Erbe, Ingo

Die Puppenmacherin

An einem kalten Regentag im November blieb Fer­dinand vor dem Schaufenster der Puppenmacherin Linda Liebsam stehen. Er war schon oft an ihrem Geschäft vorübergegangen, hatte hier zumeist aber nur einen flüchtigen Blick verloren. Heute ver­harrte er und ging schließlich hinein.

Drinnen grüßte Halbdunkel. Marionetten hingen von der niedrigen Decke herunter, in Regalen, auf kleinen Sesseln, Stühlen und Bänken saßen Puppen in allen nur erdenklichen Arten, Größen und Kleidern.

Aus dem Schummer heraus trat eine zierliche an die Zerbrechlichkeit einer Porzellanpuppe erin­nernde Frau. Ihr Gesicht strahlte in einer auffallend hellen elfenbeinfarbenen Tönung, aus dem ihm zwei amethyst-dunkle Augen entgegenleuchteten. Ihr Haar glänzte um einen Hauch ins Rötliche hin­ein und war zu einer Schneckenfrisur gebunden. Sie trug ein weites bis auf den Boden reichendes himmelblaues, reichlich und überaus geschmackvoll mit Tierkreiszeichen besticktes Gewand.

„So treten sie doch näher, keine Scheu, möchten sie einen Tee?“

Ferdinand nickte, immer noch vom exotischen Charisma der Puppenmacherin ver­wirrt. Er setzte sich zu ihr an den von halbfertigen Puppenkleidern übersäten Tisch.

Sie schob ihre Arbeit beiseite, sie stellte eine zweite Tasse hinzu und goss vom stark duftenden Tee ein. „Mögen sie Puppen?“ Ferdinand zog die Schultern hoch, „ich weiß nicht recht.“

Linda Liebsam lachte, „aber ich weiß es. Sie standen schon oft an meinem Fenster. Sie wurden gesehen, ihre Augen wurden gesehen.“

„Sie haben mich beobachtet?“

„Nein, nein, nicht ich. Aber die Puppen in meinem Fenster, denen sie ihre Aufmerksamkeit schenk­ten, die haben sie beobachtet.“

„Die Puppen?“

„Ja, natürlich. Sie haben die Puppen angesehen, und die Puppen haben ihren Blick erwidert und mir berichtet, dass ein trauriger Mann vor meinem Fen­ster stünde.“

„Ich bin aber nicht traurig.“

„Doch, Sie sind es.“

„Woher wollen Sie das wissen?“‘

„Weil die Puppen es mir gesagt haben.“

Ferdinand schwieg und schlürfte den heißen Tee; die Puppen­macherin hatte recht, er war traurig, was sollte er auch anderes sein, in seinem Beruf. Sie hatte ihn schnell erkannt, und er nahm ihr die Ausflucht mit den Puppen nicht weiter übel.

Linda Liebsam schien aber zu ahnen, was er dachte, sie schüttelte den Kopf, „es stimmt, die Puppen haben mir berichtet. Warum wollen Sie mir denn nicht glau­ben?“

Ferdinand lächelte verlegen, aber Linda Liebsam ließ sich nicht beirren, „es ist doch ganz einfach zu verstehen. Wenn ich an einer Puppe arbeite, dann stelle ich mir vor, wie sie ausschauen soll, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird, ob blond, schwarz, oder rot, dick oder schlank, und damit versinke ich in meiner Arbeit, ganz tief, und vergesse alles um mich herum, ja, ich vergesse mich selbst. Und meine Hände fliegen und meine Ideen ebenso. Und wenn mich mein Werk dann zum ersten Mal ansieht und ich mein Werk, dann gebe ich ihm ein Stück meiner Sprache, meines Gehörs und meiner Augen, und schon spricht es mit mir, oder es greift nach meiner Hand, oder nach meinem Haar und bittet, es möge auch sol­chen Schmuck besitzen. Nun, dann gebe ich ihm von meinem Haar. Mein Werk, mein Herr, das bin ich, meine Idee ist meiner Seele Schöpfung und mein Werk ist meines Geistes Kind. Haben Sie ver­standen, was ich Ihnen sagen will?“

„Ja, Sie meinen, wenn jemand sich mit seinem Werk verbindet, es nicht nur einfach verrichtet, sondern es tatsächlich verinnerlicht, dann gewinnt ein Werk Leben und Bedeutung, und dann spricht und sieht es.“

„Und fühlt“, fügte Linda Liebsam hinzu.

Ferdi­nand versank in Grübeleien.

„Warum sind Sie denn so betrübt?“, fragte Linda Liebsam.

„Ach, in Ihrem Beruf mag dies wohl gelingen, aber niemals in meinem.“

„Was haben Sie denn für einen Beruf?“

Ferdinand zögerte, „ich bin, ich, äh, ich bin Sargschreiner. Sargschreiner und Leichenbestatter zugleich.“

Die Puppenmacherin zog die Stirne kraus, „warum fällt es Ihnen denn so schwer, dies zuzugeben? Ist denn Ihr Beruf etwas Schlechtes? Jemand muss sich doch um die Gestorbenen sorgen.“ Ferdinand empfand ihre Worte nur als schwachen Trost, sein Beruf bereitete ihm keine Freude, nicht die geringste, und darüber war er der Traurigkeit ver­fallen.

Er stand auf, er müsse nun seinen Dienst verrichten, er käme gelegentlich einmal wieder, versprach er Linda Liebsam.

Als er, Tage danach, einen Sarg sorgsam ausstaffierte, sein Werk zum zigstenmal begutachtete, und den Toten danach hineinlegte, ihm die Hände über dem Bauch fal­tete, da sagte plötzlich jemand “danke“.

Ferdinand sah sich in der Leichenhalle um. „Wer spricht da?“ „Na ich, Ferdinand, ich, der Verstorbene.“

bückte sich über den Sarg, „du sprichst mit mir, wie kann das sein?“ Er schlug sich gegen die Stirn, meine Idee ist meiner Seele Schöpfung, und mein Werk ist meines Geistes Kind, so ging es ihm durch den Kopf.

Später, als er den Sarg zunagelte, rief der Tote, „da fehlt noch einer“, und danach, als der Sarg in die Gruft hinabgelas­sen wurde und Ferdinand das letzte Stück des Sei­les entglitt, beschwerte sich der Dahingegangene, “autsch.“

Tage später stand er wieder einmal vor dem Geschäft der Puppenmacherin. Im Schaufen­ster entdeckte er eine nie vorher gesehene Puppe, ein entrücktes Lächeln ruhte in ihrem zierlichen, elfenbeinfarbenen Gesicht.

Er trat ins Geschäft, ein kauziger Geselle stellte sich ihm in den Weg, „was woll'n Sie hier? Machen Sie, dass Sie rauskom­men.“ „Ich möchte die Besitzerin, Frau Linda Liebsam, sprechen.“

Der Knurrige sah ihn mür­risch an, „hier gibt es keine Besitzerin, und eine Linda Lieb..., was weiß ich, erst recht nicht. Der Laden kommt unter den Hammer.“

„Aber warum denn?“

„Eben weil es keine Besitzerin mehr gibt. Ich kann den Ramsch nicht einmal versteigern, bringt nichts ein.“

Ferdinand horchte auf, „kann ich die Puppe im Schaufenster, die mit dem hellen Gesicht, kaufen?“

„Klar, geben sie mir fünfhundert Mark, und das Ding gehört Ihnen.“

Ferdinand stöhnte, fünfhun­dert Mark, das war viel Geld, und so viel trug er auch gar nicht bei sich. Er versprach, schnell zurück zu sein und eilte hinaus. Bevor er aber die Tür öffnete, fiel sein Blick in die Schaufensteraus­lagen, besonders aber auf das Bündel Geldscheine, das neben der hellgesichtigen Puppe lag.

Der alte Kauz konnte ihn nicht sehen, so bückte er sich behend, musste aber enttäuscht feststellen, dass es nur Spielgeld war, das er in den Händen hielt. Meine Idee ist meiner Seele Schöpfung, und mein Werk ist meines Geistes Kind.

„Ja“, flüsterte er, rief nach dem Brummigen und hielt ihm das Spiel­geld, wenn auch errötend, hin.

Der Griesgram zählte, nickte, „nehmen Sie das Ding. Brauchen Sie eine Tüte?“

Nein, eine Tüte brauchte Ferdinand nicht, er setzte die Puppe auf seinen Arm und ging.

„Na?“, fragte sie draußen, „gefällt Ihnen ihr Beruf jetzt besser?“

„Ach wissen Sie, ich will nicht unbedingt sagen, dass er mir nun gefällt, aber interessant ist er für­wahr. Sie glauben gar nicht, Linda, was Verstor­bene und Särge so alles zu erzählen haben.“

Dass sich die Leute nach ihm umdrehten, weil er mit einer Puppe sprach, kümmerte ihn nicht, sie wuss­ten doch nicht, dass er einer Seele Schöpfung und eines Geistes Kind nach Hause trug.

Es geschah, dass jene, deren Tage gezählt waren, in ihren Testamenten verfügten, nur von Ferdinand bestat­tet zu werden.