Ungehorsam ist (k)eine Tugend

Jennifer Krützmann

 

„Rekrutin Freeya!“

 Ich zucke zusammen. Wieder. Ich kann meine Gedanken einfach nicht zügeln, immer und immer wieder schweifen sie ab. Natürlich. Es gibt nichts Unspektakuläreres als die täglichen Vorträge über die ach so tolle atropische Armee. Propaganda. Soldaten, die ihren Kopf schon seit Jahren nicht mehr nutzen. Einfach nur Befehlen folgen, ohne Sinn und Verstand – ich gebe zu, es fesselt mich nicht besonders. Ich kann ihren Worten einfach nicht lange genug folgen. Aber natürlich haben sie Recht. Und immer und immer wieder rufen sie mich zur Ordnung. Gehorsam ist eine Tugend. Eine Eigenschaft, die über allem anderen geschätzt wird. Sie ist eine Last. Ich entschuldige mich. Förmlich, angemessen. Aber sie hören schon nicht mehr zu. Die Führer der Armee, für die ich mich freiwillig habe melden müssen. Auch ihre Aufmerksamkeitsspanne lässt zu wünschen übrig. Welch eine Ehre! Welch eine Schande. 

Tag für Tag derselbe Trott. Routine. Wie ein Theaterspiel. Wir, das sind die diesjährigen Freiwilligen für den Dienst in der Armee, stehen gehorsam in Reih und Glied, aufrecht und steif und lassen aufmerksam die Vorträge über uns ergehen. Unterricht sagen wir dazu, wenn niemand es hören kann. Unterricht, dem niemand folgen mag, denn er ist uninteressant. Wir sind fast noch Kinder. Gerade alt genug, um nicht schreiend davon zu laufen bei der Vorstellung, wofür wir hier ausgebildet werden. Der Krieg. Seit den dunklen Tagen hat es keinen Krieg mehr gegeben, doch man kann ja nie wissen, wie es morgen aussieht. Tag für Tag predigen sie uns, wie wichtig es sei, sich nicht der trügerischen Sicherheit hinzugeben, die der Frieden mit sich bringt. Der Frieden. Die Schatten wurden vor über achtzig Jahren unterworfen. Man könnte meinen, dass die Notwendigkeit, mit der sie uns die Angst vor dem Morgen immer wieder ins Bewusstsein zurück bringen, langsam, aber sicher, an Präsenz verlieren müsste, aber dem ist nicht so. Tag für Tag frischen sie die Erinnerung daran auf, bringen uns dazu die Schrecken der Vergangenheit in jeder Ecke zu erwarten. Damit wir im entscheidenden Moment nicht zögern. Sagen sie. Doch ich weiß es besser.

„Freeya!“ Ich spüre den Druck auf meiner Schulter und richte mich sofort wieder auf, das Kinn erhoben, den Blick gerade aus. Ich salutiere.

„Rekrutin“, spricht die Stimme wieder, glockenhell und klar, „sage mir, welche Träumereien hindern dich daran, der Lektion zu folgen?!“

Ich erstarre und ein leichter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich kann ihr nicht sagen, woran ich gedacht habe. Aber auf Ungehorsam stehen viele schmerzhafte Strafen. Also kann ich es ihr auch nicht nicht sagen.

Sie schaut mir tief in die Augen. Ich habe Glück und sie lässt von ihrer Frage ab. Prüfend sieht sie mich an. „Der Zufall will es, dass es eine Alternative zu den Lehrstunden gibt“, sagt sie schließlich verträumt und mit einem Lächeln auf den Lippen, das mir ganz klar zeigt, dass sie ohnehin auf dieses Thema zu sprechen kommen wollte. Sie richtet sich nun wieder an die ganze Gruppe, doch ich spüre, dass ich noch nicht erlöst bin. „In den frühen Abendstunden des gestrigen Tages haben Späher eine Elfe ausgemacht. Und unsere verehrte Freeya hat sich soeben freiwillig gemeldet, sie für uns zu fangen.“

Was?!

Na, da habe ich mir ja wieder etwas eingebrockt. Spektakulär ist es auf jeden Fall. Der Schreck sitzt mir tief in den Gliedern, doch ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Ich weiß genau, jedes einzelne Augenpaar ist nun auf mich gerichtet. Selbst jene, die, so wie ich, dem Unterricht nicht folgen konnten, wissen, dass sie nun nicht unaufmerksam sein dürfen. Denn Unaufmerksamkeit kann schnell gefährlich werden.

Ich nicke meinem befehlshabenden Offizier zu, um zu zeigen, dass ich verstanden habe. So wird es von mir erwartet. Ein klarer Befehl. Fange die Elfe und bringe sie her. Dieser Späher wird nie mein Freund sein und sollte ich je herausfinden, wer es gewesen ist … Mein Puls rast schneller, als ich es je gespürt habe. Es ist zwecklos, das weiß ich genau. Aber es hilft nicht. Jahrelang haben sie uns eingeredet, die Elfen seien gefährlich, finster und voller Argwohn. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Nein, ich will es nicht glauben. Und doch zucke ich wie alle Kinder zusammen, wenn ich nur den Klang des Wortes vernehme. Auch das ist natürlich nichts als Propaganda. Äußerst effektive Propaganda. 

Niemanden von uns wundert es, weshalb dieser Auftrag gerade an uns geht. Wir sind die Jüngsten. Wir sind die Kleinsten. Wir sind die Leichtesten. Nur wir schaffen es, die hohen Bäume zu erklimmen und auch die dünnen Zweige weit unter uns zu lassen, ohne dass sie brechen. Sollten sie doch brechen … Nun, wir sind auch die Entbehrlichsten. Und von uns allen bin ich offenbar die Dümmste. Das habe ich in der Zwischenzeit begriffen.

„Heute Abend geht es los. Der Wald ist an der Stelle nicht tief, aber die Bäume sind alt, ihre Zweige morsch und brüchig.“

Na wunderbar.

„Wenn alles nach Plan läuft, wirst du noch im Dämmerlicht deine Rückkehr antreten können.“

Wenn nicht … Nun ja, diese Alternative steht wohl nicht zur Debatte.

 

„Denke daran! Elfen sind gefährlich! Sie können blitzschnell angreifen und ihre dünnen Arme sind viel stärker als sie scheinen. Gib also gut Acht!“ Das ist alles, was sie mir sagt. Mein befehlshabender Offizier. Ist das nun ihre Strafe dafür, dass ich nicht aufgepasst habe? Ausgesetzt zwischen den Bäumen, die älter sind als unser ganzes Dorf. Und nur ein Seil und ein Messer zur Verteidigung. Gepäck habe ich nicht bei mir, so etwas wie eine Rüstung schon gar nicht, denn ich muss klettern. Wie gut, dass so viele Kinder in der Armee sind, denke ich sarkastisch und suche mir einen Weg durch das Gehölz.

Das Heer war nicht immer so groß. Erst als der alte Söldner kam und die Schatten niederwarf, entkam es der unbedeutenden Position, die es inne hatte und wurde zum wichtigsten Werkzeug für die Herrschenden. Der Trunkenbold! Sein Erfolg löste einen regelrechten Wahn aus – das Militär ist so groß und so stark wie nie. So gut wieder jeder, dem sie es gestatteten, trat in die Armee ein und verpflichtete seine Erben gleich mit. Denn das gab Ruhm, Anerkennung und Ehre. Seitdem wurden Jahr für Jahr ganze Familien auseinandergerissen und es gab weder Ruhm noch Anerkennung noch Ehre. Nur weil ein alter, betrunkener … Halt.

Ich bremse meine Gedanken, während ich tiefer in den Wald hineinstolpere. Das Unterholz ist dornig und widerspenstig und der Stoff an meinem Körper bleibt immer wieder daran hängen. Ich zwinge mich die Geschichten, die sie uns erzählt haben, zu vergessen. Nicht der Söldner allein hatte die Schatten niedergeworfen mit seinem ach so tollen Schwert, das fast schon legendär war, auch wenn niemand es je zu Gesicht bekommen hat. Mit ihm zusammen gekämpft hat eine Frau. Alt, klapprig und grau war sie alles andere als das, was man als schön bezeichnete. Und doch war sie eine Elfe. Die Überlieferungen sind an dieser Stelle unvollständig und verpfuscht. Eine gewöhnliche, alte Frau soll es gewesen sein, ein Mensch aus einfachen Verhältnissen, der zufällig gewusst hat, wie man die Sache anpacken musste.

Auch ich habe das jahrelang geglaubt. Doch inzwischen weiß ich es besser. Sollte dies je bekannt werden, würden sie mir vermutlich den Befehl geben auf einen besonders morschen Ast hoch oben in der Baumkrone zu steigen, damit der Wald ihnen die Pflicht abnimmt, mich und das Wissen, das ich habe, zu beseitigen. Ein Unfall, wie er tagtäglich vorkommen kann. Tragisch, aber ohne Folgen, denn wir alle sind ersetzlich.

Trotzdem. Es ist nicht von Bedeutung. Vielleicht sterbe ich ohnehin heute in einer Baumkrone. Die Möglichkeit besteht immerhin. Und wenn ich erst auf die Elfe – Ritsch!

Großartig. Fluchend befreie ich mich aus dem Dornenbusch, versuche mein Haar aus den Zweigen zu befreien und meine Kleider wieder zu ordnen. Ein großes Stück des Stoffes hängt lose herab und birgt in sich die Gefahr, dass ich wieder hängen bleibe oder darüber stolpere. Schmerzhaft pocht mein Kopf an der Stelle, wo die Haare herausgerissen wurden und für einen Moment bleibe ich stehen, damit ich wieder zur Ruhe komme. Kopflos durch den Wald zu gehen ist das Dümmste, das ich machen könnte. Ich habe heute wirklich schon genug dumme Dinge getan, sonst wäre ich immerhin nicht hier. Langsam aber sicher werden meine Gedanken wieder klar und ich sehe mich um. Einst war dies ein schöner Wald, oder zumindest hat man mir das erzählt. Heute ist er grau und klapprig, ein Schatten seiner selbst. Der Wald stirbt. Sein einst strahlendes Holz wird zu tödlichen Fallen.

Ich reiße an meinem Stoff und binde damit mein dunkles Haar zurück. Vielleicht gibt mir das etwas Schutz vor den Ästen, die an mir zerren. Etwas anderes habe ich nicht. Die Armee erwartet, dass ich einen sicheren Weg durch den Wald finde. Vorsichtig gehe ich weiter, setze die Füße in kurzen Schritten voreinander. Langsam, ohne Hast. Denn so bin ich schneller. Überraschenderweise komme ich gut voran. Zwar zerrt das Gestrüpp noch weiter an mir, aber wenigstens falle ich nicht wieder hin. Die Luft ist bedrückend. Sie wirkt alt und abgestanden.

Wesentlich schlimmer jedoch ist die Stille. Dieses alles umfassende Schweigen, das selbst meine Schritte dämpft, sodass ich sie kaum hören kann. Kein Tier bewegt sich in diesem Wald. Die Tiere haben den Wald schon vor längerer Zeit verlassen. Sie seien auf der Suche, heißt es, doch ich weiß nicht, was sie finden wollen. Ein Ast knackt unter meinem Fuß und ich erstarre, ehe auch dieses Geräusch verhallt. Ein weiteres Knacken lässt mich herumfahren. Denn dieses Mal war ich nicht dafür verantwortlich.

 

Die Elfe! schießt es mir sogleich durch den Kopf und eine Vielzahl schrecklicher Bilder erscheint vor meinem inneren Auge. Elfen, die blutrünstig auf mich zukommen, mich umzingeln. Die Augen verzerrt vom Hass. Pfeile auf mich zuschießend, sie durchbohren meinen Körper, ohne dass ich ausweichen kann. Blut, das aus mir hervor sickert, bis die Welt um mich herum verschwimmt und ich nichts mehr mitbekomme. Mein Atem geht schneller. Unweigerlich suche ich meine Brust ab, doch ich finde nichts. Es gibt den Pfeil nicht, dessen Schaft ich zu spüren glaube. Es gibt die kalten Augen nicht, die sich an meinem Unglück weiden. Und es gibt auch kein Blut.

Kalter Schweiß steht auf meiner Stirn und ich zittere, aber ich zwinge mich, mich zu beruhigen, das Schaudern abzuschütteln, das mein Deckvermögen förmlich eingefroren hat. Ich bin mehr als ein instinktgesteuertes Wesen! Mein Instinkt schreit unendlich laut. Schreit mich an, ich solle endlich fliehen, solle rennen! So schnell ich kann, nur weg von hier! In diesem Moment hätte kein Gestrüpp der Welt meinen panischen Körper aufhalten können. Doch ich weiß, dass ich dem nicht nachgeben darf. Dies ist mein Auftrag! Außerdem sagt mein Instinkt ohnehin nur, was ich ohnehin all die Jahre habe glauben sollen. Ich darf der Lüge nicht trauen. Wäre ich nicht schon vor Wochen in die verborgenen Kammern der Bibliothek eingebrochen, ich hätte es vermutlich nicht geschafft, mich zu beruhigen. Doch ich habe die alten Aufzeichnungen gelesen. Jene Informationen, die sie uns vorenthalten und ich möchte ihnen glauben. Eine Elfe kämpfte Seite an Seite mit dem Söldner – kein Mensch. Es gab ein Bündnis, das so erfolgreich war, dass es unserer Welt den Frieden schenkte. Und es gab einen Elf, dessen Taten wohl die Begründung dafür waren, weshalb die Elfen im ganzen Land gejagt, gefangen und sogar getötet wurden. Zusammengepfercht wie die Tiere, die hier einst lebten. In diesem sterbenden Wald. Hier sterben auch die Elfen.

Heute soll ich zu einem Teil dieser Jagd werden. Ich denke an meinen Auftrag und an die Elfe, die ich fangen soll. Angst ist eine Schwäche. Ich kann nicht ohne die Elfe zurückkommen.

Ich schüttle meinen Kopf energisch hin und her um die Gedanken zu vertreiben. Ich wende mich in die Richtung, in der ich die Elfe erwarte und verenge meine Augen zu Schlitzen. Im Dämmerlich ist nur wenig zu erkennen, aber den Überlieferungen zufolge, können Elfen im reinen Sonnenlicht viel besser sehen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich jedenfalls kann im Dämmerlicht nicht sonderlich gut sehen, es strengt mich an. Das wenige einfallende Licht reicht gerade aus, um die finsteren Ecken noch finsterer zu machen. Vielleicht macht es meinem Offizier auch einfach nur Spaß, mich so zu sehen. Vielleicht will sie meine Schwäche offenbaren. Vielleicht will sie mich testen.

Ein einziges Mal gestatte ich es mir tief durchzuatmen, dann gehe ich weiter. Direkt auf den Baum zu, der der höchste seiner Art zu sein scheint. Einst muss dieser Baum sehr kräftig gewesen sein. In einer anderen Situation hätte er mich beeindruckt, so schüchtert er mich ein. Nichtsdestotrotz ertasten sich meine Finger mühsam Halt an seiner groben Rinde. Gerade als ich mich heraufziehen will, gibt die Rinde nach, blättert ab und bricht mir dabei zwei Nägel ab.

Kein Halt. Ausgezeichnet. Vielleicht finde ich tatsächlich den Tod. Ich beiße die Zähne zusammen und versuche mich erneut an dem Aufstieg. Dieses Mal gelingt es. Stück für Stück ziehe ich mich hoch, klettere von Ast zu Ast. So oft es geht, schlinge ich das Seil um mich und einen hoffentlich starken Arm des Baumes um mich zu sichern. Gern hätte ich auch das Messer genutzt, um besseren Halt zu finden, aber ich wage es nicht, die Klinge in das morsche Holz zu schlagen. Man muss einen Bruch ja nicht auch noch provozieren. Obwohl der Baum es mir wirklich nicht leicht macht, ziehe ich mich in schwindelerregende Höhen, der Krone entgegen. Ein drohendes Zischen ist die einzige Warnung, dann werde ich in eine Astgabel gezogen, das Seil um meinen Körper geschlungen und das Messer mir direkt unter die Nase gehalten.

Ich schreie nicht. Ich würde gern, aber es geht nicht. Jeder Ton bleibt mir im Halse stecken, vor Schreck bleibt mir der Atem weg. Ich keuche, huste schließlich und schmecke dann Blut, denn ich habe mir offenbar auf die Zunge gebissen.

Ungemein beeindruckend, wirklich, genau so habe ich mir das vorgestellt. Anstatt also die Elfe zu fesseln, bin nun ich diejenige, die gefesselt ist. Da hätte ich auch gleich springen können. Weil ich den Auftrag nicht erfüllen kann. Oder weil ich zu viel weiß. Oder was auch immer. Das Erste, was ich sehe, ist blaue Haut, blass in dem noch immer fahlen Licht. Ich zucke nicht zurück. Wie auch? Stattdessen starre ich das Wesen an, das sich mir offenbart und es läuft mir kalt den Nacken herunter. Es, oder vielmehr er, ist von ganz außergewöhnlicher Schönheit, schlank, aber nicht mager, groß, aber nicht zu groß und mit Augen, in denen man sich verlieren kann. Die Tiefe des Alters. In mir schrillen alle Alarmglocken und ich bilde mir für einen kurzen Moment ein meinen Instinkt lachen zu hören. Ich musste es ja besser wissen. Also habe ich das wohl verdient. Dann ist der Augenblick vorbei und meine Augen haben sich an den fremden Anblick gewöhnt. Er hält mir noch immer die Klinge meines Messers vors Gesicht, wahrt jedoch Abstand, sodass er mich nicht verletzt. Lohnt sich vermutlich noch nicht. Dann erst sehe ich, dass er nicht allein ist und mein Herz schlägt schneller.

„Warum bist du gekommen?!“, fragt seine Gefährtin mich kalt. Nie zuvor sah ich ein ungleicheres Gespann. Sein perfekter Körper schmeichelte ihr ganz und gar nicht, ihre Haut ist blass und farblos, eingefallen und alt. Obwohl sie so klein ist, dass sogar ich sie vermutlich überrage, flößt sie mir eine Menge Respekt ein, viel mehr noch als das Messer, gegen das ich nichts tun kann und das in diesem Moment gerade mein Unterbewusstsein in Angst und Schrecken versetzt. Ich spüre es nicht, fühle nur, wie mein Herz rast und aus meiner Brust zu springen droht. Sie sieht aus wie ein vergreister, alter Mensch. Doch auch sie ist eine Elfe.

Ich weiß, dass ich nun antworten muss.

„Ich habe einen Auftrag …“, bringe ich quietschend und schrill hervor. Meine Nerven scheinen gerade verloren zu gehen. Hervorragend. Wieder die Bilder vor meinem inneren Auge, die ich gerade absolut nicht gebrauchen kann.

„Welchen Auftrag?“, fragt sie wieder, nicht weniger herrisch und ich gehorche. „Ich soll die Elfe fangen …“ Eine brechende Stimme hindert mich am Weitersprechen, lässt mich unglaublich schwach aussehen. Selbst für meine Ohren klingt es lächerlich. Die beiden sehen sich kurz an, doch es kommt mir vor wie Stunden. Stunden, in denen sie über mich richten. Stunden, in denen ich viele Male einen qualvollen Tod sterbe. Doch ich sterbe nicht, als er sich auf mich zu bewegt. Schneller als ich gucken kann, durchtrennt der Elf die Fesseln und mein kostbares Seil fällt zu Boden. Damit habe ich nun also sowohl meine einzige Waffe, als auch meine einzige Verteidigung verloren. Kein guter Schnitt. Aber ich kann mich bewegen, falle sogar fast vom Baum. Im letzten Moment erwische ich mit meiner linken Hand einen Ast, kann mich gerade noch halten, die Beine fest um das Holz geklammert. Hochgezogene Brauen sind das Ergebnis.

„Dann fang uns!“, schlägt die Elfe vor, wie um mich zu verhöhnen, doch ich probiere es natürlich nicht. In dem maroden Holz haben die zwei Elfen einen unfairen Vorteil, den ich nicht ausgleichen kann. Ich würde fallen, sie nicht. Von welcher Seite man es auch betrachtet. Ich kann nicht gewinnen. Aber ich lebe. Noch. Wieso? Ich kann nichts weiter tun, als sie anzustarren. „Wer seid ihr?“, frage ich zittrig. Unnötig zu erwähnen, welche Seite furchteinflößender ist. Eine gescheiterte Jagd. Ein sich mit Worten windendes Opfer. Erbärmlich.

„Nenn mich ... Emelle“, zögerlich mustert sie mich, offenbar mit sich ringend freundlich zu sein, um mich nicht zu verschrecken. Als ob das noch nötig wäre. „Sag, willst du leben oder sterben, Kind?“

 

Was?! Fassungslos starre ich in ihre Augen, bin wie gebannt. Wenn das ein Scherz sein soll, ist er nicht besonders komisch. Wollen sie mit mir spielen, bevor sie mich erledigen? Ich kann nichts erwidern.

Emelle lächelt mich an, mein Misstrauen wächst. „Hör zu, Kind, wir haben nicht viel Zeit.“ Mitleid liegt in ihren Augen und ich kann es nicht verstehen. Ich rutsche auf meinem Ast soweit es geht von ihr weg. „Sicher haben sie dir das Märchen vom Verrat der Elfen erzählt. Du musst das vergessen. Du kannst es. Du bist ein Mensch und Menschen vergessen schnell. Sie haben vergessen, dass es einst Frieden gab.“ Sie spricht so schnell, dass ich ihr kaum folgen kann, ihre melodische Stimme lässt meinen Kopf schwirren. Sie macht es mir unmöglich ihre Worte zu begreifen. Wir haben doch Frieden! „Frieden zwischen Elfen und Menschen“, konkretisiert sie. Es muss mir also anzusehen gewesen sein. „Menschen sind töricht. Nicht sie allein sind verraten worden, auch die Elfen traf der Verrat tief. Wir alle wurden bestraft, weil nur ein Einziger den falschen Weg gewählt hatte. Menschen sind selbstgerecht und denken nicht nach. Aber jetzt, Kind, musst du nachdenken, sonst wirst du sterben.“

Wieso töten sie mich dann nicht einfach? Es wäre doch viel einfacher. Furcht erfasst mich von Neuem. Ich will noch nicht sterben. Ich blicke mich hilfesuchend um. Mein Messer. Wenn ich es nur bekommen könnte. Der Elf hat es zwischen seine Hand und den Ast eingeklemmt. Ein einziger, junger, grüner Trieb sprießt darunter hervor.

 

Ich kenne meinen Auftrag. Ich soll die Elfe fangen. Als meine Füße festen Boden berühren, kann ich nicht anders, als nachzugeben. Ich lasse mich fallen, bis ich mich wieder sicher fühle. Erst dann stehe ich auf. Elegant steigt Emelle von dem Baum herab, stellt sich neben mich und wartet kommentarlos, bis ich meine Gefühle wieder unter Kontrolle habe. Sie nickt mir aufmunternd zu. Mechanisch lege ich das längste Stück meines Seils, das ich noch finden konnte, um ihre schlanke Taille, ihre Arme an ihren Körper gepresst. Ich soll die Elfe fangen. Ich habe die Elfe gefangen. Die Elfe hat sich fangen lassen.

Ich weiß nun, wer sie ist. Sie ist es, die vor so vielen Jahren mit dem Söldner gekämpft hat. Für die Menschen. Sie ist es, die den Überlieferungen zufolge ein Mensch ist. Eine Elfe. Sie ist es, der es gelungen ist, aus ihrem Gefängnis in den Wald zu fliehen. Und sie ist es, die nun mit mir dorthin zurückkehrt. Wir kommen schnell voran. Viel schneller als ich es auf dem Hinweg gewesen bin. Denn ich muss mich nun nicht vorsehen. Über uns, hoch in den Gipfeln der Bäume begleitet uns ihr Gefährte.

Als wir zu meiner Truppe gelangen, begrüßt mich anerkennendes Klatschen, doch ich achte nicht darauf. Ich achte nur auf Emelle. Ihr Blick ist undurchschaubar. Ich weiß nicht, was sie denkt. Hier zwischen all den Menschen, die sie so verachtet. Ich weiß selbst nicht, was ich denken soll. Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Das saftige Grün. Der Baum lebt. Dort, wo der Elf ihn berührt hat, lebt der Baum. Nie habe ich etwas Wundersameres gesehen und egal, wie oft sie auch versuchen es mir begreiflich zu machen, ich werde es wohl doch nie wirklich erfassen. Die Elfen sind aus den Wäldern verschwunden. Zusammengedrängt, eingesperrt. Viele haben ihr Leben verloren. Doch nicht nur die Elfen sterben. Auch die Wälder sterben. „Die Elfen bewahren das Gleichgewicht in den Wäldern“, hat Emelle gesagt. Ich weiß nicht, was das heißen soll. Aber dort, wo die Elfen sind, lebt der Wald. Das ist alles, was ich weiß.

„Rekrutin Freeya!“, die Stimme meines Offiziers reißt mich aus meinen Gedanken. Lerne ich denn überhaupt nicht dazu? „Ich habe eine Vollversammlung einberufen. Bringe die Elfe auf den Platz, damit sie ihre gerechte Strafe bekommen kann.“

Ein drohendes Zischen dringt aus Emelles Kehle und lässt auch mich erstarren. Dann spuckt sie meinem Offizier vor die Füße. Beeindruckend. Diese lächelt nur und auch das lässt mich erschaudern. Wie nur? Wie soll ich so überleben können? Die Angst geht mir durch Mark und Bein. Ich sehe nicht, wie ich meiner Strafe entgehen soll. Die Anderen aus meiner Gruppe sehen mich ehrfürchtig an. Es ist nur allzu deutlich, dass niemand von ihnen damit gerechnet hat, dass ich zurückkommen würde. Wieso auch? Ich selbst habe nicht damit gerechnet. Was hier geschieht, ist nichts als purer Wahnsinn. Mit zitternden Händen geleite ich Emelle durch die Menge auf den Platz. Sie wehrt sich zwar nicht, gibt jedoch immer wieder Drohgebärden von sich, die mir durch Mark und Bein gehen. Ich weiß nicht, wie die Anderen es aushalten. Mir rutscht das Herz in die Kniekehle. Ich weiß genau, was nun kommt. Aber ich weiß nicht, wie die öffentliche Folter Emelle dabei helfen soll, die Elfen zu befreien und damit die Wälder zu retten. Sie ist nur mitgekommen, damit ich leben kann, hat sie gesagt. Ich weiß nicht, ob auch Elfen senil werden können, aber es macht einfach keinen Sinn, sich selbst zu opfern für jemanden, den man erstens überhaupt nicht kennt und der einen zweitens der Willkür seiner Art aussetzen will. Oder soll.

Auf dem Platz ist schon ein Scheiterhaufen zurecht gemacht. Mir bleibt der Mund offen stehen, als ich es sehe. Es ist ganz offensichtlich: Die Elfe soll sterben. Nein. Ich soll die Elfe umbringen. Diese Armee wird immer absurder. Sicher gibt es genügend Menschen, die sich um diese Aufgabe reißen würden, doch mir allein soll die Ehre gebühren. Welch eine Schande. Nun gut. Ich binde Emelle an dem Pfahl fest, trete dann einen Schritt zurück. Dass ich mich überhaupt noch auf meinen wackeligen Beinen halten kann, grenzt an sich schon an ein Wunder. Offenbar hat der Drill doch Früchte getragen. Überraschend. In dem Moment tritt unser oberster Marschall hervor und verkündet das Urteil. Er dankt mir mit ausschweifenden Worten für meine Taten und ich bete inständig, dass meine Taten mich nicht umbringen werden. Er nennt nicht einmal meinen Namen. So viel liegt ihm an seinen Rekruten. Dann überreicht er mir die Fackel.

Ich habe das Gefühl, ich werde verrückt. Die Menge applaudiert, animiert sich zu wildem Gejohle, als ich an Emelle herantrete. Ich muss die Flamme mit beiden Händen halten, sonst würde ich sie auf der Stelle fallen lassen. Doch das geht nicht. Ich muss das Feuer entfachen, das Emelle an ihr Ende bringen soll. Sie nickt ganz vorsichtig, doch ich wage nicht, sie zu fragen. Schweiß läuft über meine Haut. Ich weiß, was ich tun soll. Ich kenne meinen Auftrag. Zunächst langsam, dann entschlossener halte ich die Flamme an die Fesseln, die die alte Elfe gefangen halten – und das Chaos bricht aus.

 

Blaue Flammen züngeln hervor wie wilde Schlangen und greifen rasch um sich. Ich werde zurückgeschleudert, bleibe sicherheitshalber am Boden liegen. In Deckung. Auch das habe ich in der Armee gelernt. Emelle schreit – doch es sind keine Schmerzenslaute. Es ist auch kein Drohen. Sie schreit Wörter in einer fremden Sprache, als die Fesseln durchtrennt werden und das Gemisch aus getrockneten Blättern und Zweigen freigelegt wird, das sie unter dem Seil an sich gedrückt hatte. Dämpfe steigen auf, die lieblich hätten sein können, wären sie nicht so erschreckend. Und die Flammen. Sie springen von Ast zu Ast. Ein blaues Feuer, das sich seinen Weg in die Bäume sucht. Nicht um sie zu versengen. Nur um weiter zu kommen.

Die Menge tobt. Außer sich, entsetzt. Ich folge mit dem Blick der Flamme. Und dann sehe ich ihn. Der Elf aus dem Wald. Bilde ich es mir ein oder lächelt er mir kurz zu? Dann ist er verschwunden, trägt die Flamme mit sich, stößt spitze Schreie aus, echot damit Emelles Rufe. Doch ich nehme nichts davon noch lange wahr. Die Dämpfe nehmen uns allen langsam aber sicher das Bewusstsein und die Welt wird schwarz.

 

Ist das der Tod? Wenn ja – bin ich nicht beeindruckt. Ich habe Kopfschmerzen und fühle mich elend. Wie lange ich schon auf dem Boden liege, weiß ich nicht. Aber ich bin nicht die Einzige. Überall um mich herum erwachen die Menschen aus ihrem ungewollten Schlaf, sehen sich um, versuchen die Eindrücke, die sich ihnen bieten, zu ordnen. 

Die Festung, in der die verbliebenen Elfen gefangen gehalten wurden, ist bis auf den letzten Stein nieder gebrannt. Nichts ist mehr davon übrig. Sie haben uns weder getötet noch gefangen genommen. Die Erkenntnis kommt als leises Flüstern durch. Also hatte ich Recht. Doch das ist nicht das, was die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es sind die Wälder. Die morschen Holzwälder, die kaum noch Leben enthielten. Sie stehen in junger Blüte. Habe ich wirklich so lange geschlafen? Ich glaube es nicht. Und Emelle –

Mein Blick schnellt zu dem Ort, wo der Scheiterhaufen gewesen war. Sie ist verschwunden. Das Feuer niedergebrannt. Hat sie es geschafft? Oder ist sie verbrannt? Ich weiß es nicht. Mühsam richte ich mich auf, noch immer damit beschäftigt, meine Gedanken zu ordnen. Mit jedem Schritt, den ich tue, wird es klarer. Die Elfen sind fort. Bevor mich jemand aufhalten kann, renne ich los. Laufe, so schnell die Füße mich tragen. In den Wald. Unter die Bäume, die ich nie so jung gesehen habe. Sie müssen hier sein. Sie müssen einfach!

„Ich trete aus der Armee aus!“, rufe ich in den Wald hinein. Eine kurze Zeit lang passiert nichts und ich warte nur gespannt. Habe ich mich geirrt? Doch schließlich begrüßt mich ein leises Kichern.

„Ein ungehorsames Kind wie du?“ Ja, sicher. Erinnert mich noch daran. Ungehorsam ist keine Tugend. Aber eine Eigenschaft, die ich wohl nicht leugnen kann. Emelle springt direkt vor meine Füße. Die Freude, sie zu sehen, übermannt und überrascht mich so sehr, dass mir fast die Tränen kommen. Aber nur fast. Ich kann mich immerhin beherrschen.

Die alte Elfe lächelt mich an. „Du hast deine Aufgabe ganz wunderbar gemeistert“, sagt sie mit einer Selbstverständlichkeit, dass ich darüber nachdenke, wann sie mir einen Auftrag gegeben hat. „Die Ablenkung, die du den Menschen geboten hast, war alles, was wir brauchten.“ Ich bin verwirrt. Habe ich nicht nur mein Leben retten wollen?

„Die Menschen werden uns nie wieder unterdrücken“, ihr Blick wurde ernst. „Wir werden uns in die Wälder zurückziehen und sie behüten, bis die Natur wieder im Einklang ist. Vielleicht kann es eines Tages wieder Frieden geben zwischen unseren Völkern. Wir werden im Verborgenen bleiben, bis die Menschen erneut vergessen und eine neue Zeit anbricht.“

Ich erkenne den Abschied nicht, ich spüre ihn nur. Aber natürlich haben sie Recht. Es ist besser so. Emelle legt ihre Hand auf meine Schulter. Ich kenne das Gefühl, doch zum ersten Mal erweckt es in mir nicht das Bedürfnis zu salutieren. Ich sehe einfach nur auf, blicke in die Augen der Elfe. Sanft und beständig, durch alle Zeiten hindurch. Sie will mir danken. Anders als der Marschall kennt sie meinen Namen, als die Worte ihre Lippen verlassen. „Vielen Dank, Freeya. Bis zu unserem Wiedersehen.“ Dann ist sie verschwunden. Und mit ihr unzählige, schöne Wesen, die in den Bäumen spielen gehen um die Schrecken zu vergessen.