Thomas stützt ihren Kopf und reicht ihr ein Glas.

Helen benetzt ihre Lippen, trinkt einen Schluck. Dann legt sie sich zurück.

Thomas stellt das Glas auf den Nachttisch. „Du bist nicht an dein Handy gegangen. Später hat eine Kollegin bei dir ge­klingelt, sie wollte nach dir sehen. Als sie mir sagte, dass der Schlitten weg wäre, bin ich sofort los.“

„Mein Fuß, und ...?“, flüstert sie und schaut auf ihre ver­bundenen Hände.

„Schatz, bitte, hab Geduld. Es grenzt an ein Wunder, dass du überhaupt überlebt hast.“

„Da war ein Wolf.“

„Es gibt hier noch keine Wölfe, du musst geträumt haben. Schließlich warst du halb erfroren.“

„Er hat mich gewärmt. Sogar einen Hasen hat er mir gebracht.“

„Helen, ich bitte dich, Wölfe würden das nie tun. Sie haben Angst vor Menschen. Sie fliehen, wenn sie nur in ihre Nähe kommen.“

„Er ist bei mir geblieben, die ganze Nacht.“ Sie zögert. „Der Hase, Thomas, vielleicht liegt der Hase noch da.“

„Da war keiner. Aber ... du hast einen Handschuh im Arm gehalten, wie eine Puppe.“

Helen schüttelt den Kopf. „Hab ihm von Weihnachten er­zählt.“ Ihre Stimme zittert.

Thomas lächelt. „Dann war es wohl ein Weihnachts­wolf.“

Er küsst ihre Stirn. „Ja, Schatz, ein Weihnachtswolf.“


Der schönste Finderlohn

Ulrich Borchers

 

 

„Was haben Sie verloren?“ Helge Hansen, Sachbearbeiter im Fundbüro, traut seinen Ohren kaum.

„Na, das Fest. Weihnachten halt“, antwortet der etwas übergewichtige ältere Herr und zauselt mit der einen Hand ständig nervös in seinem mächtigen Bart herum.

„Ach“, erwidert Hansen. Er weiß nicht so recht, was er mit diesem Spinner anfangen soll. Die Verwaltungsabteilung ist nicht untätig gewesen und bietet jährlich Schulungen der Mitarbeiter im Umgang mit schwierigen Kunden an.

Gewalttätig sieht sein Gegenüber ja nicht aus, aber man weiß ja nie. Also entscheidet er sich für die empfohlene Variante, mit den Wölfen zu heulen. Er greift zum Stift. „Wo und wann haben sie es denn verloren?“

Der Alte überlegt: „Hmmm … schwierig. Irgendwann schon vor ein paar Jahren war es einfach weg. Das kann an sich überall gewesen sein. “

„Haben Sie denn schon danach gesucht?“, hakt Hansen nach. 

„Na und wie! Bereits seit September habe ich jahrelang hinter Lebkuchenstapeln im Supermarkt nachgeschaut, et­liche Weihnachtsmärkte habe ich abgeklappert, Radio ge­hört und Ferngesehen. Wenn ich noch einmal ‚Last Christ­mas‘ hören muss … ich weiß nicht, wozu ich dann fähig wäre. Eine Menge habe ich gefunden, bloß nicht mein Weih­nachten. In Kirchen habe ich zumindest ab und zu gespürt, dass es dort mal gewesen sein muss. Sie sind meine letzte Hoffnung.“

Hansen kaut auf seinem Schreiber und nuschelt: „Beschrei­ben Sie es doch mal.“

„Also. Zunächst mal ist es voller Liebe und Dankbarkeit. Schließlich ist es eine besondere Geburtstagsfeier. Und in der wohligen Dunkelheit um uns herum strahlt das helle Licht in allen Räumen. Dort haben sich Menschen zusam­mengefunden, die einander lieben und sich freuen zusam­men zu sein. Sie sind beieinander und lassen sich nicht durch Nebensächlichkeiten ablenken. Ein geschmück­ter Baum zeugt davon, dass es ein besonderer Tag ist und die Kinder staunen, weil sie so etwas nicht alle Tage sehen. Es gibt ein Festtagsessen, eben weil es ein Festtag ist. Alle haben gehol­fen es fertigzustellen, und vorher haben sie zusammen ge­sungen und gebacken und gelacht. Zuneigung kann, wenn man mag, dadurch gezeigt werden, dass man den anderen dann etwas schenkt. Nicht die Menge macht es aus, sondern der Gedanke an den anderen.“ Der Alte kratzt sich am Kopf. „Also so ungefähr jedenfalls. Und es herrscht Freude und Friede überall. Zumindest wünschen sich das alle.“

Hansen schreibt alles auf. Dann hebt er den Kopf und sagt: „Wir rufen sie an, wenn es gefunden wurde. Lassen Sie mir Ihre Nummer da.“ 

Nachdenklich geht Helge Hansen nach Hause. Dort drückt er Anne den Zettel in die Hand und erzählt von dem alten Mann. Sie schluckt. Nach einer Weile sieht sie ihn an und sagt: „Ich kenne dich in- und auswendig. Mir geht es ge­nauso. Na los, ruf ihn an und lad ihn ein, bevor ich hier noch rumheule.“

Satt und zufrieden strahlt die kleine Pia den Baum an und kuschelt sich an den neuen Opa, der ihrer Meinung nach in Wirklichkeit der Weihnachtsmann ist. Er sieht jedenfalls so aus. Reden will sie nicht mehr, ihre Stimme ist ganz kratzig vom Singen. Im nächsten Moment ist sie eingeschlafen. Helge reicht dem Alten ein Geschenk, das dieser vorsichtig und leise öffnet. Ein gerahmtes Foto von Anne, Pia und ihm, wie sie einen Schneemann gebaut haben, der ein Schild trägt: ‚Fröhliche Weihnachten und Friede und Freude überall auf der Welt‘.

Der Alte sieht Helge mit glänzenden Augen an und sagt voller Dankbarkeit: „Sie haben es gefunden.“


Weihnachten in der Berghütte

Hermann Bauer

 

 

Weihnachten stand vor der Tür. In der Großstadt regnete es seit Tagen. Der herbeigesehnte Schneefall blieb wieder mal aus. Die vergangenen Wochen waren wie jedes Jahr viel zu hektisch verlaufen, und so freute ich mich darauf, für einige Tage mit meiner Frau Ina und unserer 7-jährigen Toch­ter Gabi in die Alpen zu unserer Berghütte zu fah­ren.


Am 24.12. stand ich früh auf, verstaute unser Gepäck im Kofferraum unseres Autos und befestigte die Skier auf dem Dachträger. Nach dem Frühstück konnte die Fahrt begin­nen. Die Autobahn war vormittags noch nicht überlastet, aber es goss in Strömen. Der beliebte Rundfunkmoderator, der für seine lockeren Sprüche bekannt war, gab Tipps, wie man schlau um den Stau fährt, und plauderte mit einem Meteorologen, der krampfhaft versuchte, ebenfalls witzig zu sein, was ihm jedoch nicht gelang. Er behauptete, aus den Aufzeichnungen der letzten hundert Jahre gehe ein­deutig hervor, dass die Weihnachtsfeiertage meist schnee­frei ge­wesen seien. Der Schnee falle in der Regel – wenn überhaupt – erst im Januar. Die Vorstellung in unseren Wirrköpfen von weißer Weihnacht sei eine reine Erfindung von cleveren Public-Relations-Managern der Kitschpost­kartenindustrie. Auch eine Bauernregel hatte er für die Tage der Konjunk­turbelebungsfeiern bzw. Kindlein-Kitsch-Kom­merz-Tage parat: „Ist es grün zur Weihnachtsfeier, fällt der Schnee auf Ostereier.“


Gabi, die auf dem Rücksitz saß, meinte: „Papa, jetzt reicht es aber, mach doch bitte das Radio aus, das Gequassel ist ja unerträglich!“ 


Sie hatte Recht. Auch mich störte es, dass die Massen­medien immer wieder versuchen, den Menschen die Weih­nachts­romantik zu nehmen. Außerdem wollten wir uns vom All­tagsstress und dem damit verbundenen akustischen Lärm lösen. Wir alle sehnten uns nach einer fröhlichen Weihnacht voller Harmonie in unserer Hütte ohne fließen­des Wasser, Strom, Internet, Telefon, Zeitung, Radio und Fernsehen. So, wie man eben vor zweihundert Jahren auch Weihnachten feierte – für manche sicher ein unvorstell­barer Gedanke und vielleicht sogar ein Albtraum.

Nach zwei Stunden Autofahrt waren wir fast am Ziel. Wir bogen in die Forststraße ein, die erfreulicherweise geräumt war, und fuhren steiler aufwärts. Der Regen war längst in Schnee übergegangen – es schneite dicke Flocken.


„Wie wäre es jetzt mit einem Weihnachtslied?“, schlug Ina vor.


„Oh ja, eine gute Idee“, sagte Gabi, und wir sangen – da es so gut passte – „Leise rieselt der Schnee, still und starr ruht der See.“

„Stopp, aufhören – das ist ja viel zu tief“, unterbrach Gabi.


Wir begannen noch einmal, diesmal etwas höher. Jetzt hatten wir die richtige Tonart erwischt. Wir waren alle gut bei Stimme – oder war es nur der Hall im Auto? Es klang jedenfalls herrlich!

Als wir die Hütte fast erreicht hatten, sahen wir, dass sie völlig eingeschneit war. Die letzten hundert Meter konnten wir nicht mit dem Auto fahren, denn die Hütte lag auf einem Hügel abseits der Forststraße. Wir stiegen aus dem Wagen und stapften, bis zu den Oberschenkeln im Schnee, hin. Der Schneeräumer lehnte neben der Eingangstür. Ich schnappte ihn mir und schaufelte einen schmalen Tritt frei. Die Fens­terläden waren noch geschlossen. In der Hütte war es kalt und ungemütlich. 


Als erstes heizte ich den Kachelofen in der Stube, anschlie­ßend den Küchenherd, während Ina und Gabi unser Ge­päck aus dem Auto holten.


Eigenartig – bisher war es immer so gewesen, dass Anderl, der pensionierte Jäger, der dreißig Minuten entfernt eine ehemalige Almhütte bewohnte, vor unserem Eintreffen den Weg geräumt, den Kachelofen geschürt, die Fensterläden geöffnet und durchgelüftet hatte. Dann wartete er stets auf uns, zündete sich eine Kerze an, schenkte sich ein Glas Rotwein ein und steckte sich seine geliebte Pfeife in den Mund. Er rauchte nicht jedes Kraut. Er hatte eine ganz bestimmte Marke, die er sich extra aus England schicken ließ. Obwohl Ina und ich immer Nichtraucher waren, mochten wir den leicht süßlichen, würzigen Duft seines Tabaks. Der Geruch fehlte mir jetzt sehr.

Meistens blieb Anderl dann den ganzen Tag, und wenn es spät wurde, übernachtete er bei uns.
Er musste vor ein paar Tagen hier gewesen sein, denn hinter die Hütte hatte er uns – wie jedes Jahr – eine herrliche Blautanne gelegt. Ich trug die Tanne in die Stube.

Nur langsam wurde es wärmer in der Hütte. Das Holz knisterte im Ofen. In der Küche roch es nach Hage­butten­tee, aber es stellte sich noch keine Gemütlichkeit ein.
Ich starrte aus dem Fenster und machte mir um Anderl Sorgen. Er war immer sehr zuverlässig. Wo mochte er jetzt nur sein?

Plötzlich kam ein Wind auf, und es schneite stärker.


Als Ina mich so untätig herumstehen sah, meinte sie: „Du könntest eigentlich Wasser holen!“ 


„Ja, das mache ich gleich“, antwortete ich fast ein wenig gereizt. Ich nahm vier Dreißig-Liter-Kanister, schleppte sie zum Auto und fuhr damit zu einem nahe gelegenen Bach, um sie mit Wasser zu füllen. 


Als ich wieder zur Hütte kam, bereiteten Ina und Gabi gerade etwas zum Essen vor. Ich stürmte in die Küche und fragte vorwurfsvoll: „Habt ihr euch noch keine Gedanken gemacht, warum der Anderl noch nicht da ist?“


„Das ist schon sonderbar“, sagte Ina, und an ihrem Tonfall merkte ich, dass auch sie sich Sorgen machte.


Ich überlegte nicht lange, zog meine Skistiefel an, nahm meinen Rucksack, schnallte meine Skier an und machte mich auf den Weg zum Anderl. Ich wählte den kürzesten Weg in Schleichpfaden durch den Wald. Der Wind pfiff erbärmlich kalt. Der Schnee kam waagerecht dahergeflogen. Sonst herrschte vollkommene Stille. Ich merkte, wie meine Wan­gen immer eisiger wurden. Meine Nase tropfte, an meinen Wimpern hing Eis. Der Weg kam mir endlos vor.

Unglücklicherweise stürzte ich noch, meine Sicherheits­bindung ging auf, und ich hatte Mühe, im Tiefschnee mit Schneeklumpen an der Schuhsohle wieder in die Bindung zu kommen. Plötzlich sah ich im Schnee Hasen- und Reh­spuren. Wenigstens ein Lichtblick. Ich hatte das gute Gefühl, nicht mutterseelenallein hier zu sein.

Endlich hatte ich es geschafft, ich hatte Anderls Hütte er­reicht. Ich klopfte an die Tür, und da der Anderl seine Tür selten zusperrte, trat ich gleich ein. Das Feuer war aus­ge­gangen. Keine Kerze, kein Gaslicht brannte. Auf dem massiven Holztisch stand eine leere Rotweinflasche, das da­neben stehende Weinglas war noch halb voll.


„Anderl“, schrie ich. Kein Laut. Ich klopfte heftig an seine Schlafzimmertür. Keine Antwort. Ich öffnete die Tür. Da sah ich Anderl, die Augen geschlossen, den Mund weit geöffnet, regungslos im Bett liegen. Ich packte ihn am Arm und schrie ihn an: „Anderl.“


Jetzt erst bewegte er seinen Kopf, erschrak, als er mich sah, und fragte: „Was ist los? Wie spät ist es? Warum plärrst du denn wie ein Jochgeier?“
Er sah schlecht aus. Seine Stim­me klang anders als sonst. Auf seinem Nachttisch lagen mehrere Tablettenschachteln.


Anderl stand auf. Er schnaufte wie ein Walross, hielt sich mit der Hand seine Stirn und sagte zu mir: „Hock dich erst mal hin, schenk dir einen Obstler ein, ich bin gleich fer­tig.“


Ich ging zurück in die Stube, holte mir aus der Wandvitrine den Obstler und ein Senfglas – das waren Anderls Schnaps­gläser – und goss mir etwas ein. Ich nippte daran und fühlte, wie mir der 60%ige Schnaps in den Magen rann. Das tat gut nach dem Schreck.


Anderl setzte sich zu mir an den Tisch. Er schälte eine Orange und erzählte: „Ich hatte in letzter Zeit fürchterliche Depressionen. Der Arzt verschrieb mir viel zu starke Ta­bletten, und ich trank dummerweise auch Wein dazu. Irgendwie muss mir das nicht gutgetan haben.“ Er teilte die Orange, reichte mir die Hälfte und schob sich von seiner Stück für Stück in den Mund. Erst als er die Orange gegessen hatte, sprach er weiter: „Jetzt bin ich wieder ge­sund – wie ein junger Hund.“


Wir saßen schweigend am Tisch. Mir gingen viele Ge­danken durch den Kopf, dann fragte ich: „Anderl, meinst du, dass du mit den Skiern zu uns fahren kannst?“


„Aber klar, mein ganzes Leben bin ich auf den Brettern gestanden. Ich schaffe den Katzensprung schon, auch wenn ich nicht so ganz auf dem Dampfer bin.“ Er lachte, zog seinen uralten Anorak an und blickte umher, als ob er etwas suchte. „Ich bin die letzte Woche nicht ins Tal ge­kommen. Heute ist doch Weihnachten. Ich habe überhaupt kein Geschenk für euch.“


„Das ist doch egal. Weihnachten hat doch eine ganz andere Bedeutung. Hauptsache, wir machen uns einen schönen, besinnlichen Abend. Ich glaube, ein Tapetenwechsel wird dir in deiner momentanen Verfassung ganz guttun.“


Anderl öffnete einige Schubladen, ging ins Schlafzimmer, und ich sah, dass er irgendetwas in seine Anoraktasche stopf­te.
„Von mir aus können wir losfahren“, meinte er dann und schnallte sich seine Skier an.


Wir fuhren zu unserer Hütte. Der Schneefall hatte auf­gehört. Der Rückweg fiel mir jetzt wesentlich leichter.

Nach unserer Ankunft gingen Anderl und ich in die Stube. Anderl gab sich zwar große Mühe seine Niedergeschlagen­heit zu verbergen, doch Ina und Gabi merkten sofort, dass er in sich gekehrt war. Eigentlich war er nicht wiederzu­erkennen. Sonst war er eine Stimmungskanone, spielte Gi­tarre und Zither, sang dazu und hatte immer den passenden Witz auf den Lippen.

Der Weihnachtsbaum war schön geschmückt mit Kugeln, Kerzen, Lametta und alten Holzfiguren, die meine Groß­eltern schon an ihrem Weihnachtsbaum hängen hatten. Es duftete nach Glühwein, und auf dem Tisch standen Plätz­chen und Lebkuchen. Vier Kerzen brannten an dem Ad­vents­kranz. Gabi hatte das 24. Türchen ihres Advents­kalenders geöffnet und zeigte uns das Motiv: die Krippe mit dem neugeborenen Kind.
Draußen wurde es dunkel. Ina zündete das Gaslicht an, und wir beschlossen, zu Abend zu essen. Etwas früher als sonst. Es gab geräucherte Forellen. 


Gabi rutschte schon ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie konnte die Bescherung kaum noch erwarten, ob­wohl es gar nicht spannend sein konnte, denn sie hatte sich aus­schließlich Bücher gewünscht. Bisher war es allerdings im­mer so gewesen, dass sie noch irgendetwas dazu bekam. Wir Erwachsenen hatten uns darauf geeinigt, uns nur sym­bolisch eine nützliche Kleinigkeit zu schenken, denn wir lehnten den Konsumterror entschieden ab. 


Alle legten nach dem Essen ihre Geschenke unter den ge­schmückten Baum, und wie jedes Jahr läutete bald darauf ein helles Glöckchen. Nun packte jeder seine Geschenke aus.
Anderl holte etwas aus der Tasche seines Anoraks und drückte es Gabi in die Hand. Ich konnte nicht genau er­kennen, was es war, aber es schien etwas aus Holz zu sein. 


Gabi nahm das Geschenk in ihre Hand, schaute es an und sagte begeistert: „Oh, das ist ein Reh.“


„Genau, das ist es“, bestätigte Anderl. „Schön, dass du so­fort erkannt hast, dass es ein Reh darstellen soll. Ich habe es vor ungefähr fünfzig Jahren geschnitzt. Ich wollte es damals meiner Freundin schenken, hatte aber Bedenken, da ich meinte, es wäre nicht so perfekt geworden. So behielt ich es. Leider habe ich nie mehr etwas geschnitzt. Es ist das einzige Schnitzwerk von mir, und du sollst es jetzt ha­ben.“


„Es ist wunderschön, Anderl, ich danke dir recht herzlich“, sagte Gabi. „Das Reh wird einen besonders schönen Platz in meinem Zimmer bekommen.“

Die anderen Geschenke beachtete Gabi kaum. Sie hielt den ganzen Abend ihr Reh in der Hand und schaute es mit leuchtenden Augen an.


Kommentarlos drückte ich Anderl die Gitarre in die Hand. Die A-Saite fehlte. Wir sangen zu Anderls Gitarren­be­glei­tung die bekanntesten Weihnachtslieder: ‚Leise rieselt der Schnee‘, ‚Oh Tannenbaum‘, ‚Es ist ein Ros’ entsprungen‘, ‚Oh, du fröhliche‘, ‚Kling, Glöckchen, klingelingeling‘, ‚Macht hoch die Tür‘ und natürlich ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘. Auch mit der A-Saite hätte Anderls Gitarrenspiel nur halb so schön geklungen wie in den vergangenen Jah­ren. Trotzdem war die Stimmung sehr feierlich.

Anschließend las ich noch ‚Die heilige Nacht‘ von Ludwig Thoma vor. Bei der Stelle ‚Kommt die heilige Nacht und der Wald ist aufg’wacht, schau’n die Hasen und Reh’, schau’n die Hirsch’ übern Schnee‘, blinzelte Anderl Gabi zu. Gabi war so gerührt, dass sie Tränen in den Augen hatte. Als ich die Geschichte beendet hatte, war Gabi müde und ging mit ihrem Reh in der Hand und stolz wie eine Jungkuh im Früh­ling ins Bett.
Wir Erwachsenen unter­hielten uns noch bis spät in die Nacht bei Glühwein und Gebäck. Für Anderls Gemütszustand war es sehr gut, unter Freunden zu sein, die ihn wieder aufmunterten und ihm neuen Lebensmut gaben.


 

Am ersten Weihnachtsfeiertag schien mir im Bett die Sonne ins Gesicht und weckte mich sanft. Ina schlief noch.

Gabi und Anderl waren schon in der Stube. Gabi bekam im Abstand von jeweils einer halben Minute einen Lachkrampf nach dem anderen. Anderl war scheinbar wieder in seiner Superform. Leise stand ich auf, um Ina nicht zu wecken. Der Frühstückstisch war schon gedeckt, das Feuer nach­geschürt, und Anderl hatte den Weg zur Forststraße bereits geräumt.
Anderls Kaffee war wie immer viel zu stark.

Anderl meinte: „Mich regt nicht der starke, sondern der schwache Kaffee auf“, und lachte, dass seine Zähne blitz­ten. Nach einem kräftigen Frühstück gingen wir alle einige Stunden im Neuschnee spazieren. Der Himmel war herrlich blau, und die Sonne verzauberte mit ihrem hellen Glanz die ganze Natur. Es war wie im Bilderbuch. Gabi hatte natür­lich ihr Reh dabei, das sie von Zeit zu Zeit ansah und auch mit ihm sprach.


 

Anschließend lud uns Anderl in seine Hütte ein. Er reichte uns Schinken, Essiggurken, Silberzwiebeln und Knäcke­brot. Dazu tranken wir ein Fläschchen Rotwein. Kurz bevor es dunkel wurde, verabschiedeten wir uns vom An­derl, denn er wollte jetzt wieder allein sein und sich scho­nen. Er war ja noch nicht ganz gesund. Wir gingen zu unserer Hütte zu­rück.


 

Der zweite Weihnachtsfeiertag bestand hauptsächlich aus Skifahren in der näheren Umgebung.


Drei Monate vergingen. Mich erreichte die traurige Nach­richt, dass Anderl einsam in seiner Hütte gestorben war. Erst nach einer Woche hatte man ihn gefunden. Manche behaup­teten, er habe sich zu Tode gesoffen. Andere deu­teten vor­sichtig an, dass es möglicherweise Selbstmord ge­wesen sei, weil er seine Depressionen nicht mehr habe ertragen kön­nen. Ich glaubte beide Versionen nicht, denn ich kannte den lebensfrohen Anderl zu gut.


 

Es verstrichen zwanzig Jahre. Gabi wohnte nicht mehr bei uns. Sie war inzwischen verheiratet und hatte zwei Kinder. Eines Tages besuchte ich sie. Da öffnete sie einen Schrank, zeigte mir das geschnitzte Reh und fragte mich: „Papa, kannst du dich noch erinnern, wer mir das Reh geschenkt hat?“


„Aber natürlich, Gabi“, antwortete ich, „du hast es als Kind vom Anderl bekommen.“


Gabi meinte nachdenklich: „Ich werde den Anderl nie ver­gessen. Er war ein guter Mensch. Solche Menschen gibt es heute gar nicht mehr. Solange ich lebe, wird er in meiner Erinnerung weiterleben.“


Wie den Menschen

das Weihnachtsfest geschenkt wurde

 

 Michael Hirschler

 

 

Es war einmal im Himmel ein kleiner Engel. Obwohl er jede Aufgabe, die er von den größeren Engeln erhielt, ge­wissenhaft und ordentlich erfüllte, wurde der kleine Engel dennoch nicht sehr von den anderen beachtet. Weil er so klein war, durfte er keine große Verantwortung überneh­men. Er wurde nicht zu den Engelsversammlungen einge­laden, er durfte nicht im Engelschor mitsingen und er durfte auch nicht als Schutzengel auf der Erde tätig sein, um dort auf einen Menschen aufzupassen. Obwohl es dem kleinen Engel nicht gefiel, dass ihm nichts zugetraut wurde, beschwerte er sich nie. Im Stillen wusste er, dass er es allen eines Tages beweisen werde, dass er genauso viel kann wie alle anderen.

Bald nahte der Geburtstag von Jesus und im Himmel herrschte große Aufregung, um alles für die Feier­lichkeiten vorzubereiten. Wieder durfte der kleine Engel nichts ma­chen. Er wollte so gerne bei den Vorbe­reitungen für das Fest von Gottes Sohn mithelfen. Jeder Engel, den er fragte, ob er ihm helfen könne, antwortete ihm: „Du kleiner Engel kannst mir nicht helfen. Setz dich einfach auf den Stuhl dort in der Ecke und sei ruhig!“

Doch der kleine Engel setzte sich nicht auf den Stuhl in der Ecke, sondern flog heimlich auf die Erde, um zu sehen, was die Menschen so taten.

Es war Winter. Es war sehr kalt und die Erde war in dich­ten, weißen Schnee gehüllt. Während der Engel über die Erde flog, erblickte er ein kleines Dorf und näherte sich diesem. Dort bemerkte er eine kleine Hütte, in der ein schwaches Kerzenlicht brannte. Der kleine Engel näherte sich dieser Hütte und sah heimlich durch ein Fenster in das Innere des kleinen Hauses. Er sah eine Frau und einen Mann sowie vier Kinder, einen Sohn und drei Töchter. Sie alle saßen um einen Tisch herum, auf dem ein kleines Stück Brot in einer großen Holzschüssel lag.

„Ich habe Hunger, Mutter“, jammerte einer der Söhne, als ihm laut der Magen knurrte, und fing an zu weinen.

„Ich weiß, mein Liebling, aber mehr als dieses kleine Stück Brot kann ich dir heute nicht geben“, antwortete die Mutter traurig.

Eine der Töchter sagte: „Ich dachte, heute feiern wir den Geburtstag von Jesus. Wieso hilft er uns denn nicht?“

Daraufhin fingen auch alle drei Töchter an zu weinen.

Der Mann blickte traurig zu seinen Kindern und sagte zu ihnen: „Weint nicht, meine Kinder, solange wir auf Gott vertrauen, werden wir es schaffen. Jesus denkt sicherlich auch an uns! Also lasst uns beten!“

Dann faltete der Vater seine Hände zum Gebet und sprach: „Herr, bitte hilf uns. Erhöre unsere Gebete. Meine Frau und ich arbeiten den ganzen Tag und auch unsere Kinder helfen uns sehr, dennoch leiden wir Hunger und haben kaum zu essen. Ich bitte dich, Jesus Christus, lass uns nicht verhun­gern an deinem Geburtstag!“

Als der Engel diese Worte gehört hatte, wurde auch er trau­rig. Diesen traurigen Umstand wollte der kleine Engel än­dern und fasste sofort einen Plan. Er eilte zurück in den Himmel, um Jesus von seinem Vorhaben zu berichten.

Im Himmel herrschte große Aufregung. Alle Engel liefen hin und her, um alles für den Geburtstag von Jesus vorzu­bereiten. Der kleine Engel beachtete keinen von den gro­ßen Engeln, sondern eilte schnell zu Jesus. „Herr“, sagte er, „ich habe auf der Erde eine Familie ge­funden, die sehr nett und hilfsbereit ist, aber auch sehr arm. Die ganze Familie hungert. Herr, sie beten zu dir, dass du ihnen hilfst.

Der kleine Engel machte eine kurze Pause, be­vor er weitersprach: „Herr, erlaube mir, dass ich ihnen helfe. Morgen ist dein Geburtstag und ich möchte, dass sie ihn auch schön feiern können!“

Jesus antwortete freundlich: „Ja, hilf dieser Familie und er­freue die Kinder!“

Am nächsten Abend eilte der kleine Engel mit einem gro­ßen Sack, der mit verschiedenen Dingen vollgefüllt war, auf die Erde zurück. Den ganzen Tag hatte er nachgedacht, wie er die Kinder und die Familie glücklich machen könne.

Da kam ihm eine Idee. Sobald er auf der Erde war, suchte er im Wald nach einem kleinen Bäumchen. Es war Winter und die meisten Bäume hatten ihre schönen Blätter abge­worfen und zeigten jetzt ihre kahlen, braunen Äste. Da stach dem Engel eine Tanne mit ihren schönen grünen Na­deln ins Auge. Er schnitt den Baum ab und flog damit zum Häuschen der Familie. Dort sah der kleine Engel wieder beim Fenster hinein und erblickte die Familie, wie sie ge­rade betete.

Nach dem Gebet ging die Familie schlafen. Sie waren so arm, dass Mutter und Vater sowie alle vier Kinder in einem gemeinsamen kleinen Zimmer schlafen mussten. Als alle eingeschlafen waren, schlich sich der kleine Engel heimlich ins Häuschen. Der Raum, den der kleine Engel betrat, war klein, dunkel und kalt. So holte er vier große Kerzen aus seinem Sack, stellte sie auf den Tisch und zündete sie an. Der dunkle Raum war nun in ein angenehm warmes Licht gehüllt und die großen Kerzen erwärmten allmählich den Raum. Jetzt stellte der kleine Engel mitten im Zimmer den Tannen­baum auf, den er kurz zuvor im Wald abge­schnitten hatte. Der Baum reichte bis zur Decke des kleinen Raumes und hatte dichte, schöne Äste. Leise fing er an, den Baum zu schmücken. Sorgfältig hängte er kleines, süßes Gebäck, ge­trocknete Apfelringe, in weißes Papier gehüllte Nüsse und bunte Bänder auf die Äste. Danach steckte er ein schönes Holzkreuz auf die Spitze der Tanne. Nachdem der Baum fertig geschmückt war, legte der kleine Engel noch Ge­schenke unter den Baum: Einen köstlichen Gänsebraten, einen Korb voll Brot, Obst und Gemüse, und für jedes Kind ein Spielzeug aus Holz. Zum Schluss verbrannte er noch ein paar Weihrauchkörner, deren angenehm süßlicher Duft den kleinen Wohnraum noch festlicher wirken ließ. Nachdem er das alles erledigt hatte, betrachtete der kleine Engel zufrieden seinen schön geschmückten Baum. Er ge­fiel dem kleinen Engel sehr.

Nun holte der kleine Engel eine Glocke aus dem Sack her­vor und klingelte kräftig. Sodann verließ er schnell das Haus und stellte sich zu jenem Fenster, durch welches er schon am ersten Abend die arme Familie beobachtet hatte.

Langsam öffnete sich die Tür des Zimmers, in dem die Familie geschlafen hatte. Das Geräusch der Glocke hatte alle aufgeweckt. Der Vater steckte als erster den Kopf aus der Tür. Als er den hell erleuchteten und angenehm duften­den Raum mit der schön geschmückten Tanne sah, rieb er sich schnell die Augen. Mit geöffnetem Mund blieb er in der Tür stehen. Nun waren seine Frau und seine Kinder auch neu­gierig, warum der Vater ein so überraschtes Ge­sicht machte, und eilten aus dem Zimmer. Auch sie blieben beim Anblick des geschmückten Baumes verwundert ste­hen.

Nochmals rieb sich der Vater seine Augen.

Beim Anblick der überraschten Gesichter musste der kleine Engel freudig lachen.

Niemand von der Familie konnte glauben, was er da sah. Schnell sahen sich alle von ihnen im Zimmer um, ob sie jemanden finden würden, der die Kerzen angezündet, den Baum geschmückt und die Weihrauch­körner verbrannt hatte. Doch sie konnten niemanden entdecken. Dann sagte die Mutter zum Vater: „Es ist ein Geschenk Gottes. Der Herr hat unsere Gebete erhört und sicherlich einem seiner Engel befohlen, dieses Wunder hier zu vollbringen.“

Der Vater nickte zustimmend.

Als die Kinder das viele Essen und die Spielsachen erblick­ten, wollten sie schon zum Baum rennen. Ihr Vater und ihre Mutter aber sagten zu ihnen: „Lasst uns vorher Gott und Jesus Christus sowie allen seinen Engeln für dieses Geschenk danken! Wir wurden erhört und gerettet.“

Zufrieden mit sich selbst flog der kleine Engel in den Himmel zurück. Als er zurückgekommen war, feierten die übrigen Engel schon freudig den Geburtstag von Jesus.

Jesus näherte sich dem kleinen Engel und sagte zu ihm: „Ich danke dir! Du hast mir von allen Engeln das schönste Geschenk gemacht. Du hast nämlich in meinem Namen einer Familie in Not geholfen. Obwohl du so klein bist, hast du dennoch Großes vollbracht! Von nun an wirst du den großen Engeln ebenbürtig sein. Ich danke dir sehr für deine barmherzige Tat! Möge von nun an jedes Jahr zu meinem Geburtstag in jedem Haus ein so schönes Fest gefeiert wer­den.“


Das Geschenk

Katrin Würtz

 

 

Die meisten alten Leute mögen Kinder.

Otto Paschenske war 92 Jahre alt und gehörte definitiv nicht dazu. Die hohen Stimmen taten ihm in den Ohren weh und die Querligkeit führte ihm seinen eigenen Gesund­heitszu­stand vor Augen. Arthritis – so lautete zumindest die Diag­nose seines Arztes. Um diesem entgegenzusteuern hatte er es sich angewöhnt, jeden Tag spazierenzugehen.

Und so machte er sich auch an diesem eisigen, windigen Dezembermorgen auf den Weg.

Mühsam schob er seinen Gehwagen in Richtung Friedhof, wo er seine geliebte Frau Ella besuchte, die vor fünf Jahren von ihm gegangen war. Auf der Hälfte des Weges stand eine alte, verwitterte Bank. Hier verweilte er stets, schonte seine schmerzenden Knie und fand ein wenig Ruhe, ehe er weiter­ging.

Mit der Ruhe schien es an diesem Morgen aber ein jähes Ende zu nehmen, denn auf seiner Bank saß ein kleines Mäd­chen mit pausbäckigem, von der Kälte rotem Gesicht und wilden, braunen Locken, die vom Kopf abstanden. Sie wipp­te und zappelte fröhlich vor sich hin, streckte ihre rechte Hand, die in einem dicken Fäustling steckte, dem alten Mann entgegen: „Guten Tag, ich heiße Marie und wer bist du?“

„Paschenske“, brummte es ihr missmutig entgegen.

„Paschenske“, erwiderte das kleine Mädchen. „Und wie noch?“

„Was gehts dich …“, er überlegte: „Otto.“

Das Mädchen lachte: „Fein, Otto, dann können wir ja jetzt Freunde sein. Willst du mein Freund sein? Ich schaue mir die Vögel an und füttere sie. Willst du mitfüttern?“ Sie hielt ihm eine Tüte mit Brotkrumen hin.

„Nein“, kam die unwirsche Antwort.

„Na, macht nix“, erwiderte das kleine Mädchen: „Dann schaust du halt nur zu.“ Und sie lachte dabei laut und herz­haft.

 

Nach etwa einer halben Stunde, in der sie unentwegt ge­plappert hatte und die Otto vorkam wie eine Ewigkeit, sprang sie von der Bank auf, hüpfte den Weg hinunter und rief: „Tschüss Otto, bis morgen dann.“

‚Bitte nicht‘, dachte Otto. Sein Tag war ihm verdorben.

Was machte er nun morgen? Sollte er denselben Weg gehen oder doch einen anderen wählen, um so wieder Ruhe zu haben? Nein, entschied er. Wegen so einer Göre würde er doch nicht seine Gewohnheiten ändern.

Und so ging er am nächsten Tag wieder zu der Bank, wo das kleine Mädchen schon saß und auf ihn wartete: „Hallo Otto“, rief sie, als sie ihn erblickte. „Ich hab mich schon so auf dich gefreut, komm und füttere die Vögel mit mir. Hast du eigentlich eine Frau? Hast du Kinder? Wie alt bist du? Wo wohnst du?“ Das kleine Mündchen wollte gar nicht stillste­hen.

Dieses Kind, so dachte Otto, war eine wahre Nervensäge – ein Plagegeist.

„O.k., damit du Ruhe gibst: Ich bin 92 Jahre alt, ich hatte eine wundervolle Frau ‚Ella‘, die ist aber schon lange tot und Kinder mag ich nicht. War’s das?“

„Hmm“, das Mädchen schien zu überlegen: „Das mit deiner Frau tut mir sehr leid, aber jetzt hast du mich. Ich muss jetzt auch nach Hause, also bis morgen dann“, rief sie und lief davon.

Das kleine Mädchen kam nun jeden Tag, plauderte mit Otto und leistete ihm Gesellschaft. Und nach einiger Zeit merkte Otto, dass er sich schon so an sie gewöhnt hatte, dass er ganz traurig wurde, als er sie eines Morgens nicht auf der Bank sitzen sah. Er nahm Platz und wartete.

Nach kurzer Zeit kam sie. Nicht hüpfend wie sonst, son­dern langsam. Ihre Hände hielt sie gefaltet, als ob sie darin etwas verbarg.

„Was hast du da?“, fragte Otto.

Das kleine Mädchen öffnete seine Hände einen Spalt und ließ Otto sehen: „Es ist eine verletzte Amsel“, sagte sie. „Sie kann nicht mehr fliegen“ und dabei stiegen ihr Tränen in die Augen. „Kannst du sie wieder gesund machen? Und das bitte bis zum Heiligabend, denn die Amsel soll es doch auch schön haben zu Weihnachten.“

Otto nahm seinen Schal ab, griff vorsichtig nach der Amsel und wickelte sie darin ein. Dann verbarg er sie schützend in seiner Jacke. „Hör zu“, wandte er sich an Marie: „Ich neh­me sie jetzt mit nach Hause und werde sie pflegen. Sollte es mir gelingen, dass sie wieder gesund wird, treffen wir uns hier am Heiligabend wieder. Dann lassen wir sie frei.“

„Oh bitte“, hauchte Marie: „Dann will ich Weihnachten auf euch warten.“

Und so nahm Otto die Amsel mit nach Hause. Jeden Tag fütterte er sie, versorgte ihren Flügel und erzählte ihr von seiner geliebten Frau Ella, die er immer noch sehr ver­misste. Und der Vogel sah ihn mit seinen Knopfäuglein an und schien zu verstehen.

 

Noch drei Wochen bis Heiligabend.

Am 24.12., es setzte gerade leichter Schneeregen ein, nahm Otto einen Pappkarton, den er weich ausgepolstert hatte und setzte die Amsel vorsichtig hinein. Der Flügel war ge­heilt und die Vogeldame wieder gesund.

So schob er seinen Gehwagen in Richtung dem verein­barten Treffpunkt, wo Marie schon auf ihn wartete: „Ich wusste, du kommt, du hast sie wieder gesund gemacht. Ich wusste, du schaffst es.“ Und ehe Otto sich versah, war sie schon auf­gesprungen, hatte ihre kleinen Ärmchen um sei­nen Hals geschlungen und ihn fest an sich gedrückt. „Ich hab dich lieb“, flüsterte sie.

Otto merkte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen: „Na, na“, murmelte er, „so schwer war das doch nicht. Komm, wir lassen sie nun frei.“

„Warte“, sagte das kleine Mädchen: „Bevor du sie freilässt, muss sie noch einen Namen erhalten. Damit wir nach ihr rufen können, wenn sie davonfliegt. Ich weiß auch schon einen: Ich werde sie ‚Ella‘ nennen, denn sie ist genauso bezaubernd, wie du immer von deiner Frau erzählst. Bist du damit einverstanden?“

Otto betrachtete das kleine Mädchen liebevoll. So soll es sein. Er öffnete den Karton und ‚Ella‘ flog davon, landete auf dem nächsten Baum und begann ihr schönstes Lied für Otto und Marie zu singen, als ob sie sich bedanken wolle.

Otto legte seinen Arm um Marie, und gemeinsam lauschten sie andächtig dem Vogelgesang.

Ein zufriedenes Lächeln huschte über Ottos Gesicht. Lange hatte er sich nicht mehr so wohlgefühlt.

Damit hatte das kleine Mädchen etwas Einzigartiges ge­schafft: Sie hatte den alten Mann in tiefster Seele berührt, sodass er sein Herz geöffnet hatte und wieder Freude emp­finden konnte.

Und war dies nicht das schönste Geschenk was man einem Menschen machen kann? Und das nicht nur zu Weih­nach­ten.


Einbruch im Bioladen

Dorothee Großmann

 

 

Als Herr Overhagenböck mit seiner Bestands­aufnahme fertig war, hielt er für die Polizei fest: Es fehlten 14 Tafeln Diät-Schokolade, drei Tafeln normale Schokolade, zwei Netze Cle­mentinen, vier Säckchen Walnüsse, acht Packun­gen Diät-Schokoladenkekse, sechs Packungen Diät-Butterkekse und drei Packungen normale Schokoladenkekse. Nicht einmal mehr die Kun­den eines Bioladens hatten noch Anstand und Moral, sagte er sich, nicht einmal an Weih­nachten. Er schüttelte den Kopf über die Un­ver­frorenheit in seinen Laden einzubrechen.

Die Hintertür war vergangene Nacht aufgehe­belt worden, hatte dabei aber keinen nennens­werten Schaden erlitten.

Was die Polizei jedoch überrascht hatte, und was er sich ebenfalls überhaupt nicht erklären konn­te, war, dass ansonsten nichts gestohlen worden war. Selbst das Geld aus der Kasse, die die An­gestellte zwar vorschriftsmäßig geleert, die Geldscheine jedoch auf dem Tisch in dem All­zweckraum hinter dem Laden vergessen hatte, war liegengelassen worden.

Herr Overhagenböck nahm sich vor, seine An­gestellte zusammenzupfeifen sobald die Poli­zei weg war.

Nur Freizeit und Vergnügen hatte dieses junge Ding im Kopf und vergaß darüber ihre Pflich­ten. Wozu hatte er denn einen Tresor ange­schafft, wenn sie sich nicht die Mühe machte, ihn zu benutzen?

„Und Sie sind sich sicher, dass nichts weiter fehlt?“, der Polizist kratzte sich am Kopf, wäh­rend sein Blick durch den Laden irrte.

Herr Overhagenböck seufzte, diese Frage hatte er heute schon einige Male beantwortet, und so brummelte er nur etwas, was ‚nein‘ oder ‚ja‘ bedeuten konnte und wandte sich wieder dem Auffüllen des leeren Schokoladenregals zu.

Nach einer Weile zog die Polizei schließlich mit den Worten ab, man werde sich bei ihm melden, sobald es neue Informationen gebe.

Herr Overhagenböck machte sich keine großen Hoffnungen, etwas über den Verbleib der Le­bens­mittel zu erfahren und eigentlich war es ihm auch egal. Hauptsache, der Einbrecher würde sich in Zukunft von dem Laden fernhalten. Gleich heute Mittag würde er das größte Vor­hängeschloss, das er bekommen konnte, für die Hintertür kaufen und dann sollte noch einmal jemand versuchen, bei ihm einzubrechen.

Antonia, die Pflegehelferin des Sankt Michael Seniorenheims, wischte sich mit dem Hand­rü­cken über die Stirn. Trotz der Minusgrade drau­ßen schwitzte sie, weil sie gerade Herrn Roth in seinen Rollstuhl gehievt hatte. Sie fragte sich, warum so etwas immer an ihr hängen blieb. Herr Roth schimpfte vor sich hin, als sie ihn aus dem Zimmer schob. Allerdings konnte Antonia es ihm nicht verübeln, schließlich hatte seine Tochter erst vor wenigen Stunden den Besuch heute Nachmittag abgesagt.

Auf dem Gang trafen sie Frau Kraemer, die hinter ihrem Rücken von allen nur die mürrische Rosie genannt wurde. Jetzt schlurfte sie mit ihrem Rollator neben Antonia her, den Blick auf ihre Pantoffeln gerichtet.

„Kommen Sie, wir gehen zur Weihnachtsfeier in den Speisesaal“, sagte Antonia zu Herrn Bee­rens, der unter einer fortgeschrittenen Demenz litt.

Als hätte er sie nicht gehört setzte dieser seinen Weg in die entgegengesetzte Richtung fort.

‚Bin ich eigentlich die einzige, die heute hier arbeitet?‘, fragte sich Antonia, als sie den Roll­stuhl stehenließ und Herrn Beerens an die Hand nahm und ihn in Richtung Speisesaal lenkte. Frau Kraemer hatte inzwischen Herrn Roth allein auf dem Gang stehengelassen und war hinter der Doppeltür verschwunden.

„Geht es endlich weiter?“, fragte Herr Roth. Antonia seufzte, aber dann sagte sie: „Aber sicher.“

An der Tür wäre sie fast mit Anton zusam­mengestoßen, der seit zwei Wochen dem Haus­meister zur Hand ging. ‚

Merkwürdiger Typ‘, dachte sie, hat der nicht schon längst Feierabend?

Als sie eintrat, fiel ihr sofort die Stille auf.

Seltsam, normalerweise herrschte im Speisesaal immer ein Raunen und Wispern, weil jedes Ge­räusch, hundertfach von den Wänden wider­hallte. Plötzlich stürzten alle Bewohner auf den Tannenbaum zu, der mit Strohsternen und Lichterketten geschmückt den Raum überragte. Schuhe und Krücken klackten auf den Boden und Stimmengewirr erfüllte die Luft.

„Das ist meins“, schrie Frau Kraemer und rammte Frau Hemsing ihren Rollator in die Seite. Diese wehrte den Angriff jedoch mit ihrer Krücke ab und schaffte es das Gleichgewicht zu halten: „Ich habe es aber zuerst gesehen.“

Frau Hemsing angelte mit ihrer Krücke nach dem Päckchen, das Frau Kraemer gerade auf­heben wollte.

Frau Kraemer setzte wieder zum Angriff mit dem Rolltor an und Antonia eilte hinzu.

„Was ist hier los?“, fragte sie und zwang mit ihrem Blick Frau Hemsing, die gerade mit dem Päckchen verschwinden wollte, zum Stehen­bleiben.

„Sie hat mir einfach mein Geschenk wegge­nommen?“, Frau Kraemer verzog den Mund und sah aus, als würde sie in Tränen ausbrechen.

Jetzt erst sah Antonia, dass unter dem Weih­nachtsbaum in Geschenkpapier eingewickelte Päckchen lagen. Sie traute ihren Augen nicht, so etwas hatte es hier im Seniorenheim noch nie gegeben. Ein anderes Geschenk hatte Frau Kraemers Interesse geweckt und der Streit schien vergessen.

Herr Beerens hob ein Päckchen hoch und ein Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Antonia sammelte die restlichen Geschenke ein und verteilte sie an die Senioren, die sich nicht bücken konnten.

Als sie fertig war, hielt jeder Bewohner genau ein Geschenk in seinen Händen.

Geschenkpapier raschelte und riss, hin und wie­der von einem Laut der Verzückung begleitet. Die ersten be­gannen ihre Clementinen zu pellen, deren Duft sich im ganzen Speisesaal ausbrei­tete. Einige tauschten die Diätschokolade in normale Schokolade um, andere umgekehrt.

Die Plätzchen vom Bäcker, die sonst den Höhe­punkt der Weihnachtsfeier darstellten, lagen vergessen auf den Tischen.

Am Rande der Feier stand Anton, der vom Gericht wegen einer Reihe von Einbruchs­delik­ten zu 300 Sozialstunden verurteilt worden war. Er beobachtete das Treiben im Saal und summte ein Weihnachtslied.


Das Christkind wird es mögen

Anke Elsner

 

 

„So geht das nicht!“ Bereits zum dritten Mal unterbrach die Lehrerin sein Gitarrenspiel. „Ich möchte, dass du perfekt spielst, jeder Takt, jeder Akkord – alles muss stimmen. Dir fehlt das Gefühl fürs herausragende Ganze. Also noch einmal. Du willst mich doch nicht blamieren. Es sind nur noch zwei Wochen!“

Frustriert schaute er auf das Notenblatt. ‚Stille Nacht, heilige Nacht – Variation‘. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte die Variation im Zertrümmern seines Instruments bestanden.

„Nun, was ist los, ich warte!“

Kai griff entmutigt erneut in die Saiten. Doch auch diesmal gelang es ihm nicht, das Stück fehlerfrei zu beenden.

Als sein Vater ihn abholte und fragte, wie es denn gewesen sei, quälte er sich mit einem Lächeln: „Schon o.k. Ich schaff das bis Weihnachten.“

Weihnachten – ein Fest, auf das er sich in jedem Jahr schon Wochen vorher gefreut hatte. Dieses Mal erwarteten sie sogar Besuch: Nicht nur die Großeltern kamen, sondern auch Tante Inge mit ihren Kindern und Patentante Gertrud mit Mann, also ein richtiges Familienfest. Auf die Frage seiner Mutter, ob er Heiligabend ein paar Lieder spielen könne, hatte er begeistert mit: „Ja, klar, mach ich gerne“, geantwortet.

Gitarrespielen war sein großes Hobby, und er übte jeden Tag in seinem Zimmer nach Anleitungen aus dem Internet. Sogar Notenlesen funktionierte schon perfekt. Allerdings fehlten in seinem Repertoire bisher die Weihnachts­stücke.

Zufälligerweise hing im Supermarkt am schwarzen Brett der Zettel einer Gitarrenlehrerin, die anbot, jedes Kind mit geringen Vorkenntnissen bis Weihnachten soweit zu bringen, dass es mindestens zwei Lieder perfekt spielen könne. Erfreut hatte er zugestimmt, als seine Eltern ihm vorschlugen, doch einmal Unterricht zu nehmen.

Wie sich allerdings hinterher herausstellte, hieß das wichtigste Wort in der Anzeige ‚perfekt‘.

Schon die erste Unterrichtsstunde zeigte ihm, was ihn erwartete.

Ständig mäkelte Frau Schmidt-Lichtenfels an seiner Haltung herum, korrigierte seinen Griff, ließ ihn endlos eine bestimmte Sequenz wiederholen und bescheinigte ihm ein fehlendes ‚Gefühl fürs herausragende Ganze‘. Nach drei Einheiten wäre er am liebsten zu Hause geblieben, aber die Angst, seine Eltern zu enttäuschen, ließ ihn weitermachen.

„Warum spielst du eigentlich nicht mehr Gitarre, wenn du bei dir im Zimmer bist?“ Als seine Mutter eines Abends diese Frage stellte, fiel ihm zunächst keine Antwort ein.

„Ich ... ich ...“ Sein Stottern ließ sie verwundert die Augenbrauen hochziehen.

„Ich lese gerade so ein spannendes Buch.“ Erleichtert unterstrich er die Aussage mit einem heftigen Kopfnicken.

„So? Wie heißt das denn?“

Völlig perplex blickte er sie an. Wie sollte das Buch denn heißen? „Hab’ ich gerade vergessen. Muss jetzt aber noch schnell was lernen für die Schule, wir schreiben morgen eine Mathearbeit.“ Blitzschnell rannte er aus der Küche, bevor weitere Nachfragen kommen konnten.

Noch zweimal musste er zum Gitarrenunterricht. Doch auch in der letzten Stunde behandelte ihn Frau Schmidt-Lichtenfels wieder wie einen totalen Versager.

Diesmal ging er alleine nach Hause. Seine Gedanken kreisten um das bevorstehende Fest.

Wie sollte er diese schrecklichen Lieder bloß spielen? Die Akkorde waren nicht das Problem, aber das andere Drumherum, das ‚Gefühl fürs herausragende Ganze‘, dafür fehlte ihm jedes Ge­spür.

Zuhause angekommen versuchte er wortlos an seinen Eltern vorbeizuschleichen, doch sein Va­ter hielt ihn auf: „Na, wie war heute die Generalprobe?“

Verzweifelt bemühte er sich um einen begeisterten Gesichtsausdruck. „Gut, richtig gut. Allerdings weiß ich nicht, ob ich morgen spielen kann, irgendwie ist mein Handgelenk überanstrengt oder sowas.“ Die Idee war ihm auf dem Heimweg gekommen.

Seine Eltern wechselten einen kurzen Blick. „Na, schauen wir mal. Wahrscheinlich fällt es sowieso kaum auf, weil jeder irgendein Instrument mitbringt. Und wer keins hat, der bekommt das alte Tambourin, die Kastagnetten aus dem letzten Urlaub oder dein Kinder-Xylo­phon.“

Entgeistert starrte er seine Eltern an: „Aber ... das klingt doch dann gar nicht perfekt.“

„Wieso perfekt?“ Lächelnd schaute sein Vater ihn an. „Wichtig ist, dass jeder mitmachen kann und Freude hat. Und wenn mal eine Note nicht passt – das Christkind wird es trotzdem mögen. Ein schönes Weihnachtsfest ist viel wichtiger als ein perfektes Lied.“

In dem Moment ging ein Strahlen über Kais Gesicht. „Ich glaube, bis morgen ist mein Hand­gelenk wieder in Ordnung.

 

Und so wurde der Heiligabend ein ganz besonderes Fest, vor allem der musikalische Teil: Die Eltern spielten Triangel, Großmutter hatte ihr Akkordeon mitgebracht, die beiden Cousinen intonierten die Lieder auf ihren Flöten und alle anderen versuchten sich auf den bereitgestellten Instrumenten.

Und Kai? Kai spielte begeistert Gitarre, glücklich über das schöne Weihnachtskonzert im Kreis seiner Familie, das nicht perfekt, aber eine Freude für alle war.


Hertas größter Wunsch

Elke Link

 

 

Hertas größter Wunsch, einmal wieder – wie früher – Weihnachtsgeschenke kaufen zu können, sollte auch dieses Jahr nur ein Traum bleiben.

Geschenke aussuchen, Geschenke verpacken, Geschenke verteilen ...

 

Schenken – anderen eine Freude machen, in glückliche, dankbare Augen schauen …

Wie oft schon hatte Herta von einer großen Familie geträumt, von Kindern, Enkelkindern, die sie besuchten, die mit ihr Weihnachten feiern wollten.

Eine Holzeisenbahn, eine Puppe mit Schlafaugen, eine kleine Trommel, einen Schlitten, würde sie gerne den Kindern geben. Eine Menge Plätzchen wären zu backen, ein paar gute Flaschen Wein, eine Weihnachtsgans wären zu besorgen.

Es war ein trauriges Jahr, das vergangene.

„Du darfst mich doch nicht auf dieser buckeligen Welt alleine lassen“, flehte Herta ihren langjährigen Begleiter Gabriel Wundersam an, als dieser schon im Frühjahr, als endlich dieser lange, strenge Winter vorüber war, und die Vögel wieder zu zwitschern begannen, nach einer kurzen schlimmen Lungenentzündung, verstarb.

Herta hatte seinen leblosen Kopf wie einen Schatz, den sie zwar berühren, aber nicht beschädigen wollte, gestreichelt. Er hatte damals, als er so still da lag, ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen und Herta fühlte seitdem eine Trostlosigkeit, mit der sie nicht umgehen konnte.

Seit Gabriels Tod gab es wenig, worüber sie sich freuen konnte. Die fröhlichen Zeiten, in denen sie sich an Gabriel anlehnen konnte, waren Vergangenheit. Sie vermisste die wunderbaren Gespräche mit ihm, sein Verständnis für all ihre Sorgen, seine weisen Ratschläge. Er war ein Leben lang ein guter Freund. Ihr bester Freund.

Und nun hatte sie keinen einzigen Menschen mehr auf dieser Welt. Kinder hatte sie keine und alle anderen Verwandten waren längst gestorben.

Einen Ehemann zu bekommen, diesen Wunsch hatte sie schon vor langen Jahren aufgegeben. Vielleicht war er ihr irgendwann einmal begegnet und sie hatte ihn nicht als den ‚Richtigen‘ erkannt.

In der Vorweihnachtszeit saß Herta oft am Fenster ihrer winzigen Ein-Zimmer-Wohnung und schaute nach draußen auf die verschneite Straße. Von hier aus beobachtete sie die vielen Leute, die hektisch ihre Autos auf dem großen Parkplatz parkten, um dann schnell in das gegenüberliegende Einkaufszentrum zu stürzen.

Kinder quengelten, weil sie müde wurden, und selbst der große aufgeblasene Plastik-Weih­nachts­mann interessierte sie schon lange nicht mehr.

Ganz links hinten wurden Weihnachtsbäume verkauft. 7,99 € das Stück. 

7,99 € – was könnte sich Herta dafür alles kaufen. Brot, ein paar Eier, mal wieder ein paar neue Perlon-Kniestrümpfe, die billigen für 5 Stück 1,49 €. Nein – einen Weihnachtsbaum konnte sich Herta aus dem Kopf schlagen.

Herta hatte ein paar Tannenzweige in eine Vase gestellt und ein paar Strohsterne daran gehängt. Eine dicke, rote Kerze stand auf dem alten Kerzenständer, den Herta Jahr für Jahr aus der Schublade hervorholte. Jedes Jahr zu Weihnachten brannte die alte Kerze etwas mehr ab.

Es war kalt heute, es zog ziemlich durch das undichte Fenster. Der Vermieter wollte kein Geld mehr in das Haus stecken und so blieb Herta nichts anderes übrig, als sich den dicken schweren Schal, den sie sich vor einigen Jahren gestrickt hatte, umzuhängen.

Plötzlich legte sie die warme Wolldecke, die sie sich um die Beine geschlagen hatte, beiseite, erhob sich aus ihrem alten Sessel, nahm ihren Mantel vom Haken, zog ihn an, griff in die Tasche, um die Handschuhe herauszunehmen und hielt plötzlich eine Ein-Euro-Münze in der Hand. Sie schaute den Euro an, als sei er etwas Besonderes.

Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht.

Schnell lief sie die Treppe hinunter, überquerte die Straße, zwängte sich mit den vielen Einkaufenden durch die sich ständig automatisch drehende Glastüre hinein ins Kaufhaus. Die Münze hielt sie immer noch fest in der Hand, als sei sie die Fahrkarte ins Schlaraffenland.

‚Klick‘ machte es, als der Euro in der Plastikvorrichtung des Einkaufswagens verschwand und ihn für Herta freigab. Herta schob nun ‚ihren Wagen‘ vor sich her und betrat ihre Traumwelt.

Hier gab es Holzeisenbahnen in allen Größen, in verschiedenen Farben, gelackte und lasierte, mo­derne und auch altmodische, mit großen Rädern und mit kleinen. Herta konnte sich kaum entscheiden, welche sie sich in Weihnachtspapier einpacken ließ.

Hertas Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die vielen Puppen sah. Sie nahm jede einzelne in die Hand, bewegte ihre Arme und Beine, strich ihnen über die Haare, bewunderte die schönen Kleider und konnte sich nicht entscheiden, welche von zweien sie nehmen sollte, sodass sie beide in ihren Einkaufswagen packte.

Warme Pantoffeln könnte Gabriel gebrauchen. Wie oft hatte er sich solche gewünscht und immer wieder verzichten müssen.

‚Welche Größe hatte er noch?‘ Herta konnte sich nicht mehr erinnern. So stapelte sie von mehreren Größen ein Paar in ihren Geschenkekorb.

Ein kuscheliges rosa Nachthemd mit Spitzenrüschen. Davon hatte Herta jahrelang geträumt. Jetzt lag es vor ihr. Wie gut würde es ihr wohl stehen. Auch diesen Wunsch erfüllte sie sich.

Hertas Wunschzettel war schier unendlich. Ihr Wagen war schon so hoch vollgeladen, dass kaum noch etwas reinpasste. Einige Male purzelten kleinere Geschenke hinunter und Herta bemühte sich, jedes, aber auch wirklich jedes Teil aufzuheben und wieder zurück in den Einkaufswagen zu legen.

Etwas neidisch blickten ein paar Leute ihr nach, einige lächelten, weil sie erkannten, wie sehr sich diese alte Frau freute, Geschenke einkaufen zu können. Man sah es ihr an, dass sie lange nicht mehr so glücklich war.

Der Lautsprecher riss sie aus ihrem Traum.

„Liebe Kunden! Unser Geschäft schließt in 5 Minuten. Wir bitten Sie, die Kassen aufzusuchen!“

Und dann hörte sie Gabriels Stimme aus der Ferne: „Herta, Du musst wach werden.“

Die alte Frau reckte ihren Kopf und blickte in die Richtung, in der sie Gabriel vermutete. Da sah sie ihn, wie er ihr zuwinkte.

„Komm Herta, es ist Zeit, wir müssen nach Hause. Lass doch den Wagen einfach dort stehen, Du hast ja jetzt alle Deine vielen Geschenke eingeladen, abholen werden wir ihn später mal.“

Und dann stand er neben ihr, nahm sie an der Hand und führte sie zum Ausgang.

Herta strahlte ihren Gabriel an und dachte: ‚So froh war ich lange nicht mehr!‘


Das krumme Tannenbäumchen

Ina Klose

 

Weihnachten stand vor der Tür, und draußen stürmte und schneite es unaufhörlich. Die Bäume sahen aus, als wären sie aus Zucker. Der Förster ging mit seinem Holzhacker in den Wald, um Tannenbäume für den Weihnachtsmarkt zu schlagen. Sobald der Förster einen schönen Baum gefun­den hatte, sägte ihn der Holzhacker ab. Als sie nach Stunden genug Bäume geschlagen hatten, luden die beiden alle auf einen großen Schlitten, den zwei starke Pferde zogen, und fuhren zum Weihnachtsmarkt.

Ein Bäumchen hatte der Holzhacker zwar gefällt, doch da der kleine Stamm so krumm gewachsen war, ließen die beiden es liegen.

 

Das krumme Tannenbäumchen war nun so traurig, dass dicke Harz­tränen den Stamm hinunter­kullerten. Wie sehr hatte es gehofft, geschmückt mit Kerzen, Kugeln, Strohsternen, Lametta am Heiligen Abend vielen Men­schen Freude bringen zu können. Stattdessen lag es gefällt im Schnee. „Nun sterbe ich, ohne ein Weihnachtsbäumchen gewesen zu sein“, weinte es leise.

Es hatte ja keine Ahnung, dass es Weihnachtswunder gibt und sein Kummer bald vorbei sein würde.

Denn am Heiligen Abend kam das Christkind auf die Erde. Es schlich uner­kannt durch kleine Dörfer und schaute – meistens zufrieden – in die Fenster, wo in warmen Zimmern Kerzen brann­ten, und es überall erwartet wurde.

 

Als es plötzlich ein altes Häuschen am Rande des Dorfes entdeckte, wo kein einziges Licht brannte, schlich es zu einem Fenster und schaute hin­ein.

Es sah drei schlafende Kinder. Dann ging es leise zum nächsten Fenster. Da sah es eine weinende Mutter, gramgebeugt auf dem Stuhl sitzen.

 

Das Christkind wusste sofort, dass hier eine einsame Frau mit ihren drei Kindern lebte, die zu arm war, um den Kleinen einen Heiligen Abend mit warmem Essen, einem Christbaum und ein paar Geschen­ken zu bereiten. Ihr Mann war vor vielen Jahren gestorben. Die fleißige Frau ging des Nachts in der Schule zum Putzen, um den Lebensunterhalt für sich und die Kinder zu verdienen und am Tage bei ihnen zu sein.

 

Heute am Heiligen Abend brauchte sie nicht arbeiten, hatte aber ihre Kin­der nach dem kargen Abendbrot zu Bett gebracht, damit sie nicht zu trau­rig sein müssten. Sie hatte für sich nichts mehr zu essen und legte sich dann hungrig in ihr Bett und faltete ihre Hände.

Traurig sagte sie leise: „Lie­ber Gott, es soll doch Weihnachtswunder geben – bitte lass doch für meine Kinder eines geschehen! Nur ein kleines, damit sie auch spüren, dass Weihnachten ist.“

Das Christkind stand ergriffen am Fenster. Als es das Gebet gehört hatte, eilte es in den Wald. Im Mondlicht fand es das krumme Tan­nenbäumchen, das es rasch ins Dorf zurückbrachte.

Übrigens: Das Christkind kann alle Türen und Fenster am Heiligen Abend öffnen, auch die ver­schlos­senen.

Nun trat es in die Küche, schmückte den krummen Baum mit vielen schö­nen Glaskugeln, Stroh­sternen, Schleifen, Lametta und roten Kerzen.

Draußen stand der mit vielen Geschenken bepackte Schlitten des Christkinds – es nahm für jedes Kind ein Päckchen herunter, legte alle unter den kleinen Baum, dessen Stamm nicht mehr krumm war. Dann steckte es die Kerzen an, machte schnell Feuer im Herd und stellte ein großes Blech mit Plätzchen auf den Tisch. Auf dem Ofen stand ein großer Topf mit leckerer, heißer Suppe.

Dann läutete das Christkind mit seinem silberhellen Glöck­chen, das oben in der Spitze des wun­derschön geschmückten Bäumchens hing.

Und wäh­rend die Mutter erwachte, verschwand es leise, wie es gekommen war. Aber es schaute heimlich durchs Fenster und war beglückt, als es die große Freude der Mutter und ihrer drei Kinder sah.

Die Mutter wusste, dass der liebe Gott ihr Gebet erhört und ein Wunder hatte geschehen lassen. Zu ihren Kindern sagte sie: „Man muss den lieben Gott ganz lieb um Hilfe bitten und etwas Geduld haben – dann macht er Märchen wahr und lässt Weihnachtswunder geschehen.“

 

 

 

Was die Menschen können, das kann ich auch …

Dieter Wolters

 

 

… denkt sich der Weihnachtsmann und beauftragt die himmlische Zentralbank, eigene Geldscheine und Münzen zu prägen. Die tragen auf der Vorderseite den Kopf des Weihnachtsmannes und auf der Rückseite seinen Geschenkesack. Allerdings steht auf beiden Seiten kein Geldbetrag. Sowohl bei den Geldscheinen als auch bei den Münzen. Trotzdem geht der Weihnachtsmann damit einkaufen.

 

Um nicht als Weihnachtsmann erkannt zu werden, legt er den roten Mantel und die rote Pudelmütze ab. Ausnahmsweise sogar den weißen Rauschebart. Niemand erkennt ihn so.

 

Dann betritt er einen Supermarkt. Da es im Himmel keine Süßigkeiten gibt, packt der Weihnachtsmann einen großen Vorrat an Schokolade und Pralinen ein. Dann fährt er mit dem voll-beladenen Einkaufswagen zur Kasse.

Die Kassiererin staunt nicht schlecht über den auffallend höflichen Kunden und schiebt jedes Teil, ohne zu murren, über den Scanner.

„Zweiundvierzigfünfzig!“, fordert sie schließlich und hält die offene Hand zum Empfang des Geldes bereit. „Am besten passend!“

„Einen Moment bitte!“, entgegnet der Weihnachtsmann und zählt einige Geldscheine und Münzen in die Hand der Kassiererin. Er weiß nicht, wieviel ‚zweiundvierzigfünfzig‘ in seiner, der himmlischen Währung bedeutet.

Die Kassiererin staunt abermals, als sie das Geld in der Hand betrachtet. Überraschungen ist sie ja gewohnt.

Aber das?

„Was soll ich damit anfangen?“, fragt sie den Kunden.

„Das ist Geld!“, antwortet der Weihnachtsmann. „Himmlisches Geld!“, und zeigt auf die Geldscheine und Münzen in der Hand der Kassiererin. Die schaut noch einmal hin und schüttelt den Kopf. „Himmlisches Geld? Damit können Sie hier nicht bezahlen! Kann ich mal Ihren Ausweis sehen?“

Als der Weihnachtsmann jetzt noch einmal mit unendlicher Geduld auf die Scheine und Münzen deutet, wird es der Kassiererin zu viel. Sie greift zum Handy und ruft die Polizei.

Was jetzt folgt, geschieht mit Präzision. Die Polizei ist schnell vor Ort, der Weihnachtsmann wird verhaftet, und sein mit Süßigkeiten voll be­ladener Einkaufswagen bleibt im Supermarkt.

‚Hätte ich doch wenigstens einmal probiert!‘, denkt er noch und betrachtet mit Wehmut die Schokolade und Pralinen im vollbeladenen Einkaufswagen ein letztes Mal. Aber es ist zum Probieren zu spät. Der Weihnachtsmann wird abgeführt, in ein Polizeiauto verfrachtet und zur nächsten Dienststelle gefahren.

Der wachhabende Polizist dort ist sehr um Freundlichkeit bemüht, kann das Geschehen aber selbst nicht begreifen. Auf der Dienststelle wird der Weihnachtsmann deshalb erst einmal erkennungsdienstlich behandelt.

 

Polizist: „Sie wissen, warum Sie hier sind?“

Weihnachtsmann: „Ja …! Nein …!“

Polizist: „Was denn nun?“

Weihnachtsmann: „Nein!“

Polizist: „Aha, Sie geben es also zu!“

Der Polizist merkt, dass er so nicht weiterkommt und versucht als nächstes, die Personalien des Weihnachtsmannes aufzunehmen.

Polizist: „Sie heißen?“

Weihnachtsmann: „Weihnachtsmann!“

Polizist: „Vorname?“

Weihnachtsmann: „Weihnachtsmann!“

Polizist: „Und der Nachname?“

Weihnachtsmann:„Ebenfalls Weihnachtsmann!“

Polizist: „Sie heißen also mit vollständigem Namen Weihnachtsmann Weihnachtsmann!“

Weihnachtsmann: „Nein, ich heiße nicht Weihnachtsmann Weihnachtsmann, sondern einfach nur Weihnachtsmann.“

Polizist: „Geboren?“

Weihnachtsmann: „Ja!“

Polizist: „Ich will wissen, wo Sie geboren sind!“

Weihnachtsmann: „Ach so, im Himmel!“

Polizist: „Im Himmel? Wahrscheinlich sind Sie dann auch bereits zweitausend Jahre alt!“

Weihnachtsmann: „Nein! Viel älter! Mich gab es schon vor den ersten Menschen!“

 

Jetzt wird es auch dem Polizisten zu viel, und er legt wütend seinen Stift aus der Hand.

„Wir können das Protokoll später beenden. Sie haben bestimmt Hunger ...!“

Der Weihnachtsmann indessen hat die Erregung des Polizisten bemerkt und hebt beschwichtigend beide Hände. Das empfindet der Polizist als Bedrohung.

Bevor der Weihnachtsmann noch etwas hinzufügen kann, trägt er bereits Handschellen an den Handgelenken und befindet sich in einer Arrestzelle. Der Polizist aber knallt die Tür hinter ihm zu. Er hat von dem komischen Herrn ‚Weihnachtsmann Weihnachtsmann‘ fürs Erste genug.

Unglücklicherweise steht der 23. Dezember auf dem Kalender, und am nächsten Tag ist Weihnachten. Der Weihnachtsmann muss seine Geschenke verteilen!

Leider sitzt er in der Arrestzelle einer Polizeidienststelle und ist durch Hand­schellen an seinem Auftrag gehindert.

Wenigstens befindet sich der Geschenkesack noch neben ihm.

Was soll er jetzt tun?

Der Weihnachtsmann sucht nach einer geeigneten Lösung, um den freundlichen Polizisten nicht weiter zu brüskieren. Und zwar so, dass er, trotzdem er hier inhaftiert ist, seinen Job erledigen kann. Wie in jedem anderen Jahr auch.

Wird ihm das gelingen?

Der Weihnachtsmann will eine Nacht darüber schlafen, um danach zu entscheiden, was zu tun ist.

 

Auch der Polizist möchte erst einmal schlafen. Doch er denkt nur an seine Familie, die den Vorweihnachtsabend allein zuhause verbringt. So döst er lediglich vor sich hin. Weil die Arrestzelle belegt ist, muss er die Nacht in der Dienststelle verbringen.

Dann ist die Nacht auch schon wieder vorbei.

Heiligabend. Der Polizist macht sich auf den Weg, um dem Weihnachtsmann sein Frühstück zu bringen, bevor er endlich zu seiner Familie nach Hause darf. Als er mit dem Tablett in der Hand vor der Arrestzelle steht, ist die Tür allerdings bereits geöffnet, und die Arrestzelle ist leer. Es gibt keine Spuren von Gewaltanwendung. Der Weihnachtsmann und mit ihm der Geschenkesack sind verschwunden. Das ist eindeutig.

Bevor der Polizist vor Schreck das Frühstücks­tablett aus der Hand fallen lässt, entdeckt er auf dem Fußboden der Arrestzelle ein Geschenkpäckchen. Mit einem dazugelegten, an ihn adressierten Brief.

Der Polizist guckt sich das Päckchen von allen Seiten genau an. Sicher ist sicher! Da aus dem Innern des Geschenkpäckchens keine außergewöhnlichen, verdächtigen Geräusche zu hören sind, nimmt er den Brief von dem Päckchen herunter, öffnet ihn vorsichtig und liest:

„DANKE

für die freundliche Behandlung und die Großzügigkeit!

Ich entschuldige mich aufrichtig

für Ihre Unannehmlichkeiten!

Hoffentlich nehmen Sie meine Entschuldigung an!

Als kleine Aufmerksamkeit noch eine Überraschung!

Ich wünsche Ihnen ein fröhliches Weihnachtsfest!

 

Unterschrieben ist der Brief mit ‚Weihnachtsmann Weihnachtsmann‘.

 

Der Polizist öffnet neugierig geworden das Geschenkpäckchen und findet darin den Schlüssel zu der Arrestzelle und seine Handschellen. Die aber sind himmlisch vergoldet und mit dem Kon­terfei des Weihnachtsmannes versehen.


 

Weihnachten mit Otto

Gerhard P. Steil

 

 

Kennen Sie das?

 

Weihnachten steht vor der Tür. Auf Schritt und Tritt wird man von glitzernden Weihnachtsmännern verfolgt, und kaum ein Fenster ist zu sehen, aus dem nicht eine besinnliche Weihnachtstimmung ins Freie drängt. In den Vorgärten haben sich die Bäume festlich herausgeputzt, und es sind längst nicht mehr nur Tannenbäume, die mit christlichem LED-Gefunkel unsere Nächte erhellen.

 Meine Gattin hat es wie immer auf die Spitze getrieben, als sie das kleine Gartentor mit dem Wunderstern aus Bethlehem geschmückt hat, der zu allem Überfluss mit seinem hellen Schweif die halbe Nachbarschaft erhellt. Aber, was vorerst nur eine Randnotiz für mich war, das sollte an diesem Abend für mich noch eine tiefere Bedeutung erhalten.

Jetzt aber standen andere Dinge im Vordergrund. Mein kleiner Freund Otto scharrte bereits mit den Hufen und war kaum noch zu bändigen.

Otto von Urbruch war ein höchst lebendiger Yorkshire-Terrier, den das übliche Weihnachtstheater völlig kalt ließ und der um diese Tageszeit nur seine Jagdtriebe stillen wollte, die er am besten auf dem verwilderten Baugrundstück in unserer Nachbarschaft ausleben konnte. Die Sonne war längst untergegangen und die gigantische Anzahl von Sternen am Himmelszelt verpasste an diesem späten Abend die Chance am irdischen Lichterfest teilzunehmen, weil sie nicht in der Lage waren, die dicke Wolkendecke mit ihrer Leuchtkraft zu durchdringen. Ich hatte vorgesorgt und konnte, mit einer Taschenlampe bewaffnet, dem kleinen Hund gerade so folgen. Es gab kein Geräusch, auf das der Racker nicht reagierte und das er nicht mit einem wilden Satz näher ergründen musste.

Zehn Minuten wollte ich ihm geben, bis wir uns wieder auf den Heimweg machen würden. Ich hätte meine Taschenlampe gar nicht benötigt, weil ich jede seiner Bewegungen am knackenden Gehölz und dem Rascheln der aufgewirbelten Blätter verfolgen konnte. Umso unwirklicher wirkte die Stille auf mich, als jedes Geräusch von einer Sekunde auf die andere verstummte.

Er war bestenfalls 20 Meter von mir entfernt, als ich ihn hinter einem Erdhügel verschwinden sah. Ich musste mir eigentlich keine Gedanken machen. Otto hörte aufs Wort und würde blitzartig bei mir erscheinen, wenn ich nach ihm rufen würde. Aber an diesem Abend sollte ich eine Überraschung erleben. Auf mein Rufen erfolgte keine Reaktion. Ich bewegte mich nun etwas schneller in seine Richtung, und meine Stimme begann sich nun schon deutlich ungeduldiger anzuhören. Aber mein Otto reagierte noch immer nicht. Das war völlig neu für mich, und so langsam spürte ich eine gewisse Nervo­sität aufkommen. Wo hatte sich der Kerl versteckt? Im Lichtkegel meiner Taschenlampe konnte ich außer undurchdringlichem Gestrüpp und ein paar Eingängen zu unterschiedlich großen Kaninchenbauten nichts Ungewöhnliches erkennen.

Es war kalt an diesem Dezemberabend. Aber nach dieser Entdeckung spürte ich, wie mir langsam aber sicher Schweißperlen auf die Stirn traten. Ich begann plötzlich zu ahnen, wohin der Racker verschwunden sein könnte. Ich verstärkte meine Fahndungsbemühungen und meine Stimme konnte für Otto nicht mehr überhörbar sein.

Ich würde nicht sagen, dass ich in diesem Moment einen Anflug von Panik empfand, aber die Situation wurde jetzt zunehmend ungemütlicher. Inzwischen hatte ich keinen Zweifel mehr, dass der Kerl in einem dieser Hasenlöcher verschwunden sein musste. Ich konnte ihm nicht mal wirklich böse sein, denn schließlich waren seine Vorfahren genau zu diesem Zweck gezüchtet worden. Mir fiel in diesem Augenblick nichts Besseres ein, als um die Erdaufschüttung herumzulaufen und nach weiteren Eingängen zu suchen. Und weiß Gott, davon gab es noch eine ganze Menge.

Wieder versuchte ich ihn mit Rufen aus einem dieser Löcher herauszukriegen, und während mir inzwischen der Angstschweiß aus allen Poren trat, spürte ich meine Verzweiflung immer weiter anwachsen. Was sollte ich nur tun? Der Kerl musste unter allen Umständen aus diesem Loch heraus. Es war gar nicht so einfach jetzt noch einen kühlen Kopf zu bewahren. Mehr als Rufen und im Unterholz herumstochern fiel mir nicht mehr ein. Stattdessen kam diese dämliche Erinnerung an einen Zeitungsartikel wieder hoch, in dem ein ganz ähnlicher Fall beschrieben wurde, als eine Dame ihren Dackel wieder wohlbehalten in Empfang nehmen durfte, dafür aber eine gewaltige Rechnung der beteiligten Feuerwehr begleichen musste. Und mir war klar, dass mich auch keine noch so besinnliche Weihnachtsstimmung vor diesem Schicksal retten würde. Denn eines war sicher, ich würde alles in meiner Macht stehende unternehmen und keine Kosten scheuen, um den Hund aus seiner misslichen Lage zu befreien.

Aber jetzt konnte es nur darum gehen, die Nerven zu behalten und jede Möglichkeit in Betracht zu ziehen, wie ich den Kerl mit eigener Kraft aus dem Dilemma herausholen konnte.

Nachdem ich noch ein letztes Mal laut und unüberhörbar nach ihm gebrüllt hatte, war mir klar, was nun zu tun war.

Ich wollte keine weitere Zeit verlieren und rannte so schnell ich konnte nach Hause.

Ich musste nur etwa 300 Meter zurücklegen, aber die Zeit genügte, um mir zu überlegen, wo ich genügend Spaten und andere Werkzeuge her­­bekommen würde, um zusammen mit ein paar alarmierten Freunden zur großen Rettungsaktion anzusetzen.

Dann war ich auch schon am Gartentor, und ich glaube … die letzten Laufschritte hatte ich nur noch auf einem Bein zurückgelegt. Bei der nun erfolgten plötzlichen Vollbremsung war an einen ordnungsgemäßen Bewegungsablauf nicht mehr zu denken.

Bis zu diesem Augenblick war mir niemals aufgefallen, wie groß die Augen eines kleinen York­shire-Terriers sein können. Jetzt saß mein Otto umrahmt von glitzernden Leuchtgirlanden und mit einem strahlend hellen Weihnachtsstern über dem Kopf vor dem Gartentor und blickte mich mit eben diesen großen, staunenden Augen erwartungsvoll an. Es war ihm anzusehen, dass er nicht begreifen konnte, wie ich ihn so lange in der Kälte vor der Eingangstür stehen lassen konnte.

Als ich meine Fassung wiedergefunden hatte und die Erleichterung wieder die Hauptrolle in meinem Gefühlsleben übernommen hatte, da hatte ich meine schönste Bescherung schon hinter mir. Ich musste noch lange darüber nachdenken, wie diese verrückte Situation überhaupt entstanden war. Und wenn ich einige Tage später zum Weihnachtsfest noch einen Wunsch frei gehabt hätte, dann hätte der ganz sicher darin bestanden, dieses Erlebnis noch einmal ganz ge­nau aus der Sicht meines kleinen Freundes erklärt zu bekommen.


 

Die himmlische Bescherung

Katharina Hoffmann

 

Langsam bewegte ich meinen Fuß über die Hausschwelle und senkte ihn in Zeitlupe auf den frisch gefallenen Schnee nieder. Das schönste knirschende Geräusch der Welt er­tönte und ich bekam Gänsehaut. Ich richtete meinen Blick gemächlich nach oben und blickte in einen grauen Him­mel, aus dem tausende Schneeflocken herunter­rieselten. Voller Freude neigte ich meinen Kopf in den Nacken und fing eine Schneeflocke mit meiner Zungen­spitze auf. Viele weite­re kalte Schneeflocken fielen auf meine warmen, roten Wangen und fühlten sich wie kleine Nadelstiche auf meiner Haut an.      

Wie viele Schneeflocken gerade in diesem Augenblick vom Himmel fielen? So eine große Zahl konnte ich mir wahr­scheinlich gar nicht vorstellen.       

Was wäre, wenn alle Schneeflocken Sterne wären, die ich während ihres Falls fangen könnte? Ich würde meine Arme verschränken und mit so viel goldenen Sternen füllen, wie ich tragen könnte. Dann würde ich meiner Mutter all die Sterne schenken. So viel wertvolles Gold würde uns be­stimmt viel Geld beschaffen. Mama müsste weniger in der Fabrik arbeiten, sie hätte viel mehr Zeit, um mit mir zu spielen und vielleicht könnten wir uns auch mal andere Mahlzeiten leisten als Haferbrei, Bohnen oder Reis. Meine Freunde in der Schule haben mir neulich von einer süßen Frucht, in der Farbe der Sonne bei ihrem Aufgang erzählt, welche in riesigen Schiffen von einem anderen Kontinent angeliefert wird. Das wäre das perfekte Weihnachts­ge­schenk.

                                                                                                          

Ich wurde abrupt aus meiner Träumerei gerissen. Eine ver­traute Stimme schallte durch den Flur durch die offene Haustür, vor der ich stand. Komm, mein Lieber, nun machen wir uns auf den Weg zur Kirche! Das Krippenspiel beginnt schon bald.“ Meine Mutter trat aus der Tür und zog einen hölzernen Schlitten, dessen Kufen auf dem stei­ner­nen Flurboden quietschten, hinter sich her. Den Schlit­ten hatte ich ein paar Jahre zuvor von meinem Vater zu Weihnachten geschenkt bekommen. Er hatte damals stun­den­lang an dem groben Holz geschnitzt, bis der ele­gante Schlitten fertig war. Es war eins meiner wertvollsten Erin­ner­ungsstücke an ihn, denn er kam nie aus dem Krieg zurück.

Meine Mutter zog mich auf dem Schlitten bis zur Kirche. Auf dem Weg dorthin bestaunten wir all die kleinen Häus­chen mit den schönen Weihnachtsbeleuchtungen in den Fenstern. Das Licht der Kerzen und der Lichterketten be­leuchtete uns den Weg. Das letzte Stück rannte meine Mutter durch den Schnee und ich streckte meine Hand in den frischen Schnee, sodass der pulvrige Schnee durch die Ge­schwindigkeit wie eine Fontäne in die Luft stob. Glück­lich und aus der Puste vom Lachen und Rennen erreichten wir die Kirche.

Das helle Läuten goldener Glocken, glückliche Stimmen und viel Lachen erfüllten die Luft im Inneren der vollen Kirche. Es waren so viele Gäste dort wie an sonst keinem anderen Tag des Jahres. Meine Mutter beugte sich im Ge­dränge zu mir herunter und flüsterte in mein Ohr, dass ich mich zu den anderen Kindern in der ersten Reihe stellen solle, um das Krippenspiel besser zu sehen.

Nach dem Krippenspiel kam der Pastor zu uns Kindern in die erste Reihe. Er trug einen großen roten und scheinbar sehr schweren Sack bei sich und ließ jedes Kind nach­einander hineingreifen. Ich sah, wie alle die Kinder vor mir eine gelbliche Kugel in der Hand hielten, aber ich konnte nicht ausmachen, was es genau war. Vorsichtig griff ich in das dunkle Innere des Beutels und zog auch eine große Kugel heraus.

Unter uns Kindern brach große Freude aus, ich hörte wie die anderen erzählten, dass dies die exotische Frucht, namens Orange, sei. Ein paar wohlhabendere Kinder, deren Väter ihnen schon mal Orangen mitgebracht hatten, schwärmten von dem unvergleichlichen Geschmack der Frucht, aber ich konnte nur daran denken, das Gesicht meiner Mutter zu sehen, wenn ich ihr die Frucht zeigte. Sie liebte süße Lebens­mittel und leider hatten wir selten welche zu Hause. Über­glücklich umklammerte ich die Orange und rannte Richtung Ausgang, um zu meiner Mutter zu kom­men.

Rund um die prachtvolle Tür der Kirche herrschte ein bun­tes Chaos aus Familienmitgliedern, die sich suchten oder gerade wiedergefunden hatten, und sich in alle Him­mels­richtungen auf den Heimatweg machten.

Ich lehnte mich an die dicke Mauer der Kirche und beob­achtete die Menge, um meine Mutter zu finden.

Es wurde immer kälter. Mein Atem verwandelte sich zu kleinen Wölkchen, die wie meine Träume Richtung Him­mel flogen.     

Die Menschenmenge wurde immer lichter und mir wurde immer kälter. Doch meine Mutter war nirgends zu sehen.    Mittlerweile zitterte ich wie der Christbaumschmuck im Wind und entschied, alleine nach Hause zu gehen. Ich war den Weg schon tausend Mal gegangen und war mir sicher, mich selbst im komplett Dunklen zurechtzufinden. Trotz der Kälte und der Stille fühlte ich mich sehr wohl, die Wärme des Weihnachtsfests erwärmte mich.

Als ich eine kleine Straße, in der Nähe meines Hauses, er­reicht hatte, sah ich eine dunkle Silhouette unter einer Laterne kauern. Als ich näherkam, erkannte ich, dass es ein kleiner Junge in meinem Alter war, der zusammen­ge­krümmt im kalten Schnee saß. Er hatte blonde, wuschelige Haare, die ihm teilweise über die Augen hingen, und war in eine braune Decke gehüllt. Seine blaugrauen Augen trafen meine, und ohne nachzudenken ging ich zu ihm hin.

Hallo, wo ist deine Familie?”, flüsterte ich vorsichtig aus Angst, ihn zu verschrecken.

Er blieb stumm und schaute mir weiter in die Augen.

„Wie heißt du?”, fragte ich weiter. Stille.

„Geht es dir gut?”

Er blieb stumm, doch seine traurigen Augen beantworteten mir die letzte Frage. Ich wusste nicht wie ich ihm helfen konnte, ich war selbst allein und hatte kein Geld oder Nah­rung dabei. Doch dann fiel mir die Orange ein, die ich in meinen durch die Kälte ertaubten Händen hielt. Ich ging zu ihm hin und legte sie in seine geöffneten Hände.

Zum ersten Mal regte sich etwas in seinem unschuldigen Gesicht. Er lächelte.

 

Auf dem restlichen Weg nach Hause holte mich die Trau­rigkeit ein. Jetzt hatte ich doch kein Geschenk mehr für meine Mutter. Ich versuchte mich durch das Zählen der fallenden Schneeflocken abzulenken, doch gab schnell auf. Dann sah ich unser kleines Häuschen. Die Fenster leuch­teten in einem warmen Licht. Meine Mutter war zu Hause. Ich rannte das letzte Stück zu meinem Haus und Mutter kam aus der Haustür auf mich zugelaufen. „Ich habe schon so lange auf dich gewartet! Ich saß schon eine Zeit lang am Fens­ter! Wo warst du, mein Junge?“, fuhr sie mich aufge­regt an.

Ich fiel ihr in die offenen Arme.

In diesem Moment erkannte ich, dass ich nichts anderes brauchte als sie an meiner Seite. Wir verbrachten einen schö­nen Heiligen Abend vor unserem Kamin und sie er­zählte mir tausend Weihnachtsgeschichten. Ich hätte mir nichts Schö­ne­res für den Abend vorstellen können.

Als es schon kurz vor Mitternacht war, meinte sie, dass es nun Zeit für mich sei, ins Bett zu gehen.

 

Auf dem Weg in mein Zimmer kam ich an der Haustür vorbei und warf einen Blick durch das danebenliegende Fenster. Ich blieb wie geschockt stehen. Draußen sah ich den kleinen blonden Jungen. Ohne nachzudenken öffnete ich die Haustür und ging besorgt zu ihm hin. Doch sobald ich einen Schritt aus der Haustür in den kalten Schnee setzte, ver­schwand die gebückte Gestalt und an ihrer Stelle er­schien ein so helles Licht, wie ich es noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Geblendet schirmte ich meine Augen mit meinen Händen ab.

Aus diesem Licht entwickelte sich allmählich eine mensch­liche Form. Sie war größer und heller, als ich sie mir je in meinen Träumen ausmalen könnte. Dennoch fühlte ich mich so geborgen wie schon lange nicht mehr. Ich traute mich nach einer Zeit, dem Wesen in die Augen zu blicken, und war erstaunt wie vertraut mir diese waren. Sie waren dieselben des kleinen Jungens. Er lächelte mich voller Freu­de an.

Nach einem Moment der Stille, in dem wir nur Blick­kontakt hielten, flog der Junge plötzlich senkrecht Richtung Himmel auf. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf seine Flügel, die aus so feinen und doch so starken Federn zu bestehen schienen. Ich blickte ihm wie verzaubert nach.

Erst als die Kälte mich aus meinen Gedanken riss, sah ich, dass an der Stelle, an der sich die Fußstapfen des Engels befinden sollten, ein brauner Korb stand. Er war gefüllt mit Orangen, an denen meine Mutter und ich sicherlich wochen­lang essen könnten. Auf der Spitze des Berges aus Orangen sah ich im Licht der Sterne eine besonders große Orange. Als ich den schweren Korb ins Haus trug, er­kannte ich im Licht, dass die oberste Orange aus glän­zendem Gold war. Ich rief nach meiner Mutter und in Sekundenschnelle war sie an meiner Seite und strahlte vor Freude.

 

Sie fragte mich mit leuchtenden Augen: „Was ist das?“

Ich schaute in den dunklen Nachthimmel und flüsterte ehr­furchtsvoll: „Eine himmlische Bescherung!“


 

Hugo Silberschuppe

Dr. Erika Hemmersbach

 

Fröhlich vor sich hin pfeifend eilte Marcus die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Während er zwei Stufen auf einmal nahm, klatschte eine Einkaufstüte leise glucksend gegen seine Beine. In der Tüte bewegte sich etwas protestierend. Marcus achtete nicht darauf. Er war überglücklich, dass er einen der letzten Karpfen erworben hatte.

Es war der 23. Dezember und der Fischhändler war fast ausverkauft gewesen. Nur drei riesige Karpfen schwammen noch in dem Becken. Marcus hatte schlucken müssen, als er den verlangten Preis hörte, den Karpfen hatte er aber dann doch genommen.

 

Mühsam hatten Marie und er von seinem bescheidenen Volo­ntärs-Gehalt Rücklagen für Weihnachten gemacht.

Der Fisch riss ein riesiges Loch in ihr Budget. Dann musste es eben nur eine Flasche Wein zum Essen geben und nicht mehr.

Marie suchte einen Job als Kindergärtnerin, hatte aber nach ihrem Umzug in die Kleinstadt noch nichts finden können. Die Stadtverwaltung sparte, und es wurde nur selten eine Stelle ausgeschrieben. Die neue Wohnung war teuer und es blieb kaum Geld übrig für Extraausgaben. Wenn beide Ehe­leute verdienen würden, wäre ihr Geldbeutel auch nicht mehr so schmal und Marcus hätte ohne Bedenken den Fisch kaufen können.

 

Während Marcus die Wohnungstür aufschloss, pfiff er laut und falsch: „Morgen kommt der Weihnachtsmann.“

Morgen würden Marcus Eltern zum festlichen Heilig­abend-Essen zu Besuch kommen. Es war das erste gemein­same Weihnachtsfest des jungen Paares, und Marcus wollte seinen Eltern, die seine Eheschließung mit der unver­mögen­den Marie heftig kritisiert hatten, zeigen, wie gut es ihnen ging.

 

Marie schaute aus der Küche heraus. Ihre Wangen waren gerötet und ihr stand der Schweiß auf der Stirn. Marcus fand sie unwiderstehlich süß aussehend mit ihren verstrub­belten kurzen Haaren, die wirr nach allen Seiten abstanden. Schnell schloss er sie in die Arme und gab ihr einen innigen Kuss. Sie schmiegte sich an ihn und für eine Zeit lang vergaßen sie alles um sich herum. Dann löste sie sich von ihm und strahlte: „Den Nachtisch habe ich schon fertig und das Huhn für die Suppe ist auch ausgekocht. Du kannst gleich etwas probieren, wenn du magst. Hast du noch einen Fisch bekommen?“

Als Marcus nickte, fügte Marie hinzu: „Ich habe im Internet ein tolles Rezept für Karpfen blau herausgesucht. Leg ihn doch bitte gleich in den Kühlschrank!“

„Wieso Kühlschrank?“, antwortete Marcus ganz erstaunt. „Ich werde ihn in die Badewanne setzen. Dann kannst du ihn morgen ganz frisch schlachten und zubereiten.“

Marie fuhr entsetzt zurück. Ihr verschlug es die Sprache. Mit zitternden Fingern zeigte sie auf den Beutel, in dem es plät­scherte und gluckerte.

„W… w…, wie bitte?“, stotterte sie schließlich. „Der Fisch lebt doch nicht etwa noch?“

Marcus drückte ihr den Beutel in die Hand, schlenderte ins Wohnzimmer, streckte auf seinem Lieblingssessel lässig die Beine aus, nahm die Fernbedienung in die Hand und fing an, durch die TV-Kanäle zu zappen.

Marie folgte ihm mit dem Fischbeutel in ihrer ausgestreckten Hand. „Was soll ich damit? Ich töte doch keinen Fisch! Dir zu­liebe koche ich das Festessen für deine Eltern. Aber einen Fisch schlachten! Ich kann das nicht und ich will das auch nicht!“

Ihre Stimme steigerte sich zu einem hohen Diskant und ihr standen Tränen in den Augen. Wütend starrte sie Marcus an, der sich ungerührt ein Bier einschenkte und nur mit „Mmmm“, antwortete.

„Marcus!“

Er trank einen Schluck und wischte sich den Schaum von den Lippen. „Ich weiß nicht, was du willst, Marie! Wir waren uns doch einig, dass wir das traditionelle Weih­nachts­essen die­ses Jahr hier bei uns machen. Und wir haben immer Karpfen gegessen, solange ich zurückdenken kann.“

„Aber doch keinen lebenden Karpfen!“

„Meine Mutter hat immer am Heiligabend den Karpfen frisch zubereitet. Dann schmeckt er am besten. Du willst ihr doch zeigen, dass du eine gute Hausfrau bist, nicht wahr? Also stell dich nicht so an!“

Marie funkelte ihn ärgerlich an. „Dann schlachte du ihn doch morgen früh!“

Entsetzt hob Marcus abwehrend beide Hände. „Nein, nein“, lehnte er eilig ab, „das kannst du als Frau auf jeden Fall besser. Ich würde den teuren Fisch nur verderben. Komm, lass uns nicht streiten, es ist morgen Weihnachten!“

Nach diesen Worten galt seine ganze Aufmerksamkeit einem Fußballspieler, der den Ball gekonnt durch die Rei­hen der Abwehrspieler schoss.

„Tooor!“, schrie Marcus begeistert. Der Karpfen war ver­gessen.

 

Marie starrte ihren Mann mit zusammengekniffenen Lippen an, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und knallte die Zimmertür hinter sich zu.

Ratlos starrte sie in den Beutel. Bestimmt bekam der große Karpfen Atemnot in der kleinen Wasserpfütze, die ihn um­gab. Marie ließ Wasser in die Badewanne einlaufen und schüttete den Beutelinhalt hinein. Der Karpfen blieb eine Weile reglos auf dem Wannenboden liegen.

„Oh, bist du schon tot?“, seufzte sie und tupfte mit ge­strecktem Zeigefinger auf seinen Rücken. Der Karpfen ant­wortete mit einem leichten Wedeln seiner Flossen. Unter Maries aufmerksamen Blicken erholte sich der Fisch zu­sehends und schwamm nach einer Weile langsam hin und her, wobei er sein Maul weit öffnete und wieder schloss.

Marie betrachtete ihn nachdenklich. „Du armer Kerl, bist so durchgeschüttelt worden. Be­stimmt hast du Hunger. Ich hole dir ein paar Brotbröck­chen. Die magst du bestimmt. Ich habe schönes, leckeres, weiches Rosinenbrot.“

Der Karpfen sah Marie aus schwarzen Augen an.

„Gleich bin ich zurück“, versprach sie dem Fisch

Marie eilte in die Küche und kam mit einem Schüsselchen voll Brotbröckchen ins Bad zurück. Zu ihrer Freude schluck­te der Karpfen brav die schwimmenden Stückchen hinunter. Marie hielt ihre Hand ins Wasser. Neugierig be­äugte der Fisch die rosigen Finger, schwamm näher heran und ver­suchte mit einem Zuschnappen, ob sie etwas Fress­bares darstellten. Marie lachte und es gelang ihr, mit ihrem Zeige­finger über seinen silbrig schimmernden Rücken zu strei­chen.

„Wie schön du doch bist“, flüsterte sie. „Ich könnte dich niemals töten. Du sollst weiterleben, das verspreche ich dir!“

Später beim gemeinsamen Abendessen fragte Marcus sie nach dem Karpfenrezept, welches sie herausgesucht hatte. Wütend antwortete Marie, dass sie den Karpfen nicht schlach­ten und es deswegen auch keinen Fisch geben würde.

Ein Wort gab das andere und der Abend endete mit dem ersten handfesten Streit des jungen Paares. Nach einer sich anschließenden Phase des eisigen Schweigens zog Marie es vor, im Wohnzimmer auf der Couch zu schlafen. Leise schluchzte sie in ihr Kissen hinein. Sie hatte sich ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest ganz anders vorgestellt.

 

Auch ihr Frühstück am Morgen des Heiligabends verlief im trotzigen Schweigen. Als sie den Tisch abräumte, murmelte Marie: „Und ich schlachte ihn nicht, dann essen wir eben etwas anderes.“

Marcus sprang auf und suchte in der Küchenschublade he­rum. Schließlich zog er ein großes Messer hervor.

„Wenn du das nicht kannst, dann tue ich es eben. Meine Eltern erwarten, dass wir ihnen frischen Karpfen anbieten. Sonst ist es für sie kein Weihnachten. Wir haben sie einge­laden, dann müssen wir auch die Konsequenzen ziehen.“

Mit einem ‚Niemals!‘-Schrei lief Marie ins Badezimmer und verriegelte von innen die Tür. Als Marcus heftig gegen die Tür klopfte, rief sie ihm zu: „Geh weg! Ich habe dem Fisch versprochen, dass wir ihn nicht schlachten!“

„Was hast du gesagt?“, brüllte Marcus zurück. „Du hast es dem Fisch versprochen? Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“

In den sich nun anschließenden Wortwechsel hinein er­tönte laut und nachdrücklich die Türglocke.

 

Marie, die leise vor sich hinschluchzend auf dem Bade­wannenrand saß, hörte zu ihrem Schrecken die Stimmen ihrer Schwiegereltern.

„Was ist denn los bei euch?“ dröhnte Vater, „man hört euch schon im Treppenhaus. Ist denn nicht Weihnachten? Und ihr streitet euch? Junge, ich habe einen schönen Cog­nac mitgebracht. Vielleicht solltest du ein Glas mit mir trinken und mir dabei erzählen, was passiert ist.“

Die Männerstimmen entfernten sich und Marie hörte, dass die Wohnzimmertür geschlossen wurde.

 

Leise Schritte kamen auf die Badezimmertür zu und jemand klopfte zögernd an. „Marie, kann ich dir irgendwie hel­fen?“, fragte ihre Schwiegermutter.

Statt einer Antwort fing Marie an zu weinen. Endlich brachte sie unter Schluchzern hervor: „Marcus hat einen Karpfen für euch gekauft. Er lebt noch und ich soll ihn schlachten, weil ihr nur frischen Fisch zu Weihnachten es­sen wollt.“

Zu ihrer großen Überraschung hörte sie ein unterdrücktes Lachen vor der Badezimmertür.

„Marie, lass mich herein, ich muss dir etwas erzählen.“

Und ... als Marie nicht antwortete: „Marcus ist mit Vater im Wohnzimmer. Sie hören uns nicht.“

 

Leise entriegelte Marie die Tür. Ihre Schwiegermutter schob sich mit einem Lächeln durch die Öffnung und reichte Marie ein Taschentuch. „Warum hast du das nicht vorher gesagt? Dann wäre dir viel Kummer erspart ge­blieben.“

Marie sah die Ältere fragend an. Diese nickte ihr zu und setzte sich auf den Wannenrand. Bewundernd musterte sie den Karpfen, der gierig die letzten Krümel verschlang. Dann fing sie an zu kichern. „Der Fisch sieht aus wie mein alter Mathematiklehrer. Er hieß Hugo. Der hatte auch so ein breites Maul. Sollen wir den Karpfen nicht Hugo nennen?“

„Hä?“, machte Marie verständnislos. Dann betrachtete auch sie ihren schwimmenden Braten und fügte nach einer Weile hinzu. „Hugo Silberschuppe, weil er so schön silbrig glänzt. Aber du wolltest mir etwas sagen?“

Ihre Schwiegermutter lächelte fein. „Ja, weißt du, eigentlich mag ich gar keinen Fisch. Aber Vater wollte unbedingt immer einen Karpfen zu Weihnachten als Festessen haben. Und der Karpfen sollte stets frisch sein.“

Sie kicherte in sich hinein. „Ich bin immer in das Garten­häuschen zum Schlachten gegangen, weil ich kein Blut im Haus haben wollte, habe ich gesagt. Aber, noch niemals habe ich selber einen Fisch geschlachtet. Ich habe ihn immer fertig zubereitet gekauft und niemand hat es bisher bemerkt. Gerne würde ich etwas anderes zu Weihnachten essen, aber Vater zuliebe …“

Sie ließ den Satz mit einem Seufzer ausklingen. „Ich hatte so gehofft, dass ihr mit der alten Tradition brechen wür­det.“

 

Marie hatte ihr fassungslos zugehört. Schließlich glitt ein Strahlen über ihr Gesicht und sie umarmte ihre Schwie­germutter herzlich.

„Dann sagen wir es doch Vater und Marcus. Marcus macht sich so große Sorgen, dass ihr nicht zufrieden seid. Hurra, Hugo Silberschuppe soll leben!“

 

Unbemerkt hatte sich die Badezimmertür wieder geöffnet. Der Vater stand mit verblüfftem Gesicht vor den Frauen und starrte dann in die Badewanne auf den munter schwim­menden Hugo.

„Ich habe eure letzten Worte gehört“, murmelte er. „Also hast du nur mir zuliebe jedes Jahr einen Karpfen zube­reitet? Und das jetzt schon seit dreißig Jahren?“

Als seine Frau bestätigend mit dem Kopf nickte, schloss er sie liebevoll in seine Arme, wobei er prustend anfing zu lachen. „Und ich habe seit dreißig Jahren tapfer jedes Jahr deinen Karpfen gegessen, weil ich glaubte, dass du ihn so gerne magst. Ich mache mir überhaupt nichts aus Fisch, hätte viel lieber Wild gegessen. Siehst du, mein Junge, das ist Liebe! Aber vielleicht hätten wir miteinander einmal reden sollen, meinst du nicht, mein Schatz?“

Marcus schlang seine Arme um Marie. „Ich glaube, ich habe einiges gelernt dieses Weihnachten. Aber was machen wir jetzt mit Hugo?“

„Setzen wir ihn doch in den großen Weiher im Stadtwald“, schlug Marie vernünftig vor und strahlte ihren Marcus glücklich an.

Gesagt, getan. Marie holte einen großen Eimer, weil sie Hugo den Transport in dem kleinen Beutel nicht mehr zu­muten wollte und setzte den Fisch vorsichtig hinein.

Unter fröhlichem Geplauder fuhren alle zum Stadtwald, genossen den Spaziergang durch den winterlichen Park und setzten schließlich den Fisch in dem großen Teich ab. Marie meinte mit Überzeugung: „Hugo hat mit einer Flosse gewinkt! Er freut sich, dass er bei seinen Artgenossen ist.“

Niemand widersprach ihr.

 

Auf dem Rückweg hielten sie noch in einem Einkaufs­zen­trum an und gemeinsam kauften sie alle Zutaten zu einem schönen Raclette-Essen. Das Gerät schenkten die Eltern den jungen Leuten gleich mit zu Weihnachten.

Am Abend saßen alle satt und zufrieden zusammen im Wohn­zimmer, hörten Weihnachtsmusik und naschten von den Keksen und Weihnachtsschokoladen, während die Ker­zen am Baum den Raum mit einem warmen Licht ver­zauberten. Schließlich lehnte sich Mutter an Vater, sah das junge Paar dankbar an und meinte: „Das war das schönste Weihnachtsfest, das ich jemals hatte.“

 


 

Draußen schneit es schon den ganzen Tag.

Wie jedes Jahr sitzen Groß und Klein gemütlich beisammen, knacken Nüsse, probieren die selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen, die Großen trinken einen heißen Glühwein ... und lesen aus dem dicken Weihnachtsbuch Geschichten vor.

 

Unser Weihnachts-Programm