Stroh, Norbert

Der Schatten der Gerechten

 

In einem kleinen Weiler, mitten im Pfälzer Wald, wohnte seit vielen Jahren eine Person, die zeitlebens im Streit mit ihren Nachbarn lebte. Diese Person intrigierte, beschimpfte, log, sprühte Hass und säte Zwietracht unter den Menschen um sie herum. Der Hass war so groß, dass sich das Regenwasser auf den Wegen grün verfärbte und sogar bergan floss.

 

Eines Nachts – es war sternenklar und der Mond strahlte sein silbernes Licht zur Erde, klopfte es an der Tür dieser Person: Tock! Tock!!Tock!! ! Tock !!!!

 

Man öffnete und stand einer dunklen Gestalt gegenüber. In der Ferne war das Heulen eines Wolfes zu hören.

 

„Was ist los, wer bist du?“, bellte es aus dem Haus.

 

„Du weißt, wer ich bin!“, erwiderte die Gestalt, die mit einem dunklen Umhang und einer Kapuze bekleidet war. Nur der blanke Stahl über der Schulter leuchtete eindringlich im Schein des Mondes.

 

Die Person bellte noch einmal schrill und laut: „Verschwinde, gehe mir aus den Augen!“ Und zum Nachdruck schlug sie mit den geballten Fäusten auf die Gestalt ein.

 

Doch die Schläge blieben ohne Wirkung, sie verpufften im Schatten! Das Heulen des Wolfes entfernte sich.

 

Nach einiger Zeit ging es der Person sehr schlecht. So schlecht, dass sie in das Hospital eingeliefert wurde. Aber auch dort war sie unausstehlich, beschimpfte die Ärzte sowie das gesamte Personal.

 

Doch eines Nachts, es war wieder Mondschein erschien am Krankenbett erneut die Gestalt mit dem dunklen Kapuzenumhang. Der klare Mondschein wurde reflektiert von dem Metall über der Schulter und verlor sich im Dunkel der Nacht.

 

Sie bellte wieder: „Was willst du denn schon wieder?“

 

„Du weißt, wer ich bin, und heute muss ich dich mitnehmen. Deine Zeit auf der Erde ist abgelaufen“, erwiderte ihr Gegenüber mit eisig klingender Stimme. „Da hilft dir dein Name auch nicht mehr, Gottlob!“

 

Und es hallte ein schriller lauter Schrei durch die leeren Gänge. In der Ferne war das Heulen eines Wolfes zu hören.

 

Als die Ärzte am nächsten Morgen das Zimmer betraten, lag die kranke Person leblos in ihrem Bett. Im Zimmer roch es ein wenig nach Schwefel und auf dem Fußboden sah man Abdrücke wie von verbrannten Sohlen. Über ihr ausgebreitet lag ein schwarzer Umhang mit Kapuze! Im Hospital vermutete man eine Straftat und holte die Polizei zu Hilfe.

 

Als die den Umhang entfernen wollte, zerfiel dieser und löste sich auf, bis nur noch ein Hauch von Staub übrig blieb. Man wunderte sich aber über ein Geräusch, das wie ein fernes Heulen eines Wolfes klang. Wunschgemäß sollte die Person verbrannt werden.

 

Doch im Krematorium hatte man erhebliche Probleme. Es bedurfte zweier Versuche, ehe die Person endgültig zu Asche verbrannte. Die Beisetzung wurde auf einem Waldfriedhof, einem Ruheforst unter einer stattlichen Eiche vorgenommen. Es ging alles reibungslos vonstatten bis zu dem Zeitpunkt, an dem die letzte Schaufel Erde die Urne bedeckte.

 

Zeitgleich schoben sich nachtschwarze Wolken vor die Frühlingssonne, verdunkelten den Himmel und ein mächtiges Gewitter zog auf. Es donnerte und blitzte so stark, dass die anwesenden Menschen glauben mussten, die Welt gehe unter. In der Ferne war das Heulen eines Wolfes zu hören.

 

Wie zur Bestätigung fuhr ein ungeheuer mächtiger Blitz in die mehrere hundert Jahre alte Eiche ein und spaltete den Stamm von der Krone bis zur Wurzel in zwei Teile. Die Bruchflächen standen in Flammen, der Baum loderte bis in die Krone. An der Wurzel war in einem Umkreis von etwa zehn Meter die gesamte Erde verbrannt. Keine Pflanze, kein Lebewesen blieb übrig.

 

Der folgende sehr starke Regen aber verlöschte die Flammen an der Eiche und verhinderte ein Übergreifen auf die benachbarten Bäume. Es erweckte den Eindruck, als stünde alles nur im Zusammenhang mit dieser einen Beisetzung.

 

Dass in diesen Minuten eine dunkel gekleidete Gestalt, über deren Schulter es zu leuchten schien, hinter den Bäumen verschwand, ist den anwesenden Menschen nicht aufgefallen. Das entfernte Heulen eines Wolfes verstummte.

 

Wochen später kam der zuständige Förster in den Ruheforst. Was er sah, konnte er kaum glauben. Hunderte Meter im Umkreis um die vom Blitz geteilte Eiche war der Waldboden kahl und braun. An den Bäumen welkten die Blätter und einzelne Äste fielen bereits zu Boden. Der Förster machte einen Rundgang und besah sich den Schaden genau. Er konnte nicht erkennen welche Naturgewalten hier tätig waren, zumal es Frühling war und an anderen Stellen alles sprießte und blühte.

 

Der Tag neigte sich dem Ende zu, die Sonne versank im Westen zwischen den noch lebenden Bäumen. Und plötzlich war um ihn herum alles in Nebel gehüllt. Man sah kaum die Hand vor den Augen, als der Förster eine Gestalt vernahm. Im Nebel tauchte sie auf. Er sah nur einen dunklen Umhang, obenauf eine Kapuze. Es schien ihm, als habe etwas über der Schulter der Gestalt geleuchtet. Er hörte eine eisig klingende Stimme: „Förster, dein Wald wird zu Asche verkommen, nur ich kann dir helfen. Gib mir die Überreste der Person, die ihr hier an der Eiche vergraben habt. Sie gehört mir! Mir allein!“ Und wieder war in der Ferne das Heulen eines Wolfes zu hören

 

Der Förster hörte sich sagen: „Nein, nein, ich muss wohl träumen, ich glaube es nicht!“ Er verließ den Ruheforst, ohne sich weiter um den Schatten zu kümmern.

 

Tage später kehrte er zurück. Er wollte nachsehen, ob sich der Wald erholt hatte. Doch er sah nur etwas kaum vermutetes.

An vielen Stellen kam Rauch aus der Erde, es roch verbrannt, pech- und schwefelhaltig. Vor der verbrannten Eiche schien der Boden zu kochen. Und wieder kam dichter Nebel auf. Auch vernahm er wieder den schon bekannten Schatten. Dieses Mal stand neben dem Schatten noch eine Karre mit langer Deichsel. Aber es war nichts angespannt. Nur manchmal hörte man ein Schnauben wie von einem Pferd und im Nebel sah man den heißen Atem des Tieres, jedoch man sah es nicht.

 

Die Gestalt sprach wieder mit eisiger Stimme: „Förster, ich habe es dir prophezeit, dein Wald wird zur Asche. Nur ich kann dir jetzt noch helfen. Nimm diese Schaufel und grabe die Urne sowie darum herum zwei Meter der Erde aus und gib sie in meine Karre, denn sie gehört seit langer Zeit mir.

 

Und heute war das Heulen des Wolfes in direkter Nähe!

 

Dieses Mal jedoch ließ sich der Förster angesichts der Verwüstung seines Waldes überreden und tat wie ihm geheißen. Nach gut einer Stunde Arbeit hatte er alle Erde in den Karren geladen.

 

Der Schatten sagte zu ihm: „Du hast gut daran getan, meinem Rat zu folgen. Du wirst es nicht bereuen!“

 

Zugleich hörte er nur noch ein Schnauben und leises Wiehern und die knarrenden Räder der Karre. Das Heulen des Wolfes war nicht mehr zu hören.

 

Ihm war, als würde er noch das Leuchten über der Schulter des Schattens erkennen, als der Nebel und auch der Schatten mit der Karre plötzlich verschwunden war. Ganz plötzlich schien auch die Frühlingssonne und er glaubte das Gras wachsen zu hören.

 

Als er erneut eine Woche später noch einmal den Ort besuchte, erlebte er erneut eine Überraschung, mit der er nicht gerechnet hatte.

Der Ruheforst war zu einem blühenden Paradies geworden. Auch die gespaltene Eiche hatte neue Äste und Blätter bekommen.

 

Inmitten der langen Spalte war ein Vogelnest entstanden und junge Vögel in wunderbaren Farben umflogen den Baum.

 

Am Fuße der Eiche wuchsen Blumen und in dem von ihm ausgehobenen Loch, wo die böse Person beigesetzt worden war, war ein wunderbarer Teich entstanden, in dem nun farbenfrohe Fische schwammen.

 

Am Rande dieses Paradieses sah er eine alte Sense im Unterholz liegen. Das Holz war vermodert, mit Moos bewachsen und das Sensenblatt komplett mit Rost überzogen. Die hatte er bislang noch nie entdeckt. Aber sie muss wohl vor langer Zeit ein Waldarbeiter hier vergessen haben … oder war es doch etwas anderes?