Weinhart, Anne

Pfeffer aus Sri Lanka

 

Gleich morgens, wenn sie an seine Tür geklopft hatte, um ihn zu wecken, wusste sie, wie der Tag werden würde.

Schaute er freundlich, dann wurde der Tag gut. Klang das Guten Morgen dagegen schroff, dann legte sich ein Band um ihren Magen, das sich den ganzen Tag nicht lösen würde.

Sie hatte etwas falsch gemacht.

Meistens wusste sie nicht, was, und dann grübelte sie, während sie das Frühstück richtete und konnte doch keine Verfehlung erkennen.

Das Frühstück bestand aus Schweigen. Sättigend und lang anhaltend.

Er studierte die Aufschriften auf den Gläsern von Marmelade, Honig oder Wurst, um dann den Tisch wegzuschieben, die Hände zu waschen und die Küche zu verlassen.

Sie tat, was sie an jedem anderen Tag auch tat. Sie räumte auf.

Dann schnallte sie sich ihr Schneckenhaus auf den Rücken und zog sich da hinein zurück. Hier war es still.

Hier störte niemand ihre Gedanken, hier war sie für eine Weile ohne Pflicht.

Hier machte sie Pläne ganz für sich allein.

Sie stellte sich vor, wie sie ihn verließ, ganz ohne Skrupel, ohne schlechtes Gewissen, ohne Bindung an ein Verspechen, das sie der Mutter auf dem Sterbebett gegeben hatte.

Sie würde für den Bruder sorgen, ganz gleich, was passiert.

Was würde sie mitnehmen bei ihrem Auszug? Ihr lag nichts an den Dingen. Notwendigerweise das Bett, die Bücher, den Laptop, den Schreibtisch und einen Schrank für Kleider und Wäsche, ihr Radio und ihre CDs.

Sie würde sich eine ganz kleine Wohnung suchen und dann nur atmen.

Atmen ohne das Luftanhalten vor Angst, dass er sie wieder einmal mit tagelang anhaltendem Schweigen strafen würde für etwas, dessen sie sich nicht bewusst war. Und dann? Dann würde sie die vielen Leben leben, von denen sie träumte, seit sie denken konnte.

 

Als sie sich an einem der langen hellen Sommerabende in dem Gesang der französischen Sängerin Patricia Petibon verlor, fand sie sich plötzlich in deren Rolle wieder und sang den Mozart, wie sie ihn nie zuvor gehört hatte. Talent war ihr in die Wiege gelegt worden, aber was nützte es? Sie war ein Mädchen und das bestimmte alles.

Sie konnte singen, sie wollte tanzen lernen, sie hatte Fantasie und schüttelte Reime aus dem Handgelenk.

Sie lernte Texte in Windeseile und hatte keine Scheu, sie vorzutragen.

Die Lehrer redeten auf die Eltern ein, dem Mädchen eine Chance zu geben, eines ihrer Talente auszubauen, aber für die Tochter kamen solche Allüren nicht in Betracht, man sparte das Geld lieber für die Ausbildung des Sohnes. Da war es besser angelegt. Er studierte zunächst Medizin, der Mutter zuliebe, aber eigentlich war das nichts für ihn. Er konnte kein Blut sehen. Kurz vor dem Examen wechselte er zu Jura. Fleißig war er und intelligent, aber es war etwas Seltsames an ihm. Je näher die Examen rückten, umso unausstehlicher wurde er.

Letzten Endes flüchtete er sich in eine Krankheit, die keine war, und das Examen fand nicht statt.

Eine psychische Störung schloss man aus, dabei war es nahe liegend, dass Angst hinter der Verweigerung steckte. Angst, zu versagen.

So wurde der Bruder mit dreißig Jahren Privatier und lebte vom angesammelten Geld des Vaters und dem Erbteil der Mutter.

Die Tochter übernahm die Pflicht.

Die war ihr genug in ihrem eigenen Leben.

Allerdings nicht sehr lange.

 

Der Tod der Mutter änderte alles.

Sie löste ihre Wohnung auf und zog zu ihrem Bruder, um sich, wie vorher die Mutter, ganz seinen Bedürfnissen zu widmen.

Sie übte das Unsichtbar sein, das sich in Luft auflösen, das Funktionieren, das Rücksicht nehmen und das Verschwinden hinter ihrer Maske.

Sie kochte, putzte, wusch, kaufte ein und blieb so weit wie möglich am Rande seines Bewusstseins.

Heute nun war wieder so ein stummer Tag. Aber es machte ihr nicht mehr so viel aus. In Gedanken packte sie wieder einmal ihre Siebensachen zusammen und begab sich auf den Weg in das Leben ihrer Fantasie.

Sie war sich sicher, dass sie schon einmal gelebt hatte. Als eine andere Frau zu einer anderen Zeit.

Manchmal sah sie sich auf einer Burg in die Gewänder der Zeit gekleidet, in der Kemenate sitzen, die Hände im Schoß. Ihre Augen lagen auf dem Land ringsum. Sie schaute auf Hügel und Täler, auf Häuschen, die sich an den Burgberg drückten, Schutz suchend unter seinen Felsen, auf Gassen, die so eng waren, dass man sie von oben fast nicht sah.

Sie sah die Bauern bei ihrer Arbeit auf den winzigen Feldstreifen, die sich wie Flickenteppiche ineinander woben.

 

Rauch stieg aus den Kaminen auf und erinnerte sie, dass sie hungrig war.

Sie würde nach der Zofe klingeln und sich beschweren, dass die Mahlzeit noch nicht auf dem Tisch stand. Sie hatte sich schließlich nur ein kleines Mahl gewünscht, ohne großen Aufwand, und das erwartete sie pünktlich.

Harte Worte lagen ihr nicht, deshalb blieb sie freundlich, aber bestimmt.

Das Mädchen eilte davon, um nach ihrem Mittagsmahl zu schauen.

Der Tisch wurde mit weißem Leinen gedeckt, das mit feinen Mustern bestickt war. Man hatte edles Geschirr aufgelegt. Ein schön geschliffener Kelch stand dabei für den süffigen Roten, der das Mahl abrunden sollte.

So liebte sie es.

 

Als sie sich an die lange Tafel setzte, ließ sie noch die Kerzen in den silbernen Kandelabern entzünden und dann schickte sie alle hinaus, die sie bei diesem Zeremoniell stören könnten.

Sie liebte es, zu essen, und spürte mit jedem Bissen den Aromen nach, die der Koch mit großer Kunst zu verwenden verstand. Mit ihm hatte sie einen Glücksgriff getan. Er kochte so gern wie sie aß.

Auch der Wein war gut gewählt. Jeder Schluck unterstrich die Köstlichkeit seiner Speisen.

Heute würde sie sich bei ihm persönlich bedanken.

Es wurde Zeit, ihn kennen zu lernen.

Sie bat die Zofe, den Koch zu rufen.

Als er erschien, war er in strahlendes Weiß gekleidet, die Haube gestärkt hoch auf dem Kopf aufragend.

Er verneigte sich tief vor ihr, seiner Gebieterin, und wartete auf ihre Anweisungen.

Sie forderte ihn auf, näher zu treten. Als sie ihm ins Gesicht schaute, erkannte sie ihren Bruder.

Sie lobte ihn für seine Kochkunst und gab mit keinem Wimpernschlag preis, dass sie ihn erkannt hatte.

Dann durfte er sich entfernen.

Sie empfand tiefe Genugtuung dabei, dass er für sie arbeiten musste, während sie sich auf ihren Platz am Fenster zurückziehen konnte, um sich ihrer Lektüre zu widmen.

Sie fragte sich nicht, wie der Bruder an diesen Ort gekommen war, warum er, der doch immer die besseren Chancen im Leben gehabt hatte, sich jetzt in einer dienenden Position wiederfand, warum er sie nicht erkannt hatte oder erkennen wollte, sie fragte nichts, sie genoss ihre innerliche Genugtuung.

Ein Blick auf die Uhr holte sie zurück aus ihrem Tagtraum.

Es wurde Zeit, das Mittagessen vorzubereiten und zurück in der Realität war sie die Dienende.

Sie kochte kleine Portionen, weil sie nicht mehrmals das Gleiche essen mochte. Pünktlich, wie es von ihr erwartet wurde, klopfte sie an die Tür des Bruders und rief ihn an den Tisch.

Hatte sie an alles gedacht? Ein Glas mit Wasser, seine Medikamente, die Maggiflasche, die sie hasste, die aber nicht zu umgehen war. Er schüttete Maggi in jedes Essen, es sei denn, es gab Omeletts oder Reibekuchen.

Serviette, Besteck, vorgewärmte Teller, Blumen auf dem Tisch. Alles war perfekt.

Gespeist wurde wieder in völliger Stille. Das Radio lieferte ihr die Unterhaltung, die sie von ihrem Bruder nicht erwarten konnte.

Die Küche in Ordnung bringen, Müll entsorgen, dann hatte er seine Mittagsruhe. Das Telefon bekam auch Sprechverbot. Seine Tür schloss ihn und sein Schweigen ein.

Auch sie zog sich in ihr Zimmer zurück. Buch und Radio, sogar MP3 Player und PC gehörten zu ihren Gefährten. Früher hatte sie Tagebuch geschrieben, das war schon lange passé. Heute ließ sie ihre Gedanken in einen Ordner fließen, den sie mit Passwort gesichert hatte.

Natürlich besaß ihr Bruder auch einen Rechner und dessen technische Ausstattung war sehr hochwertig und sehr teuer. Er kannte die Gebrauchsanleitung auswendig, wusste theoretisch bis ins Detail Bescheid, aber einen Doppelklick bekam er nicht hin. Dafür war er zu bedacht und überlegt, in ihrem Verständnis einfach verlangsamt.

Geheuer war ihm die Technik sowieso nicht. Die Strahlung, die Sicherheit, alles Faktoren, die ihm suspekt waren.

Hatte er in den Zeitschriften genügend negative Kommentare gelesen, dann verschenkte oder verkaufte er seine Geräte zu Schleuderpreisen. Die Käufer lachten sich ins Fäustchen, sie hatten ein Schnäppchen gemacht, das kein Ausverkauf toppen konnte. Er kaufte nie ein ausgepacktes Gerät. Immer nur in Originalverpackung und immer erst nach gründlichem Studium der Fachliteratur. Dann wurden die kostbaren Erwerbungen in einem eigens dafür eingerichteten Zimmer gelagert. Manchmal so lange, bis die Technik veraltet war. Dann verkaufte er sie originalverpackt und unbenutzt und wandte sich der nächsten Neuerung zu.

Aber was interessierte sie das alles? Ihr Handwerkszeug genügte ihren Ansprüchen voll und ganz.

„Der Name der Rose“ war ihre Mittagslektüre und nachdem sie sich über die ersten 90 Seiten hindurchgelangweilt hatte, wurde es jetzt interessant.

Klosterleben - wäre das etwas für sie gewesen?

Stille und Schweigen kannte sie ja zur Genüge. Das würde ihr nicht schwer fallen. Aber die kalten Mauern, die totale Verhüllung, der absolute Gehorsam und der Glaube, den keiner in Frage stellen durfte wären das große Hindernis gewesen.

Die Bibliothek allerdings und die wunderbaren Kalligrafien hätten sie schon reizen können. In der Düsternis der hohen Räume fürchtete sie sich vor den langen Schatten im flackernden Licht der Kerzen. Die kalten Hände konnten die Feder kaum führen.

Die Augen tränten ihr vom Rauch und der Anstrengung, die es sie kostete, untadelige Schriftzeichen auf das Pergament zu bringen.

Das Kloster würde sie schnell wieder verlassen, neben dem ohnehin bedrückendem Schweigen gab es auch die Unfreiheit des Denkens und das wolle sie nicht dulden, denn wenigstens der Geist sollte frei bleiben.