Hemmersbach, Dr. Erika

Eifelexkursion

 

Seit Tagen brannte eine unbarmherzige Sonne am strahlend blauen Himmel. Die Luft flirrte regelrecht in der Glut. Über den Asphaltstraßen, die sich in der Eifel zwischen trockenen Wiesen entlang schlängelten, bildeten sich kleine Spiegelbilder, so dass trügerische Wasserpfützen vorgegaukelt wurden. Sogar den Lerchen, die normalerweise um diese Zeit im Juni fröhlich singend in die Luft aufstiegen, war es zu heiß. Nur das Zirpen der allgegenwärtigen Zikaden unterbrach die drückende Stille.

 

In der geschützten Ecke eines kleinen Steinbruches oberhalb des Totenmaares fing sich die Hitze. Kein Windhauch brachte Kühlung in das fast geschlossene Rund. Carina saß erschöpft auf einem großen Steinbrocken, wedelte sich mit ihrem handgearbeiteten Strohhut Luft zu und beobachtete träge ihre Studentengruppe, die teils eifrig, teils müde den Ausführungen von Dr. Hubertus Meyer zu Wolfenstein, genannt Wolfi, folgte. Zum wiederholten Male ärgerte sie sich, dass sie an der Exkursion durch die Eifel teilgenommen hatte. Bei dem heißen Frühsommerwetter hätte sie sich besser mit ihren Freunden zum Wasseskilaufen am Hambacher Meer verabreden sollen. Das riesige Loch, welches die Braunkohle vor rund 70 Jahren in die Erde gegraben hatte, war zwar noch nicht völlig mit Wasser gefüllt, das würde noch weitere 30 Jahre bis zum Ende des 21.Jahrhunderts in Anspruch nehmen, aber es gab an den befestigten Ufern des neuen Binnenmeeres schon herrliche Möglichkeiten für Wassersportbegeisterte.

 

Carina seufzte tief auf. Sie hatte sich die Exkursion interessanter vorgestellt. Die Studenten der Fachrichtung Freizeitmanagement wollten den Aufbau der Eifelgesteine erforschen. Mit Wanderungen rund um die Maare- wassergefüllte oder trockene Eruptionsschächte erloschener Vulkane- sollte deren historischer geologischer Hintergrund erfasst und anschließend der Freizeitwert des Naturschutzgebietes besprochen werden.

 

Auch einige andere Studenten waren wohl zunehmend gelangweilt von den Ausführungen ihres Dozenten. Marek, Roman und Frank standen abseits und sprachen leise diskutierend miteinander. Aus ihrer anschaulichen Gestik schloss Carina, dass sie sich wieder über die Vorzüge ihres sündhaft teuren Superwanderzeltes ausließen. Sie lächelte über die eifrigen Jungens und hörte dann wieder eine Weile Wolfis Vortrag zu. Gerade fragten ihn die Studenten nach den neuen Tiefbohrungen, die zur Gewinnung von Erdwärme überall in der Vulkaneifel durchgeführt wurden.

 

Wolfi räusperte sich und dozierte weiter:

 

„Sie alle haben die kontroversen Diskussionen über die Durchführung von Tiefbohrungen in den Zeitungen mitverfolgt, nehme ich an. Auch in der Bevölkerung werden vermehrt kritische Stimmen laut. Früher war alles einfacher. Man hatte Erdöl und Braunkohle, verheizte sie in Massen, die Autos fuhren mit Benzin und aus der Braunkohle wurde elektrische Energie gewonnen. Nachdem die Erdölvorräte aufgebraucht und die Braunkohle ausgebaggert worden ist, wird nach neuen Energiequellen gesucht, um die Akkus unserer batteriebetriebenen Autos schnell an den Tankstellen wieder aufladen zu können. Sie wissen alle aus eigener Erfahrung, dass große Mengen an elektrischer Energie benötigt werden, um die Akkus aufzufüllen. Weiterhin verbrauchen unsere Autos die Energie sehr schnell, das Netz der Tankstellen muss flächendeckend erweitert werden, um den Aktionradius der Fahrzeuge zu erhöhen. Neue Energiequellen will sich die Industrie durch die Verwendung der Tiefenwärme verschafften. Die Befürworter der Bohrungen lobten enthusiastisch die saubere Energiegewinnung und die mit ihr einhergehende Erhöhung des Freizeit- und Erholungswertes. Eine größere Menge Autos könnte an den neuen Energietankstellen aufgeladen werden. Dadurch wird das Naturschutzgebiet besser erschlossen. Dies würde zusätzliche Touristen und dadurch mehr Geld in die Eifel bringen.“

 

Jonas meldete sich zu Wort: „Ich habe die Kritiken in der Zeitung gelesen. Wird das physikalische Gleichgewicht der Region nicht durch die Eingriffe gestört? Man befürchtet sogar die Aktivierung der schlafenden Vulkane hier in der Eifel. Ich habe von Einbrüchen heißen Wassers in das Hambacher Meer gehört.“

 

Es folgte eine heftige Diskussion der Studenten. Die eine Gruppe verteidigte den wirtschaftlichen Nutzen der Tiefbohrungen, die andere Gruppe äußerte ihre Bedenken, einige, wenige befürworteten die Erhaltung des stillen Naturschutzgebietes und wollten sogar den Tourismus fern halten.

 

Da Carinas Vater im Management der Touristik- und Freizeitgesellschaft Hambacher Meer/Indener See beschäftigt war, wurden die kontroversen Meinungen auch in seinem Hause diskutiert. Carina hatte neben ihren Vorlesungen im Touristikmangement auch Bodenkunde und Botanik belegt, weil sie die Geschichte der Region sehr interessant fand und sich aktiv an den Diskussionen beteiligen wollte. Von der Exkursion in die Vulkaneifel hatte sie aufschlussreiche Informationen erwartet, sah sich jedoch bitter enttäuscht.

 

Tagelang waren die jungen Leute nur über verdorrtes Gras gewandert, hatten Staub geschluckt und unermüdlich den Belehrungen über Gesteinsformationen und Bodenaufbauten zugehört. Auch die Gegenwart von Wolfi hatte Carina nicht mehr aufheitern können. Sie hatte bisher sehr für ihn geschwärmt, Wolfi sah sehr gut aus, braungebrannt, modisch atlethisch und besaß außerdem ein großes Wissen, das er in lockerer Art und Weise in den Vorlesungen vortrug.

 

Carina schüttelte ihre lang herunterfallende, blonde Löwenmähne und fächelte sich stärker Luft zu. Die Haare wärmten schrecklich! Die junge Frau seufzte leise. Warum nur hatte sie nicht ihr Haarband benutzt und die Locken zusammengebunden? Wenigstens trug sie, um einen Sonnenbrand zu vermeiden, ein buntes Hemd über ihrem bauchfreien Top. Mit neidvollem Blick sah sie auf Anna, die mit ihren langen, altmodischen Zöpfen und einer weißen, sportlichen Baumwollbluse frisch und munter neben Wolfi stand und eifrig seine Ausführungen kommentierte. Offensichtlich hatte auch Wolfi Gefallenan Anna gefunden, denn er beantwortete ihre Kommentare stets mit einem strahlenden Lächeln. Carina beobachtete die beiden, zuckte dann in Gedanken die Achseln und strich Wolfi endgültig aus ihrem Katalog interessanter junger Männer.

 

„Meine Güte, was ist er langweilig, warum habe ich das in der Uni nie bemerkt?“, fragte sie sich zum wiederholten Male. Wolfi zeigte gerade seinen Studenten die Schichtungen des Tuffgesteins und erklärte die Historie des noch sehr jungen letzten vulkanischen Ausbruchs. Carina lächelte insgeheim. Zehntausend Jahre waren für sie nicht mehr jung.

 

Gelangweilt schweiften ihre Blicke über die grauen Felsen des Steinbruches. Große Risse zogen sich an den Wänden entlang, grau aussehende Moose, Ginsterbüsche und durch die Hitze vertrocknete Gräser hatten darin Fuß gefasst. Etliche Bienen summten lautstark um einige Stängel gelb blühenden Johanniskrautes. Es war friedlich, das Bienengesumm neben Wolfis vortragender Stimme monoton und Carina fühlte sich zunehmend schläfrig. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Es gelang ihr gerade noch, ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken. Sie musste etwas unternehmen, um nicht einzuschlafen und sich vor allen zu blamieren. Zufällig sah sie, dass Hans, der wie gewöhnlich etwas abseits von der Gruppe stand, sein Gähnen nicht unterdrücken konnte. Ihre Blicke trafen sich und Carina grinste. „Langweilig!“ flüsterte sie fast lautlos. Hans nickte ihr zu und Carinas schaute schnell weg, um nicht zu lachen.

 

Eine kleine Eidechse erregte endlich ihre Aufmerksamkeit. Trotz der Hitze kam das Tierchen aus einer Spalte gekrochen und zeigte keine Angst vor der Menschengruppe.

 

Der Erdboden vibrierte ganz leicht, fast unmerklich.

 

Weitere Tiere krabbelten aus den Ritzen des schützenden Gesteines hervor. Carinas Blicke folgten den Geschöpfen, die offenbar aus den Felsen flohen. Sahen die anderen denn nicht dieses merkwürdige Verhalten der Tiere?

 

Mit einem Mal war sie hellwach und spürte eine eigenartige Unruhe in sich. Am liebsten wäre sie auch von ihrem Sitz gerutscht und den Tieren gefolgt, um zu erforschen, wohin sie liefen. Sie wollte jedoch Wolfi nicht unhöflich in seinem Vortrag unterbrechen und blieb deswegen ruhig sitzen.

 

Ihre Kommilitonen hatten nichts von der Flucht der Tiere bemerkt. Die Studenten hingen offenbar sprichwörtlich an den Lippen des Dozenten, der zum Höhepunkt seiner Ausführungen über die Eruptionen der Eifelvulkane gelangte.

 

Mit dramatischer Stimme sagte Wolfi: „Unter den Eifelmaaren liegt ein Vulkanherd, der immer noch aktiv ist, man nennt ihn die Plume. Ein Ausbrechen der alten Vulkane ist jederzeit möglich, aber wir gehen davon aus, dass noch viele Jahrhunderte und Jahrtausende Ruhe herrschen wird. Die Universitäten haben überall Messstationen errichtet, so dass eine rechtzeitige Vorwarnung gewährleistet ist. Eine Beeinflussung der vulkanischen Aktivitäten durch die aktuellen Tiefbohrungen halten wir allerdings für unwahrscheinlich.

 

Haben Sie noch Fragen? Wenn nicht“, Wolfi lächelte strahlend seine Zuhörer an, „ dann wollen wir zu unserem Camp zurück wandern. Ich habe für heute Nachmittag Erdbeerkuchen und Eis beim Bäckerservice bestellt.“

 

Eine erneute, fast unmerkliche Bewegung des Bodens folgte seinem letzten Wort und ging in dem erfreuten Applaus der Zuhörer unter. Carina erinnerte sich, dass sie auch letzte Nacht in ihrem Zelt eine leichte Vibration verspürt, sie aber nicht weiter beachtet hatte. Wieder krochen Tiere aus Erdlöchern und Felsspalten hervor und bewegten sich eilig auf die freie Fläche der Straße und die angrenzenden Wiesen zu. Als ein großer Fuchs aus dem Gebüsch hetzte und fast über die Füße der Studenten rannte, wurden die jungen Leute endlich aufmerksam. Aufgeregt zeigten sie auf die fliehenden Tiere und bedrängten ihren verblüfften Dozenten mit Fragen.

 

Das leichte Beben des Bodens verstärkte sich. Ein dumpfes Grollen war aus der Tiefe zu hören, wie von einem Eisenbahnzug, der in der Ferne vorüber fährt. Kleine Steine rollten von der Abbruchkante des Steinbruches herunter und fielen auf die Erde. Erneut zitterte der Boden. Die Bewegung verstärkte sich, bis der Untergrund sich schüttelte wie ein bockendes Pferd. Die Risse in den Felswänden klafften auseinander, Steinquader verschoben sich knirschend, Spalten öffneten sich in der Erde, übel riechender schwefliger gelber Dampf quoll hervor.

 

Die Studenten liefen in Panik schreiend durcheinander, stolperten, stützen sich gegenseitig, fielen, wollten die Straße erreichen und behinderten sich untereinander mehr, als dass sie sich helfen konnten, um den Steinbruch zu verlassen. Carina hielt sich krampfhaft an ihrem schwankenden Felsbrocken fest. Irgendwie vermittelte er ihr das Gefühl eines Haltes inmitten des ausbrechenden Chaos. Mit ängstlich geweiteten Augen sah sie, dass eine Tanne oben über der Felswand ihren Halt verlor und anfing zu stürzen. Vor Schreck wie gelähmt, starrte sie zu dem Baum hinauf. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Erst ein kräftiger Stoß in ihre Seite ließ sie von ihrem Sitz herunterrutschen. Zwei Hände packten sie und zerrten sie schnell weiter. Wo sie vor wenigen Sekunden noch gesessen hatte, donnerte der Wipfel der Tanne auf die Erde, federte weiter und ihre Astspitzen zerkratzten Carinas Arme.

 

Carina schluckte, atmete tief durch, um ihre Panik zu bewältigen und sah in die besorgten Augen von Hans, „Geht es?“ fragte er hastig.

 

Als sie nickte und noch immer geschockt schwieg, fügte er hinzu:„Komm, voran, beweg dich! Wir müssen von hier verschwinden. Der Himmel weiß, was hier los ist.“

 

Sie folgten der hustenden und davon stolpernden Gruppe. Immer wieder wurde der Boden von Erdstößen erschüttert, die das Gehen fast unmöglich machten. Brocken brachen von der Kante des Steinbruches ab und wurden wie Geschosse in die fliehende Gruppe geschleudert. Carina sah zufällig auf Anna, die an Wolfi geklammert zum Ausgang des Steinbruches wankte. Sie bemerkte, dass sich die strahlendweiße Bluse Annas erst braun vom Staub und dann, als sie von einem Stein an den Kopf getroffen wurde, rot einfärbte. Als Anna strauchelte und zu stürzen drohte, kletterten Carina und Hans mühsam zwischen herabstürzenden Steinen zu ihr. Mit Wolfi und Hans an ihrer Seite, welche die verstörte, schluchzende Anna kräftig stützten, gelangten die Mädchen schließlich hinaus auf die freie Straße. Carina erinnerte sich an ihren Sanitäts-Kurs und riss sich ein Stück von ihrem eigenen Hemd ab. Dies band sie Anna schnell um den Kopf, um die Blutung zu stoppen.

 

Auf der freien Straße warteten die fassungslosen Studenten auf ihren Lehrer. Die Gruppe der vorher so sportlich-elegant durchgestylten jungen Menschen sah schrecklich aus. Fast jeder von ihnen hatte eine Verletzung durch den Steinhagel erlitten, sie waren geschockt, verstört, dadurch orientierungslos und erwarteten nun Hilfestellung sowie Anweisungen von ihrem Dozenten. Wolfis Gesicht war grau geworden, immer wieder schüttelte er den Kopf, als ob er das Erdbeben dadurch ungeschehen machen könnte. Als er die Blicke der Studenten auf sich spürte, riss er sich zusammen. Er wollte etwas sagen, öffnete die Lippen, aber kein Ton kam heraus.

 

Wieder war es Hans, ausgerechnet der stille Hans, der sich stets im Hintergrund gehalten und den niemand sonderlich beachtet hatte, der die Initiative ergriff. Plötzlich strahlte er eine große Autorität aus, der sich sein Dozent und die Mitstudenten willig unterordneten. Er brüllte die kopflosen und vor Schreck wie gelähmten jungen Leute an, schüttelte sie, endlich begannen sie sich allmählich in Bewegung zu setzen und taumelten auf der Straße in Richtung ihres Camps. Carina hielt sich instinktiv schutzsuchend an Hans Seite und berührte dankbar seinen Arm.

 

„Danke, du hast mir das Leben gerettet“, sagte sie leise.

 

Ein warmer Blick streifte sie, aber eine Antwort blieb aus.

 

Die Erde hatte sich wieder beruhigt. Bleierne Stille senkte sich über die Natur. Auch das Zirpen der Zikaden war verstummt. Ein feiner Staubschleier verhüllte die sengenden Sonnenstrahlen und erschwerte den Fliehenden das Atmen. So schnell es ihnen ihre Verletzungen und der erlittene Schock erlaubten, bewegten sie sich auf der mit tiefen Rissen durchsetzten Straße abwärts in Richtung des kleinen Bauerngehöftes, wo die gemieteten Wohnwagen, Zelte und ihre eigenen Fahrzeuge abgestellt waren.

 

Da ertönte plötzlich ein Schrei: „Der See, schaut euch das Totenmaar an!“

 

Das Maar, das morgens noch wie ein glatter dunkler Spiegel in der kargen, vertrockneten Landschaft gelegen hatte, brodelte und schäumte. Luftblasen stiegen aus der Tiefe empor und schossen an die Oberfläche wie aus einer geschüttelten Seltersflasche. Zahlreiche Fische trieben, diedicken, weißen Bäuche nach oben gekehrt, auf dem Wasser. Ein leichter Geruch nach Schwefel hing in der Luft und brannte in den keuchenden Lungen der jungen Leute.

 

„Schaut, die Fische sehen aus wie gekocht!“, rief ein Mädchen mit hysterisch überkippender Stimme und zeigte mit zitternder Hand auf die dampfende, brodelnde Wasserfläche.

 

Kleine Strudel bildeten sich, zogen Wasser ein undwarfen es in hohen Fontänen wieder aus. Ein Blubbern und Zischen ertönte, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Pfeifen und schrillem Jaulen. Langsam, fast unmerklich senkte sich der Wasserspiegel des Maares.

 

„Weg hier!“, versuchte Hans sich trotz des Lärmes verständlich zu machen.

 

Das Zischen erinnerte Carina an den explodierenden Dampf-Kochtopf daheim, den ihre Urgroßmutter auf dem Herd vergessen hatte.

 

„Gleich fliegt hier alles in die Luft!“

 

Die Menschen verstärkten ihr Lauftempo. Fast hatten sie ihre Fahrzeuge am Bauernhof erreicht, als die Erde erneut bebte. Die Studenten hatten das Gefühl, als ob sie über eine wackelnde Puddingschüssel rutschten. Die ersten der Gruppe ereichten ihre Autos, warfen sich hinein und preschten los. Die drei jungen Männer versuchten fieberhaft, ihr teures Zelt abzuschlagen und in ihrem Auto zu verstauen. Carina wollte in ihr kleines Cabrio steigen, als Hans‘ kräftige Hand sie zurückhielt.

 

„Komm in meinen Geländewagen, der ist sicherer. Mit dem kleinen Wagen fährst du dich vielleicht noch fest“.

 

Carina schüttelte ihren Kopf. Von ihrem geliebten, schicken Cabrio, das sie zur Feier ihrer Mündigkeit geschenkt bekommen hatte, wollte sie sich auf keinen Fall trennen. Während Hans weiterhin Zeit verschwendete und versuchte, sie davon zu überzeugen, in seinen Wagen einzusteigen, hörten beide ein hysterischen Wiehern, Muhen und Blöken. Sie verständigten sich mit einem kurzen Blick.

 

„Die Tiere!“, schrie Carina, „ich sehe den Bauern nicht. Wir müssen die Tiere befreien. Schnell, Hans, komm die Gatter öffnen!“

 

Hinter dem Bauernhaus tobten die Pferde, Kühe und Schafe des Bio-Hofes in Panik auf den Weiden, vermochten aber nicht den festen Zaun zu durchbrechen. Beide Studenten rannten auf die Weidetore zu. Sie mussten sich nicht absprechen, beide wussten offenbar, was zu tun war, jeder Handgriff saß. Auf Hans‘ unausgesprochene Frage rief Carina ihm zu „Ich habe ein Pferd und helfe im Reitstall! Was ist mit dir? Hast du auch ein Pferd?“

 

Hans nickt bestätigend: „Ich fahre Vierspänner.“

 

Nach kurzer Zeit, die beiden wie eine Ewigkeit erschien, hatten sie es geschafft. Die befreiten Tiere stoben in wilder Flucht über die Hügel davon.

 

Ein dumpfes Grollen ertönte, gefolgt von einem Geräusch, als ob jemand tief Luft holen würde. Hans und Carina eilten im Laufschritt zurück zu ihren Fahrzeugen. Auf die erneute, diesmal befehlende Aufforderung von Hans, in seinen großen Wagen einzusteigen, jammerte Carina nur kurz „Mein schönes Auto!“, warf nachsekundenlangem Zögern ihre Reisetasche auf den Rücksitz des bulligenchinesischen Geländecruisers und sprang hinein. Hans startete mit qualmenden Reifen durch. Er flog förmlich auf die Landstraße. Die drei Jungens hatten den Abbau ihres Zeltes auch endlich geschafft und schoben die letzten Zeltstangen in ihren Wagen.

 

Das Totenmaar lag plötzlich trocken da. Ein tiefer Schlund gähnte hungrig in den Himmel. Schweflig stinkende, morastige Brühe bedeckte die Abhänge des Trichters, der sich nach unten geöffnet hatte.

 

Die Welt hielt für eine Sekunde den Atem an. Dann brach das Inferno los. Mit donnerndem Krachen schoss ein Strahl aus heißem Dampf, gemischt mit Erde, aus demtiefen Schlund des ehemaligen Kraters empor. Hunderttausende von Kubikmetern wurden hoch in den Himmel geschleudert, fächerten sich auf, kühlten in der Höhe ab und fielen als kochender Regenschlamm auf den Boden zurück. Die Studenten kreischten gequält auf, als ihnen der dampfende Niederschlag die Haut verbrühte. Bäume und Sträucher standen in Sekundenschnelle entblättert da und zeigten mit kahlen Ästen in den tobenden Himmel. Eine weitere gewaltige Explosion ertönte. Fassungslos sah Carina, die sich im davon fahrenden Auto umgedreht hatte, dass ihr Cabrio, der Bauernhof und auch die drei Studenten in einem tiefen Loch verschwunden waren. Trauer flammte kurz in ihr auf, wurde aber direkt von Entsetzen überlagert, als der Wagen rückwärts zu rutschen begann. Die herabstürzenden Wassermassen strömten auf den Vulkantrichter zu, um gleich darauf als Dampf erneut in den Himmel zu steigen.

 

„Tu doch was!“ schrie sie auf.

 

Hans gab verzweifelt Gas. Die Räder drehten durch, Gummi stank. Endlich packten die Reifen des schweren Geländewagens wieder an. Zentimeterweise schoben sich die Räder vorwärts über den mit Schlamm bedeckten Asphalt. Die Zeit schien stillzustehen. Langsam, viel zu langsam kamen sie voran. Endlich hatte der Cruiser die rettende Anhöhe erreicht. Hans hatte gerade mit einem erleichterten Aufatmen in den Straßengang geschaltet, als die Erde wieder bebte. Vor ihnen riss die Straße auf, Hans konnte den Wagen nicht mehr rechtzeitig bremsen und sie fuhren in eine Erdspalte hinein. Mit einem Ruck, der sie wie ein Schlag in den Rücken traf, setzte der Wagen auf den Boden auf. Die Vorderräder hingen über der Erdspalte und drehten sich in der Luft. Hans schaltete den Rückwärtsgang ein, aber die Hinterräder vermochten nicht, das Fahrzeug aus dem Loch zu ziehen. Aufgeweichter Boden rutschte nach, der Wagen drohte vollends zu kippen.

 

Panik überflutete Carina, sie klammerte sich an ihrem Sitz fest und schüttelte den Kopf, als Hans schrie „Wir müssen hier raus!“

 

„Ich will nicht gekocht werden!“, wimmerte sie.

 

„Wir haben die Wahl, abrutschen oder versuchen zu entkommen!“, schüttelte Hans das Mädchen.

 

Carina schluchzte verzweifelt, als Hans sich über sie beugte und ihren Sicherheitsgurt löste. Krampfhaft hielt sie ihn mit einer Hand fest und begann hysterisch schreiend mit der freien Hand auf Hans einzuschlagen. Eine Stimme überlegte dicht an ihrem Ohr: „Ohrfeige oder Kuss?“ Dann beugte sich Hans zu ihr herüber und küsste sie herzhaft.Verdutzt schniefte Carina auf und verstummte.

 

„Vertraust du mir?“, fragte Hans sie drängend.

 

Sie sah ihm in die Augen, schwieg und nickte dann zögernd.

 

In Windeseile riss Hans seine Gepäcktasche auf und zog Regenzeug hervor. Auch Carina hatte ihren wasserundurchlässigen Outdoormantel vorsichtshalber für die Exkursion mitgenommen. Jetzt war sie glücklich über ihren Impuls, trotz des guten Wetters das unnötige Gepäckstück in ihre Reistasche eingepackt zu haben. Hans hatte noch eine teflonbeschichtete Picknickdecke auf dem Rücksitz liegen, die ihnen einen schwachen Schutz vor dem heißen Regen bieten würde. Vorsichtig, um den Wagen nicht zum Abrutschen zu bringen, zogen sie sich die Regenkleidung an. Dann öffnete Hans die hintere Tür. Brodelnd heiße Luft schlug ihnen entgegen und erschwerte ihnen das Atmen. Behutsam glitt Hans aus dem schaukelnden Wagen und hob Carina anschließend hinaus. Mit einem seufzenden Stöhnen des Getriebes glitt der Wagen weiter in die Erdspalte und verschwand darin. Carina stieß einen entsetzten Schrei aus. Hätte Hans sie nicht schnell gepackt, wäre sie dem Auto hinterher gerutscht. Zeit zum Nachdenken blieb den beiden nicht. Mühsam stolperten und kletterten sie über die tiefen Risse in der Straße, welche immer noch in ständiger Bewegung blieb. Carina war dankbar für ihre festen Trekkingstiefel, die zwar feucht wurden, aber die Hitze von ihren Füßen fernhielten. Auch Hans trug feste Schnürstiefel, die ihmdas Durchkommen erleichterten. Trotz der schützenden Bekleidung war die Hitze unerträglich. Ihre Hände, mit denen sie die Decke über ihre Köpfe hielten, schmerzten bald heftig, obwohl die Handschuhe den heißen Regen von der Haut fern hielten. Carina wimmerte leise und drohte erschöpft zu stürzen. Hans schob seinen Arm unter ihre Schulter und gemeinsam wankten sie weiter.

 

„Weg, nur weit weg von dem Krater!“, war ihr einziger Gedanke. Mühsam hoben und senkten sich ihre Füße. „Weiter, nur weiter, du schaffst es!“, krächzte Hans.

 

Jeder Meter, den sie überwanden, erschien ihnen wie eine unendliche Strecke, vergrößerte die Entfernung zu dem speienden Höllenschlund und erhöhte die Chance ihrer Rettung.

 

Wieder bebte die Erde. Eine gewaltige Druckwelle schleuderte beide wie Puppen weit durch die Luft. Zwischen einigen großen Felsbrocken blieben sie liegen. Carina vermochte gerade noch, die Decke über beide zu ziehen, Hans lag still wie tot neben ihr, dann fiel auch sie in tiefe Bewusstlosigkeit.

 

Der Krater des neu erwachten Vulkanes öffnete sich und spie Gase, Wasserdampf und Asche aus. Die Asche vermischte sich mit dem Wasser zu zähem Schlamm, der überall kleben blieb, alles Leben vernichtete und die Gegend wie mit einem Leichentuch bedeckte.

 

Carina erwachte als erste aus ihrer Betäubung. Blut tropfte aus einer Platzwunde an ihrer Stirn und ihr linker Arm hing in einem falschen Winkel herunter. Hans lag still und blass auf dem Boden. Sein Kopf war auf einem Stein aufgeschlagen. Der Ascheregen bedeckte die Picknickdecke mit einem ständig schwerer werdenden feinen Schleier. Carina hatte das Gefühl zu ersticken. Sie bemühte sich vergeblich, Hans unter der Decke mit ihrem unverletzten Arm aufzurichten, um beiden etwas mehr Luft zu verschaffen. Schließlich setzte sie sich neben ihn, zog die Decke schützend über ihre Körper und dachte dann verzweifelt nach. Tränen liefen über ihr Gesicht und hinterließen helle Spuren in dem Staub. Gerade hatte sie einen Menschen gefunden, der sie mit seiner Fürsorge überrascht hatte und den sie gerne näher kennen lernen wollte. So, wie es im Moment aussah, würden sie wohl eher hier zusammen sterben. Dieser Gedanke brachte sie erneut zum Weinen. Langsam verwirrten sich ihre Gedanken und sie glitt in eine dumpfe Betäubung hinein.

 

Wie viele Stunden sie hier im Dämmerzustand verbracht hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Der Ascheregen ließ nach. Sie merkte es nicht einmal. Ihr Bewusstsein kam und ging in schmerzenden Wellen. Bevor sie jedoch endgültig aufgab und sich in das unvermeidliche Ende fügte, hörte sie das Schrillen von Sirenen und das Geräusch eines näher kommenden Hubschraubers. Mühsam schüttelte sie ihre Apathie ab, richtete sich auf, schob die Decke weg und wedelte mit ihrem gesunden Arm. Das Geräusch des Hubschraubers kam näher. Maschinen des europäischen Militärs kreisten auf der Suche nach Überlebenden über dem Katastrophengebiet. Der Pilot sah die beiden Menschen auf der Erde, gab eine Funkmeldung durch und die Maschine setzte vorsichtig in Nähe der beiden auf.

 

Hans erwachte stöhnend und griff sich an seinen Kopf. Carina lachte und weinte gleichzeitig, streichelte mit ihrer gesunden Hand sein Gesicht und küsste ihn euphorisch.

 

„Hans, es kommt Hilfe. Wir sind gerettet!“

 

Männer in den blauen Uniformen der Europaarmee erschienen in ihrem Gesichtsfeld. Hände hoben sie auf und legten sie auf eine Bahre. Hans griff sich ins Hemd und zog an einer Kette einen bläulich schimmernden Metallchip hervor.

 

„Bringt mich und meine Freundin ins Militärkrankenhaus nach Koblenz“, bat er mit leiser, heiserer Stimme.

 

Der Sanitäter warf einen kurzen Blick auf den Chip und salutierte dann.

 

„Jawohl, Herr Major!“, kam die zackige Antwort.

 

Carina war verblüfft über die Antwort des Soldaten, wollte schon richtig stellen, dass Hans nicht ihr Freund sei, als sie Erschöpfung übermannte. Sie schlief in der festen Gewissheit ein, dass sie Hans bald wieder sehen und er ihr alles erklären musste, wenn sie aufwachen und ihm dann viele Fragen stellen würde.