Weber, Bettina

Muster ohne Wert

 

Der Brief lag vor ihr auf der Bettdecke. Nora starrte auf das mit Tims sorgfältiger Handschrift bedeckte Blatt, ohne zu bemerken, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Langsam nahm sie den Bogen wieder auf und las die Zeilen noch einmal, obwohl sie sie inzwischen schon fast auswendig konnte.

„Liebe Nora!

Ich war sehr erschrocken, als ich gestern morgen zufällig Deine Kollegin Dagmar in der Stadt traf, und die mir sagte, daß Du im Büro zusammengebrochen bist und nun im Krankenhaus liegst! Hoffentlich geht es Dir inzwischen wenigstens ein bißchen besser! Ich mache mir wirklich große Sorgen um Dich!

Vor allem habe ich auch ein ziemlich schlechtes Gewissen! Es muß Dir ja schon die ganze letzte Zeit über mies gegangen sein und ich habe nichts davon mitbekommen!

Nora, warum hast Du mir denn nichts erzählt? Ich hätte Dir wirklich gern geholfen – und das will ich immer noch!

Wenn es Dir recht ist, werde ich Dich in den nächsten Tagen besuchen! Aber Du kannst mich natürlich auch jederzeit anrufen!

Viele Grüße und vor allem gute Besserung,

Dein Tim“

Nora ließ das Blatt sinken und schloß die Augen. Wie schon gestern, als der Brief angekommen war, versetzten Tims herzliche Worte ihr einen schmerzhaften Stich. ER hatte also ein schlechtes Gewissen, ausgerechnet er! Dabei war die einzige, die dazu wirklich Grund hatte, sie selbst!

Natürlich war es ihr in der letzten Zeit nicht besonders gut gegangen. Aber daß Tim davon nichts bemerkt hatte, war ganz und gar nicht seine Schuld! Wie hätte er denn etwas merken sollen, wo sie ihm doch völlig aus dem Weg gegangen war! Wieder einmal!

Und von Tim kam kein einziger Vorwurf! Kein Wort darüber, wie bescheuert sie sich in den vergangenen Wochen benommen hatte!

Angewidert verzog Nora das Gesicht. Sie fühlte sich miserabel, aber das hatte nichts mit ihren Magenschmerzen und der ständigen Übelkeit zu tun.

Wie oft hatte sie sich schon vorgenommen, sich zu ändern! Aufgeschlossener zu werden und... ja, was eigentlich? Vertrauensvoller vielleicht? Aber genausogut hätte sie sich vornehmen können, einem Schwein das Fliegen beizubringen!

Manchmal ging es ein paar Wochen lang gut. Sie konnte nicht abstreiten, daß sie in solchen Zeiten beinahe glücklich war, oder doch wenigstens glücklicher als sonst.

Aber dann kam jedesmal wieder der Einbruch, meist völlig aus heiterem Himmel, und sie bekam die totale Panik. Dann verschanzte sie sich in ihrer Wohnung, erschrak beim kleinsten Geräusch fast zu Tode und ging nicht einmal ans Telefon.

Jede Menge Ärger hatte sie sich mit diesem Verhalten schon eingehandelt. Es war unmöglich von ihr, daß sie damit vor allem immer wieder Tim vor den Kopf stieß, den einzigen Menschen, der ihr trotz allem seit Jahren die Freundschaft hielt und fast wie ein Bruder für sie geworden war! Aber sie kam einfach nicht dagegen an.

Mechanisch zog sie die Nachttischschublade auf. Sie holte Schreibblock und Kugelschreiber hervor und begann, wie in Trance, zu schreiben:

„Lieber Tim,

daß Du mich im Krankenhaus besuchen willst, ist sehr, sehr nett von Dir! Trotzdem möchte ich Dich bitten, es nicht zu tun! Du darfst nicht glauben, daß mir Deine Freundschaft nichts bedeutet. Aber ich bin überzeugt davon, daß es für DICH besser ist, wenn Du mich einfach vergißt! Ich weiß, daß ich Dir mit meinem Verhalten schon viel zu oft wehgetan habe und daß Du das nicht verdienst, nach allem, was Du für mich getan hast! Ich kann Dir noch nicht einmal eine Erklärung dafür geben, warum ich das immer wieder mache! Es ist einfach so, aber das entschuldigt natürlich gar nichts. Darum sollst Du Deine Freundschaft nicht länger an eine wie mich verschwenden, die in jeder Hinsicht derart beziehungsunfähig und wertlos ist!

Ich danke Dir für die schöne Zeit und wünsche Dir für die Zukunft alles Gute,

Deine Nora“

Als sie den Brief beendet hatte, fühlte sie sich völlig ausgelaugt. Bei dem Gedanken daran, daß sie Tim verlieren würde, wurde ihr noch elender. Aber einen anderen Ausweg sah sie nicht.

Kurze Zeit später kam eine Krankenschwester mit einem Tablett ins Zimmer. „Mittagessen, Frau Thiele,“ sagte sie fröhlich. Nora zögerte einen Augenblick. Noch war es nicht zu spät, noch konnte sie den Brief einfach... „Falls ein Herr Weller nach mir fragen sollte,“ sagte sie erstickt. „könnten Sie ihm das hier bitte geben?“ Sie streckte der Schwester den doppelt gefalteten Bogen fast gewaltsam entgegen. „Natürlich, Frau Thiele,“ sagte diese freundlich und steckte den Zettel in ihre Kitteltasche.

Als sie wieder allein war, schob Nora das Tablett angewidert zur Seite. Ihr war nicht nach Essen!

Arbeiten wollte sie, arbeiten! Ihre Hände zitterten, wie bei einer Süchtigen auf Entzug, aber so etwas Ähnliches war sie ja wohl auch.

Unwillkürlich griff sie neben ihr Bett, aber sie ließ die Hand gleich wieder sinken. Es war ja sinnlos. Ihr Laptop und die Aktentasche waren weg, nachdem die Nachtschwester sie erwischt hatte. „Daß Sie SO unvernünftig sind und gleich wieder die Nacht durcharbeiten wollen, hätte ich nicht gedacht!“ war der vorwurfsvolle Kommentar des Stationsarztes. „Ich hätte Ihnen das von Anfang an nicht erlauben sollen und jetzt ist jedenfalls Schluß! Wie wollen Sie denn wieder gesund werden, wenn Sie nicht mal einen Augenblick Ruhe halten können!“

Für Nora kam dieses Verbot, sich weiter mit ihren Übersetzungen beschäftigen zu dürfen, geradezu einem Todesurteil gleich! Begriff denn hier wirklich keiner, daß ihre Arbeit das einzige war, was zählte?

Wahllos blätterte Nora in ihrem Schreibblock herum. Da waren noch die Notizen, die sie sich zu ihren Aufträgen gemacht hatte. Da, die Stellungnahme dieser französischen Kunstsammlerin, die einen Prozeß wegen Betruges gegen einen Antiquitätenhändler angestrengt hatte. Anstelle der antiken Marmorstatue, die sie in seinem Geschäft gekauft hatte, sollte er ihr nur ein billiges Duplikat aus Gips nach Paris geschickt haben, ein, wie sie sich ausdrückte „échantillon sans valeur“. Ein Muster ohne Wert.

Die Schrift verschwamm vor ihren Augen. Wie ein ungebetener Gast tauchte eine Erinnerung in ihrem Gedächtnis auf.

Sie sah ihren alten Schulhof vor sich. Unzählige Kinder, die tobten, spielten, lachten, kreischten, ihren Spaß hatten. Nur ein einziges kleines Mädchen stand ganz allein. Blaß war es und dünn, mit einer stoppelkurzen Frisur, weil die Haare nach der Chemotherapie noch nicht wieder richtig nachgewachsen waren. Sehnsüchtig schaute es den anderen zu, immer in der unsinnigen Hoffnung, daß es einmal mitmachen dürfte. Aber niemand forderte es dazu auf und es traute sich nicht, darum zu bitten. Also blieb es allein. Allein? Nein, da kam ja eine ganze Horde von Kindern , die es umringten und mit sich zogen. Warum lachten alle so? Irgendwie klang es nach Spott. Aber das bildete es sich bestimmt nur ein! Wichtig war nur, daß es endlich einmal beachtet wurde, gerade, als wenn es dazugehören würde! Erst im Klassenraum entdeckte es, was wirklich los war. Als es nämlich seine Jacke auszog und den Aufkleber sah, den dort irgend jemand angebracht hatte. „Muster ohne Wert“ stand dort...

Noch heute, mehr als zwanzig Jahre später, glaubte Nora das höhnische Geschrei und Gelächter zu hören. Wie schon so oft fragte sie sich, warum dieser Mitschüler ihr ausgerechnet dieses Schild auf den Rücken geklebt hatte! Warum gerade das und nichts anderes? War es wirklich nur ein harmloser Streich gewesen, gar nicht bös gemeint?

Oder hatten schon damals die Kinder in der Schule gemerkt, daß... ja, daß mit ihr etwas nicht stimmte? Daß ihr ein Makel anhaftete, unsichtbar zwar, aber eben doch vorhanden?

Florian jedenfalls HATTE es gemerkt! Über ein Jahr lang war er ihre große Liebe gewesen und hatte ihr das Gefühl gegeben, daß er es mit ihr ernst meinte. Ihre frühere Krankheit und die Beeinträchtigungen, die sie aus diesem Grunde ihr ganzes Leben lang behalten würde, schienen ihm nichts auszumachen. Nora hatte ihn von ganzem Herzen geliebt und ihm voll vertraut. Sogar von Hochzeit war schon die Rede gewesen. Dann hatte er eine andere kennengelernt, die, wie er sagte, doch besser zu ihm paßte und ihm alles das geben konnte, wozu sie nicht in der Lage war. Fünf Jahre war dieses Fiasko inzwischen her.

Im Nachhinein konnte Nora über ihre eigene Dummheit nur lachen. Wie hatte sie nur glauben können, daß diese Beziehung gutgehen würde? Daß es für sie ÜBERHAUPT eine Beziehung gab, die gutgehen konnte?

Vermutlich hatte man ihr damals, als sie noch ein Kind war, mit dem Krebs noch etwas anderes aus dem Leib geschnitten! Das Recht, beachtet oder geliebt zu werden vielleicht? Oder vielleicht sogar die Daseinsberechtigung?

Und nun ging ihr auch noch ihre einzige positive Seite verloren, die andere vielleicht ein wenig an ihr schätzten: die Fähigkeit, unermüdlich, ausdauernd, schnell und zuverlässig zu arbeiten, immer zu funktionieren! Wie sollte sie gesund werden, wenn sie nicht arbeiten konnte oder durfte? Und wozu überhaupt?

Ja, die Kinder damals in der Schule hatten es schon beim richtigen Namen genannt: sie WAR ein Muster ohne Wert!

Nora schreckte auf, als die Tür plötzlich aufging. „Schauen Sie mal, was gerade für Sie abgegeben wurde!“ sagte die Schwester munter und hielt ihr einen gewaltigen Blumenstrauß hin. „Ich stelle ihn gleich ins Wasser! Und hier ist auch noch ein Brief!“ Nora hatte das Gefühl, die Welt müsse stehenbleiben, als sie die Schrift auf dem Umschlag erkannte: der Brief war von Tim!

Sie wartete, bis sie wieder allein war, ehe sie den Umschlag aufriß.

„Liebe Nora,

ich möchte nicht allzu viele Worte verlieren, weil ich glaube, daß das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gut wäre. Aber natürlich mache ich mir schon meine Gedanken über das, was Du mir geschrieben hast und ein paar Sachen muß ich Dir jetzt einfach doch sagen!

Um gleich mit dem Wichtigsten anzufangen: ich habe NIE meine Freundschaft zu Dir, oder das, was ich vielleicht „für Dich getan habe“, als „verschwendet“ angesehen! Es wird Dich vielleicht wundern, wenn ich Dir sage, daß ich Deine Ängste, Zweifel und viele Deiner Reaktionen gut verstehe! Ich weiß ja nun sehr genau, was Du im Lauf Deines Lebens durchgemacht hast: Deine Krankheit natürlich, und vor allem später die Geschichte mit Florian.

Dennoch finde ich es sehr schlimm, daß Du Dich in Deinem Brief als „wertlos“ bezeichnest und ich möchte Dir dazu eines sagen: für MICH bist Du einer der WERTVOLLSTEN Menschen, die ich je kennengelernt habe und zwar ganz genau SO, wie Du bist! Darum möchte ich Dich und Deine Freundschaft auch auf keinen Fall verlieren!

Natürlich respektiere ich Deinen Wunsch: ich werde Dich nicht besuchen und auch vorläufig nicht anrufen oder Dir schreiben. Das heißt aber NICHT, daß ich keinen Kontakt zu Dir möchte, sondern NUR, daß ich Dir die Zeit gebe, die Du im Augenblick anscheinend dringend für Dich selbst brauchst!

Ich habe es Dir in den letzten Jahren schon oft gesagt und vielleicht magst Du es inzwischen gar nicht mehr hören. Aber trotzdem wiederhole ich es noch einmal, weil sich daran für mich nicht das Geringste geändert hat: ich bin immer für Dich da!

Ich wünsche Dir alles Gute,

Dein Tim“

Das Blatt lag vor ihr auf der Bettdecke. Nora wußte nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen war. Ihr Gesicht fühlte sich steif an von den Tränen, die auf der Haut getrocknet waren.

Konnte es wirklich sein, daß die Welt doch nicht nur aus Florians und gehässigen Schulkindern bestand? Daß irgendwo Menschen waren, die sie akzeptierten, vielleicht sogar mochten, auch wenn sie nicht perfekt war? Sie erinnerte sich, daß sie diese Vorstellung vor langer, langer Zeit einmal gehabt hatte und daß sie ihr im Laufe der Zeit völlig abhanden gekommen war. Damals hatte sie sich in ihre rastlose Arbeitswut geflüchtet und sich eingeredet, daß ihr das genügen würde. Aber eigentlich wußte sie, daß sie sich damit nur etwas vormachte!

War es nicht an der Zeit, endlich mit dem Versteckspiel aufzuhören?

Es würde schwer werden, sehr schwer sogar, das war ihr klar! Solange sie sich nicht auf andere Menschen einließ, ging sie auch jeder Gefahr aus dem Wege, wieder enttäuscht und verletzt zu werden. Sollte sie wirklich versuchen, das verlorene Vertrauen wieder aufzubauen?

Tim wollte ihr dabei helfen, das war ihr deutlich geworden.. Aber den ersten Schritt mußte sie selbst machen.

Nora atmete tief durch. Es fiel ihr nicht leicht, aber sie wußte jetzt, was sie zu tun hatte. Sie griff nach dem Telefonhörer und wählte Tims Nummer.